Ansprache des Präsidenten Andrzej Duda zur Inauguration der Feierlichkeiten zum 100. Jubiläum der Unabhängigkeit Polens

Die Nationalversammlung am 5. Dezember 2017

Der Präsident der Republik Polen, Andrzej Duda

Liebe Landsleute! Sehr geehrter Herr Sejmmarschall! Sehr geehrter Herr Senatsmarschall! Sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin! Sehr geehrte Herren Ministerpräsidenten! […] Ehrwürdige geladene Gäste, Teilnehmer der Nationalversammlung!

Wir eröffnen heute die Feierlichkeiten zum großen Freiheitsfeiertag. Das Jubiläum der 100-jährigen Wiedererlangung der Unabhängigkeit durch Polen wird einerseits eine Gelegenheit sein, über unsere Vergangenheit nachzudenken, aber auf der anderen Seite möchte ich auch, dass es eine wesentliche Zäsur wird. Ein wichtiger Moment aus der Perspektive unserer Zukunft, unseres Weges in neue Zeiten.

100 Jahre, das sind drei Generationen. Über die Geburt, Entwicklung und das Ende der Zweiten Republik diskutieren wir heute ruhiger, mit einer größeren Dosis Objektivität. Dadurch können wir die Erfahrungen der Polen jener Zeit besser nutzen. Wir lernen aus ihren Erfolgen. Wir bewundern ihre große Vision, ihre Dynamik, ihre Opferbereitschaft und ihren Mut. Aber wir analysieren auch ihre Niederlagen, wir analysieren die Unzulänglichkeiten und alle verlorenen Chancen. Wir tun dies, weil wir aus jeder Fügung des Schicksals Kraft und Inspiration schöpfen können. Weil wir jede Schwierigkeit überwinden können. Denn wir sind eine starke, stolze und ausdauernde Nation. Und nie, niemals werden wir aufgeben. (Beifall)

Vor 100 Jahren standen die polnischen Patrioten einem großen Umbruch gegenüber. Ihre Situation bewerteten sie damals zutreffend. Sie unternahmen richtige und wirksame Aktivitäten, die die Jahrzehnte mühsamer Arbeit und dramatischer Kämpfe krönten. Mutig stellten sie die Ordnung in Frage, die – obgleich ihnen gut bekannt und vertraut – nicht Ausdruck ihres Willens war, sondern Ausdruck des Willens ihrer Feinde. Sie warfen das Joch der Unfreiheit ab. Sie nahmen ihr Schicksal in ihre Hände.

Wir verstehen sie heute auch gut. Wir identifizieren uns mit ihnen, denn auch heute stehen wir Herausforderungen gegenüber – anderen, aber nicht weniger wesentlichen für den Aufbau der Stärke des Staates und der Nation. An dieser Stelle sollen die von mir tief in Erinnerung behaltenen Worte von Herrn Präsident Lech Kaczyński angeführt werden, die er am 11. November 2009 sprach. Er sagte damals: »Meine Botschaft für heute ist der polnische Staat. Der polnische Staat ist ein Wert, auf den man sich heute konzentrieren muss, der so wichtig ist, dass von der Leistungsfähigkeit der Republik, eben dieses Staates, unser zukünftiger Erfolg abhängen wird.« (Beifall)

Anknüpfend an diese Worte, liebe Landsleute, sehr geehrte Abgeordnete und Senatoren, ehrwürdige versammelte Gäste, will ich heute als Präsident sehr bestimmt sagen: Das Jubiläum der 100-jährigen Wiedererlangung der Unabhängigkeit, sollte, meine ich, die Zeit sein, den Unglauben an den eigenen Wert und die eigenen Kräfte endgültig abzulegen. Werfen wir also die uns seit Jahren beigebrachte falsche Scham über unsere nationale Geschichte und Identität ab. (Beifall) Sehr geehrte Damen und Herren, genug des Gefühls der Abhängigkeit, der Unsicherheit, ob wir unseren eigenen Weg verfolgen können. Genug des Einredens, dass wir uns keine eigenen, souverän bestimmten Ziele und Ambitionen leisten können. Nicht so sollte man die polnischen Angelegenheiten lenken. (Beifall)

Es ist die Zeit gekommen, dass das Wesen unseres politischen Lebens aufhörte, ein fortwährender, auszehrender Zusammenstoß feindlicher Stämme zu sein. Es ist Zeit für eine sachliche Debatte im Kreise von Landsleuten. (Beifall) Für das Gespräch zwischen den Bewahrern des unschätzbaren Gutes, das unser gemeinsamer, unabhängiger Staat ist. Polen ist niemandes Eigentum.

(Stimmen im Saal: Das ist wahr, das ist wahr.)

Polen ist nicht einmal unser Eigentum, unserer Generation. Wie sind nur seine Auserwählten, seine Diener und Pfleger. Das ewig junge und faszinierend schöne, gefährliche, aber auch majestätische Polen – eben dieses Polen weckt in uns immer neue Kräfte und Fähigkeiten, es weckt Stolz und Mut, große Ideen und lebendige Empfindungen. Es wächst gemeinsam mit uns. (Beifall) Es ist stark durch unsere Stärke und unsere Erfolge. Die Fürsorge für diesen Schatz werden wir einmal unseren Kindern und Enkelkindern weitergeben. Deshalb dürfen wir ihn nicht nur nicht verschleudern, im Gegenteil, wir haben die Pflicht – wir sollten ihn entschlossen vermehren. Wir werden diese Aufgabe ausgeführt haben, wenn wir einen stärkeren Staat und eine reifere, versöhntere Gesellschaft hinterlassen werden.

Wenn uns das nicht gelingen wird, wird uns die Geschichte – vielleicht leider, aber sehr wahrscheinlich – die verlorene Generation nennen.

(Stimme im Saal: Nicht uns.) (Bewegung im Saal)

[…]

Sehr geehrte Damen und Herren! Vor 100 Jahren vereinigte sich für die Wiederherstellung und anschließend für die Bewahrung des Vaterlandes die ganze Nation. Die Polen nahmen sich ein Beispiel an den sechs großen Anführern, die wir heute Väter der Unabhängigkeit nennen. Diese herausragenden damaligen Individualisten trennte fast alles, insbesondere im Bereich der Politik, aber sie verband eine fundamentale Idee – die souveräne, unabhängige Republik, der freie polnische Staat. (Beifall)

Deshalb erweisen wir heute, am 150. Geburtstag des Marschalls Józef Piłsudski, dem Geheimbündler und Soldaten, dem Führer und Strategen, der restlos der Sache des freien Polen ergeben war, feierlich die Ehre. Wir ehren das Andenken eines Menschen mit großem Mut, Entschlossenheit und Charakterstärke, der in der Lage war, Tausende junge Patrioten mit sich in den Kampf zu ziehen. Ein Politiker, der sagte: »Wir wollen ein unabhängiges Polen, damit wir dort ein für alle besseres und gerechteres Leben einrichten können.« Ein staatlicher Akteur, welcher, der damals bestehenden Gegebenheiten vollkommen bewusst, bedauerte: »Einer der Flüche unsres Lebens, einer der Flüche unseres staatlichen Baus ist, dass wir uns in mehrere Arten von Polen geteilt haben, dass wir die eine polnische Sprache sprechen, aber sogar die polnischen Worte unterschiedlich verstehen, dass wir unter uns Polen unterschiedlicher Arten erziehen, Polen, die sich mit Mühe verstehen.«

(Stimmen im Saal: Schlechtere Sorte! Schlechtere Sorte!)

[…]

Aber mit Dankbarkeit und Respekt erinnern wir uns auch an Roman Dmowski, den Mitbegründer und rastlosen Ausführenden des Programms der »Nationalisierung der Massen«, der Verbreitung bürgerlicher, patriotischer, ehrenamtlicher Gesinnungen. In Erinnerung an seine Beteiligung an der Friedenskonferenz in Versailles sagte er: » Ein starker polnischer Staat ist nicht nur für unsere nationale Entwicklung erforderlich, um unsere Ziele zu verwirklichen und unsere Aufgaben zu erfüllen. Nicht weniger notwendig ist er für die Festigung des Friedens und damit für die Festigung der Bedingungen der großen zivilisatorischen Arbeit des ganzen Europa.« Auch diese Diagnose hat nichts an ihrer auch heutigen Aktualität verloren. (Beifall)

Es gäbe aber die polnische Unabhängigkeit nicht ohne Ignacy Jan Paderewski. Der herausragende Pianist und Komponist erzielte gemeinsam mit Roman Dmowski den spektakulären diplomatischen Erfolg, als da wären die Polen betreffenden Beschlüsse des Versailler Vertrags. […] Sein Charisma und sein heißer Patriotismus inspirierten die Einwohner Großpolens zu einem bewaffneten Aufstand, dessen Erfolg 1918 und 1919 die junge, wiedergeborene Republik außerordentlich stärkte.

Aber es gäbe kein freies und unabhängiges Polen, wenn nicht Ignacy Daszyński und sein Manifest gewesen wären, das das polnische Volk zum Bau des »Gebäudes der unabhängigen und vereinigten Republik« aufrief, dazu, einen »angemessenen Platz in der Familie der freien Nationen« einzunehmen, dazu, die Rolle »des Landwirts auf seinem eigenen Land« einzunehmen. Es gäbe kein freies Polen, wenn nicht sein Kabinett an der Schwelle zur Unabhängigkeit die Idee der Gleichheit der Bürger, des allgemeinen Versicherungssystems und des Schutzes der arbeitenden Bevölkerung aufgegriffen hätte, das heißt Konzepte, die über die soziale Ordnung des wiedergeborenen Staates entschieden und ihm sehr breite Unterstützung verschafften. (Beifall)

Aber die souveräne und unabhängige Republik gäbe es auch ohne Wincenty Witos nicht (Beifall), den Staatsmann, der wusste, dass der Rückhalt des Polentums und des Patriotismus das Dorf ist, denn er sagte: » Der Bauer hat in den bittersten Momenten die Scholle, die Religion und die Nationalität bewahrt. Diese drei Werte gaben die Grundlage, einen Staat zu erschaffen.« (Beifall) […]

Ehre und Gedenken der Generationen gebühren auch Wojciech Korfanty (Beifall) und in seiner Person auch allen Aktivisten der Plebiszitbewegung in Schlesien sowie den Teilnehmern der schlesischen Aufstände. Bei Anbruch der unabhängigen Republik, in seiner letzten Rede noch im preußischen Landtag sagte er: » Wir, wir Polen, haben uns vom ersten Moment an, als wir diesem Parlament beitraten, immer als Vertreter der polnischen Nation betrachtet.« (Beifall) Und im bereits freien Polen, in dem Polen, das dank ihm und dem Heldentum der polnischen Schlesier Oberschlesien zurückbekam, sagte er: »Wir haben den wertvollsten Teil gewonnen und gingen freiwillig nach Polen und brachten ihm als Geschenk eine reiche Mitgift.« (Beifall)

Liebe Landsleute! Sehr geehrte Damen und Herren! Den hier genannten Staatsmännern verdanken wir nicht nur die Freiheit, nicht nur die Souveränität, nicht nur die Unabhängigkeit. Wir bekamen von ihnen allen eine Lektion in klugem, reifem Patriotismus, der im friedlichen gemeinsamen Wirken in Angelegenheiten zum Ausdruck kam, in denen jede andere Haltung illoyal gegenüber dem Vaterland und der Nation gewesen wäre. Im kommenden Jahr werde ich an vielen Feierlichkeiten teilnehmen, bei denen an ihre Verdienste erinnert wird. Ich habe die Entscheidung getroffen, denen den Orden des Weißen Adlers posthum zu verleihen, denen diese Auszeichnung noch nicht zuteilwurde. (Beifall) Allerdings will ich deutlich unterstreichen, dass die großen, herausragenden Namen der Anfang der Liste der Personen ist, die zur Wiedererlangung der Unabhängigkeit und Souveränität durch Polen tatsächlich beigetragen haben. Die Geschichte unserer Nation und unseres Staates haben auch die gewöhnlichen Einwohner Hunderter polnischer Dörfer, Kleinstädte und Städte mitgestaltet sowie die stillen Helden unserer heimischen – nachbarschaftlichen und familiären – Geschichten, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Auch wenn die großen Chroniken über sie schweigen, verdienen auch sie, im Gedächtnis ihrer Heimat vorzukommen. Ich ermuntere auch dazu, dass wir uns aufmerksamer als gewöhnlich in unserem Umfeld umsehen, denn auch heute können wir doch immer noch ungewöhnliche, heldenhafte Menschen treffen, denen wir unsere gegenwärtige Unabhängigkeit verdanken: Veteranen der Heimatarmee [Armia Krajowa – AK, d. Übers.] und standhafte Soldaten, Soldaten des antikommunistischen Aufstands, Aktivisten der Solidarność sowie anderer Organisationen, darunter auch im Untergrund, die in Opposition zu dem Regime standen, das hier, in Polen, mit sowjetischen Bajonetten eingeführt wurde. (Beifall)

Das nun beginnende Jubiläum wird eine außergewöhnliche Gelegenheit sein, alle diejenigen zu ehren, dank derer sich unsere Nation der Freiheit erfreut und in einem eigenen, freien, souveränen Staat lebt. Machen wir die Feierlichkeiten zu einem Feiertag des Stolzes auf unsere heimischen Orte und Regionen, auf unsere lokalen patriotischen und Unabhängigkeitsleistungen. […]

Mit Freude empfange ich Informationen über sehr zahlreiche Jubiläumsinitiativen, die bereits in Polen und der ganzen Welt entstehen. Ich tue, was in meiner Macht steht, um an ihnen möglichst häufig, aktiv und direkt teilzunehmen – auch an denen, die von unten kommen, die einen zivilgesellschaftlichen, lokalen Charakter haben. In den kommenden Monaten will ich ganz besonders bei meinen Landsleuten sein, denn es ist ja eine Zeit, in der es nötig ist, dass wir zusammen sind, dass wir gemeinsam dem Ehre erweisen, das weit größer und wichtiger ist als jeder einzelne von uns, weit größer und wichtiger als spezielle Traditionen und politische Sympathien, Milieuidentitäten oder lokale Patriotismen. […]

Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Landsleute! Allerdings ist und soll dieses fabelhafte, große Jubiläum nicht nur auf die Vergangenheit ausgerichtet sein. Es ist eine außergewöhnliche Gelegenheit, auch auf uns selbst zu schauen, um aufs Neue die Ziele, Grundsätze und Werte zu überdenken, die wir als die wichtigsten anerkennen.

Vor unseren Augen entsteht das Polen der nächsten 100 Jahre, bereit, alle Herausforderungen anzunehmen, die die Gegenwart mit sich bringt. Daher meine ich, dass die Begriffe Unabhängigkeit, Souveränität und Demokratie immer wieder mit Inhalt in einer sich häufig sehr schnell verändernden Welt gefüllt werden müssen.

Polen ist jetzt, ähnlich wie vor Jahrhunderten, einer der größten und bevölkerungsreichsten Staaten unseres Kontinents. Es ist und sollte ein vollberechtigtes, loyales und gleichzeitig selbständiges und unabhängiges Mitglied des Nordatlantikpakts und der Europäischen Union bleiben. Die Republik bringt – und sollte es auch in Zukunft – ihren individuellen Anteil in den Bau der Ordnung und der Sicherheit der Welt ein […].

Wir brauchen Streitkräfte, dank derer ein Bündnis mit der Republik ein sehr willkommener Vorzug für andere Staaten sein wird, aber das Risiko eines Konfliktes mit ihr die Quelle ernsthafter Befürchtungen. […]

Es ist Zeit für einen Staat, der allen Bürgern dient, für eine vollständige, tatsächliche Gleichheit aller Polen vor dem Gesetz […].

Es ist Zeit für ein dauerhaftes, gutes und schließlich gerechtes Recht, für eine Ordnung, in der die Kompetenzen der Legislative, Exekutive und Judikative klar voneinander getrennt sein werden (Beifall), in der auf konkreten Personen, die öffentliche Funktionen ausüben, konkrete, klar bestimmte Pflichten ruhen werden, für deren Ausübung die volle persönliche Verantwortung getragen werden soll. (Beifall) […]

Ja, verehrte Damen und Herren, es ist Zeit für ein funktionales politisches System, den Herausforderungen der Gegenwart angemessen, gefasst in die Vorschriften einer neuen Verfassung – (Beifall) einer Verfassung, deren Hauptprinzipien von der Nation selbst bestimmt werden, auf dem Weg des Referendums, direkt und ungezwungen. Sorgen wir dafür, dass die Prozeduren der Wahlen transparenter werden (Heiterkeit im Saal) und vollkommen vertrauenswürdig. (Beifall) […] Genau davon wird in hohem Maße die Qualität unserer Demokratie in der Zukunft abhängen.

Wenn wir uns an die schwierigen Blätter der Geschichte der Zwischenkriegszeit erinnern, die die 1930er Jahre waren, müssen wir auch dafür sorgen, dass das Antlitz unseres Staates gerechte und leistungsstarke Gerichte und moderne Behörden sind.

(Stimme im Saal: Unabhängige!)

(Stimme im Saal: Freie!)

Der Bürger sollte wissen, dass der Staat, den er mit seiner täglichen Arbeit errichtet, für den er Steuern zahlt und den zu verteidigen er bereit ist, ein Staat ist, der ihm nahe, gerecht und hilfreich ist, der aber gleichzeitig Respekt weckt. (Beifall) […]

Aber es gibt auch einen Bereich, der über alles hinauswächst, worüber ich hier gesprochen habe. Außer den gesunden Institutionen, die gewissermaßen der Körper des Staatsorganismus sind, brauchen wir auch, vielleicht sogar vor allem, einen gesunden Geist, einen Geist, der uns als Gemeinschaft verbindet, der bewirkt, dass wir tatsächlich als eine Nation bestehen wollen. Dieser Geist ist unsere Tradition, Geschichte, Sprache und Kultur, Werte, die wir als gemeinsame und wichtigste anerkennen. Es ist leicht, den Geist der Nation mit einer falschen Ideologie zu vergiften. (Beifall)

(Stimme im Saal: Das stimmt.) […]

Kommunismus, Nazismus, Kosmopolitismus oder die nihilistische Negierung des christlichen Wertesystems zerstören unsere empfindlichen kulturellen Bindungen. (Beifall) Die Verdunkelung, die Verfälschung von Begriffen bringt Chaos in unseren kulturellen Code, erschwert uns die innere Kommunikation.

(Stimme im Saal: Genau.)

Ideologien bringen Feindseligkeit zwischen Gesellschaften, sie verursachen den Zerfall von Gemeinschaften, sie streben danach, sich an die Spitze der Wertehierarchie zu setzen und die natürlichen, ewigen Bemühungen und Ambitionen des Menschen in den Hintergrund zu drängen. Damit wir als reife Gemeinschaft überdauern, die einen eigenen, unabhängigen Staat verdient, müssen wir das verstehen und entschieden dagegen vorgehen. (Beifall)

Liebe Landsleute! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich möchte noch über etwas sprechen, was mir besonders am Herzen liegt. Ich will, dass es laut und deutlich zu hören ist. Die 100-jährige Unabhängigkeit ist vielleicht die beste Gelegenheit der letzten Jahre, das Gefühl einer nationalen Gemeinschaft aufzubauen. Ohne dieses Bewusstsein sind wir nicht imstande, einen modernen, gerechten und tatsächlich starken Staat aufzubauen. […]

Ich appelliere an die politische Klasse. Die Konflikte, die häufig über die Grenzen unseres Landes hinausgehen, bauen unserem Vaterland keine Position auf. (Beifall) Sie verursachen vor allem Angst und Aggression, das Gefühl der Hoffnungslosigkeit und der Unabwendbarkeit eines inneren Konfliktes. Erinnern wir uns, der Kampf um die Wiedererlangung des unabhängigen Staates wäre nicht notwendig gewesen, wenn es nicht die Katastrophe der Teilungen gegeben hätte – den Kataklysmus, dessen direkte Ursache die leichtsinnige und unwürdige Anrufung eines Schiedsverfahrens sowie die Intervention von fremden Mächten waren. (anhaltender Beifall)

Liebe Landsleute! Sehr geehrte Damen und Herren! Teilnehmer der Nationalversammlung! Errichten wir unser Haus auf dem Fundament der Wahrheit und des gegenseitigen Respekts. Möge dieser Jahrestag uns bewusst machen, dass, wenn wir zusammen sind, wir eine reife Gemeinschaft sind. Dann werden wir uns vor der Zukunft nicht fürchten müssen. Nach Montesquieu ist »Freiheit das Gut, das uns ermöglicht, andere Güter zu nutzen«. Freiheit heute, für unsere Generation, bedeutet vor allem Verantwortung, rationales und fähiges Nutzen der Güter, deren wir uns dank unserer Freiheit erfreuen.

Liebe Landsleute! Sehr geehrte Damen und Herren! Im vergangenen Jahr begingen wir 1050 Jahre Taufe Polens. Es kamen damals die Fragen wieder auf, was geschehen wäre, wenn Fürst Mieszko die Taufe nicht angenommen hätte, wie unsere Geschichte verlaufen wäre, wenn die Polanen Christen des östlichen Ritus geworden wären. Das wissen wir natürlich nicht. Niemand kann heute diese Fragen präzise beantworten. Allerdings lehrt uns die Geschichte, dass es in jeder Generation einen Moment wegweisender Entscheidungen gibt, eine Probe des Charakters, einen Moment der Wahrheit über uns als Nation. So war es auch vor 100 Jahren. Der November des Jahres 1918 hätte sich auch nicht ereignen können. Aber er geschah. Wir haben unsere eigene Identität und unser historisches Gedächtnis gerettet. Wir haben durchgehalten. Wir waren der Aufgabe gewachsen. Wir sind unseren patriotischen Werten treu geblieben. Dazu kam es, weil die erste und entscheidende Bedingung erfüllt wurde – wir selbst wollten es. Dazu kam es, weil der Unabhängigkeit des Staates die Souveränität der Gedanken unserer Anführer und nationalen Eliten voranging. Wir haben gesiegt, weil wir genau wussten, was wir wollen, was das imponierende Erbe der Jahrhunderte ist, dessen man uns enterben wollte.

Das unabhängige Polen wurde im Jahr 1918 wiedergeboren, aber es war nicht dasselbe wie vor den Teilungen. Seine Grenzen verliefen anders, seine Nationalitätenstruktur und seine soziale Struktur waren andere, anders waren die wirtschaftlichen Realitäten und materiellen Lebensbedingungen der Bürger. Doch trotz aller Unterschiede zweifelte niemand daran, dass genau das Polen ist, und unsere Vorfahren, die einen eigenen Staat aufbauten, wussten vollkommen, dass sie Polen sind. Das dachten sie und mit dieser Einstellung arbeiteten die, die das Land nach dem Zweiten Weltkrieg aus den Zerstörungen, die der Krieg hinterließ, emporhoben, das neue polnische Haus in den westlichen und nördlichen Gebieten einrichteten, das unterbrochene Werk der Industrialisierung mit dem Preis gewaltiger Arbeit und Entsagungen unter Hindernissen und Nöten aufnahmen, wovor uns das kommunistische Regime nicht verschonte.

Auch wir heute haben die Gewissheit, dass wir zu derselben Nation gehören, die vor 100 Jahren die Freiheit wiedererlangte, den unabhängigen, souveränen Staat wiedererlangte und fähig war, ihn aufzubauen. Die Geschichte endete aber nicht mit dem Jahr 1918, an der Haltestelle Unabhängigkeit. Hinter uns liegt ein ganzes Jahrhundert dramatischen, aber erfolgreich beendeten Ringens um Freiheit und Unabhängigkeit. Vor uns liegen die nächsten 100 Jahre, eine Zeit tiefgehender zivilisatorischer und geopolitischer Veränderungen, des beschleunigten wissenschaftlich-technischen Fortschritts, neuer Wissenshorizonte und mit Sicherheit neuer Erfahrungen. Vor uns und in unseren Händen das Polen des nächsten Jahrhunderts. Ich weiß, ich bin überzeugt, dass wir, wenn wir gemeinsam tätig werden, Polen groß machen können. Ich weiß, ich bin überzeugt, dass wir stolz auf es sein werden, wir sowie die, die über es in weiteren 100 Jahren sprechen und schreiben werden.

Gott, segne das freie, souveräne und unabhängige Polen! Gott, segne die Polen in Polen und auf der ganzen Welt! Danke. (Die Versammelten erheben sich, Beifall)

(Die Abgeordneten der Fraktion von Die Moderne (Nowoczesna, d. Übers) halten Exemplare der Verfassung hoch)

(Die Abgeordneten der Fraktion der Bürgerplattform (Platforma Obywatelska, d. Übers.) und von Die Moderne skandieren: Verfassung! Verfassung! Verfassung!)

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

Quelle: <http://www.sejm.gov.pl/Sejm8.nsf/wypowiedz.xsp?posiedzenie=zn2&dzien=1&wyp=1&view=1> (abgerufen am 19.03.2018)

Zum Weiterlesen

Analyse

1918 in Polen: Ereignis, Erinnerung, Jubiläum

Von Peter Oliver Loew
Das Jahr 1918 ist wesentlicher Bezugspunkt für aktuelle polnische Identitätsdiskurse. Der Beitrag schildert knapp die zur Wiederentstehung Polens führenden Ereignisse und stellt dar, wie im vergangenen Jahrhundert daran erinnert wurde oder welche Anstrengungen unternommen wurden, sie zu verdrängen, insbesondere um die Rolle von Józef Piłsudski zu marginalisieren. Gerade in den vergangenen Jahren ist der Unabhängigkeitstag am 11. November zu einem Aufeinandertreffen von nationalistischen bis neofaschistischen und liberalen bis alternativen Geschichtsentwürfen geworden. Die Jubiläumsfeiern des Jahres 2018 werden von einem Komitee unter der Schirmherrschaft von Präsident Andrzej Duda als überparteiliche Abfolge zahlloser Veranstaltungen geplant, könnten aber Gefahr laufen, politisch instrumentalisiert zu werden, zumal im Herbst auch die Kommunalwahlen stattfinden werden. (…)
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