Flüchtlingskrise und Wahlkampf. Tiefe Gräben in Gesellschaft, Politik und Kirche

Von Reinhold Vetter (Warschau/Berlin)

Zusammenfassung
Auch für Polen ist die Flüchtlingskrise eine Stunde der Wahrheit. Schärfer als bislang treten Denkstrukturen und Meinungen bezüglich Migration hervor – auch wenn die großen Flüchtlingsströme aus Nahost Polen vorerst nicht betroffen haben. Dabei zeigen sich tiefe Gräben in Gesellschaft, Politik und Kirche. Der Wahlkampf vergröbert die öffentliche Debatte. Speerspitze der Fremdenfeindlichkeit ist die nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) von Jarosław Kaczyński, die in ihrer Haltung zu Muslimen nur noch von kleineren rechtsradikalen Gruppierungen übertroffen wird. Ministerpräsidentin Ewa Kopacz hat nach langem Zögern zu einem europäischen Kurs in der Flüchtlingsfrage gefunden. Die im Westen und gerade auch in Deutschland gegenüber Polen vorgebrachte Kritik greift zu kurz bzw. ist undifferenziert, weil sie die historischen und gesellschaftspolitischen Hintergründe der Angst vieler Polen vor Fremdheit außer Acht lässt.

Noch vor Wochen schien es so, als würden vor allem die Schwächen der regierenden Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO) sowie wirtschaftliche und soziale Probleme den polnischen Wahlkampf dominieren. Doch dann, kurz vor den Parlamentswahlen am 25. Oktober, rückte auch in Polen die europäische Flüchtlingskrise ins Zentrum der öffentlichen Debatte. Kein Tag verging, an dem nicht Politiker aller Parteien das Thema aufgriffen und als Wahlkampfmunition einsetzten. Das Drama der Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und die Schwächen der europäischen Migrationspolitik bestimmten die Schlagzeilen der Zeitungen, die Nachrichtensendungen in Hörfunk und Fernsehen sowie die Internetportale. Viele Gespräche im Alltag drehten sich um dieses Thema. Nach und nach versuchten Wissenschaftler und Migrationsexperten, Licht ins Dunkel zu bringen und vor allem jene Bürger, die von Verunsicherung und Angst vor einer vermeintlichen Islamisierung geplagt werden, mit realen Fakten und Hintergrundinformationen zu versorgen. Auf Initiative der Tageszeitung »Gazeta Wyborcza« gaben 40 Medien einen Almanach zur Flüchtlingskrise heraus.

Wie viele sind gekommen, wie viele könnten noch kommen?

Nach Angaben des Statistischen Hauptamtes (Główny Urząd Statystyczny – GUS) in Warschau hielten sich im ersten Halbjahr 2014 zeitweise oder längerfristig gut 80.000 Migranten in Polen auf. Ministerpräsidentin Ewa Kopacz nannte inzwischen eine Zahl von 0,3 Prozent der Einwohner, das sind etwa 115.000 Personen. Außenminister Grzegorz Schetyna sprach in einem Zeitungsbeitrag sogar von »mehreren hunderttausend Migranten«. Letzteres dürfte der Wahrheit am nächsten kommen. Fachleute wie Łukasz Komuda von der Stiftung für Sozial-Ökonomische Initiativen (Fundacja Inicjatyw Społeczno-Ekonomicznych) gehen davon aus, dass sich gegenwärtig etwa 400.000 Migranten in Polen aufhalten, vor allem Arbeitsmigranten mit und ohne Aufenthalts- bzw. Arbeitserlaubnis, in geringerem Maße auch Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge. Sie kommen vor allem aus der Ukraine, der Republik Moldau, Belarus, Georgien, Armenien, Tschetschenien, Dagestan, Usbekistan und Tadschikistan. Zur Erinnerung: Polens Bevölkerungszahl liegt aktuell bei 38 Millionen. Die Zahlen zeigen, dass der Anteil der Migranten an der Gesamtbevölkerung in Polen weit unter den entsprechenden Werten in Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Griechenland und Großbritannien liegt.

Natürlich ist nicht auszuschließen, dass Flüchtlinge aus dem Nahen Osten künftig auch den langen Weg über Rumänien und die Ukraine wählen werden, um insbesondere nach Deutschland zu kommen. Das hängt von der jeweiligen Lage in Transitländern wie Serbien, Kroatien, Slowenien und Ungarn ab, ebenso davon, wie schnell es der EU gelingt, an ihren Außengrenzen Sammelstellen (»hotspots«) einzurichten. Auf diesem Weg könnten dann auch weitaus mehr Flüchtlinge nach Polen gelangen bzw. den Weg durch Polen wählen.

Wie ging Polen bislang mit den Flüchtlingen bzw. Asylsuchenden um? Polen hat die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 unterzeichnet und sich per Gesetz im Jahr 2003 verpflichtet, jenen Flüchtlingen auf polnischem Territorium Schutz zu gewähren, die in ihrer Heimat Verfolgungen oder gar Todesgefahren ausgesetzt sind. Damit verbunden sind die Bereitstellung einer menschenwürdigen Unterkunft, die Gewährleistung medizinischer Versorgung sowie die Auszahlung eines kleineren Geldbetrages für Lebensmittel und Gegenstände des täglichen Bedarfs. Flüchtlinge sind nicht verpflichtet, in einem der Aufnahmelager zu bleiben, sondern können entsprechend ihren Möglichkeiten selbst Wohnraum anmieten. Gegenwärtig existieren elf solcher bewachten Lager, die hauptsächlich im Osten des Landes lokalisiert sind. Aktuell halten sich dort etwa 1.600 Personen auf, weitere 500 Plätze können noch belegt werden. 80 Prozent derjenigen, die sich dort aufhalten, wollen weiter in den Westen. Die Behörden organisieren individuelle Integrationsprogramme, etwa einfachen Sprachunterricht, die in der Regel von etwa 30 Prozent derjenigen genutzt werden, die sich in den Lagern aufhalten.

Menschenrechtsorganisationen wie die Helsinki-Stiftung für Menschenrechte (Helsińska Fundacja Praw Człowieka) haben wiederholt Kritik an den ihrer Meinung nach unwürdigen Lebensbedingungen in den Lagern, den langwierigen Prüfungs- und Entscheidungsprozeduren sowie den mehr schlecht als recht funktionierenden Integrationsprogrammen geübt. Mehrfach kam es bereits zu Hungerstreiks in den Lagern. Bekannt ist auch, dass der Zustand der Isolation immer wieder zu Depressionen und Konflikten führt. Kritisiert wird außerdem die Vorschrift, dass die in den Lagern wohnenden Flüchtlinge in den ersten sechs Monaten nicht das Recht haben, legal eine Arbeit aufzunehmen. De facto, so heißt es, laste die Hauptverantwortung für die Integration auf Nichtregierungsorganisationen. Das gelte für die praktische Lebenshilfe, Rechtsberatung und Kinderbetreuung ebenso wie für sprachliche und kulturelle Orientierungshilfe.

Stellt man diverse Faktoren und Ressourcen in Rechnung, dann ist Polen durchaus in der Lage, eine weitaus größere Zahl von Flüchtlingen als bislang aufzunehmen. In der Ausländerbehörde (Urząd do Spraw Cudzoziemców) heißt es, man könne die Flüchtlingslager relativ schnell um 2.000 Plätze aufstocken. Im Notfall würde man auf Einrichtungen der Woiwodschaften wie Turnhallen zurückgreifen und so bis zu 30.000 Menschen unterbringen können. Allerdings, so wird auch betont, fehle es bislang auch an entsprechenden Plänen für den Sprach- und Schulunterricht sowie die Arbeitsvermittlung. Das Problem, meinte die Tageszeitung »Rzeczpospolita«, bestehe eben darin, dass Polen nicht auf die Aufnahme von Flüchtlingen aus fremden Kulturkreisen vorbereitet sei.

Auch der Vergleich makroökonomischer Daten zeigt, dass Polen, ähnlich wie andere mittelgroße und wirtschaftlich starke Staaten, durchaus das Potential für eine verstärkte Aufnahme von Flüchtlingen hat. Außerdem braucht das Land dringend mehr Handwerker, einfach qualifizierte Arbeiter und Haushaltshilfen, da viele von diesen das Land in Richtung Westen verlassen haben. Hinzu kommt die Alterung der Gesellschaft. »Die Aufnahme von Muslimen, die aufgrund von Quoten zugeteilt werden, ist in Polen keine gravierende materielle und organisatorische, sondern eine mentale Herausforderung«, schrieb Marek Ostrowski im Wochenmagazin »Polityka«. In der Tat.

Kontroverse Stimmungen in der Gesellschaft

Bei aller notwendigen Vorsicht gegenüber Umfragen enthalten sie doch gewisse Hinweise auf Denkweisen in der Bevölkerung. Die Erhebungen zeigen, dass die polnische Öffentlichkeit gegenwärtig so stark polarisiert ist wie seit langem nicht mehr. Geradezu feindlich stehen sich nationalkonservative und liberale Meinungen gegenüber.

Aus einer Umfrage des Instituts Millward Brown geht hervor, dass es 53 Prozent der Befragten für eine moralische Pflicht halten, Flüchtlinge aufzunehmen. Aber ebenso stehen 54 Prozent einer Aufnahme ablehnend oder zumindest skeptisch gegenüber. 22 Prozent wollen dies überhaupt nicht, 32 Prozent plädieren für die Aufnahme einiger hundert Flüchtlinge, 18 Prozent für einige tausend und 9 Prozent für mehr als zehntausend. Ablehnend äußern sich vor allem Menschen auf dem Lande, Männer und junge Leute. Zustimmung kommt eher von Personen mit höherer Bildung in den größeren und mittleren Städten sowie teilweise auch von älteren Menschen.

Eine aktuelle Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Centrum Badania Opinii Społecznej (CBOS) zeigt weiterhin, dass sich die Haltung der Polen gegenüber Flüchtlingen in den letzten Wochen verschlechtert hat. So teilte CBOS mit, dass inzwischen 38 Prozent der Befragten strikt gegen die Aufnahme von Flüchtlingen seien. Vermutlich hängt dies damit zusammen, dass die von den Fernsehsendern immer wieder gezeigten Bilder von den dramatischen Szenen in den südosteuropäischen Transitländern und an deren Grenzen, die ursprünglich eher Mitleid hervorriefen, inzwischen zunehmen auf Skepsis stoßen.

Aufhorchen ließ auch eine Umfrage im Auftrag der »Gazeta Wyborcza« an der Warschauer Universität die zeigte, dass fast drei Viertel der dort Studierenden eher eine negative Einstellung zu Muslimen haben und die Hälfte sogar meint, Muslime würden den Wohlstand und die traditionellen Werte Polens gefährden. 80 Prozent gaben an, keinerlei muslimische Mitbürgerinnen und Mitbürger zu kennen.

Aus einer Untersuchung des Instituts Ipsos für die Ausländerbehörde geht hervor, dass gerade einmal 19 Prozent der Polen in den letzten zwölf Monaten Kontakt zu Ausländern gehabt haben. Gefragt, welche Ausländer ihnen kulturell am nächsten stünden, verwiesen 61 Prozent auf die Bewohner Westeuropas, 48 Prozent auf die Amerikaner und Kanadier sowie 47 Prozent auf die Ukrainer. Nur 14 Prozent erklärten dies auch für Afrikaner und Vietnamesen sowie 12 Prozent für Araber.

Die Spitze des Eisberges der Fremdenfeindlichkeit zeigte sich am 12. September, als in Warschau, Danzig (Gdańsk) und in anderen polnischen Städten Demonstrationen gegen die Aufnahme von Flüchtlingen stattfanden. Der größte dieser Aufmärsche, an dem nach Polizeiangaben zirka 7.000 Menschen teilnahmen, fand im Zentrum Warschaus statt. Etwa 1.000 Teilnehmer versammelten sich zu einer Gegendemonstration.

Drastisch formulierte der bekannte Publizist Jacek Żakowski: »Im Spiegel der Flüchtlinge haben wir unser schreckliches Gesicht gesehen. Nicht nur das fremdenfeindliche, rassistische und islamfeindliche. Ebenso – ohne Rücksicht auf die Hintergründe – das egoistische, selbstverliebte, grausame, ängstliche, aggressive und paranoide. Schlechtes in jedweder Hinsicht. Das ist nicht das Gesicht des ganzen Polen und aller Polen. Aber jenes Gesicht, das in verschiedenen Zusammenhängen und Formen die polnische öffentliche Sphäre ergriffen hat, die polnische Politik beherrscht und die Kultur der Dritten Republik dominiert.«

Bürgerkrieg der Worte in der Politik

Schon bald, nachdem die ersten Migrantenströme Deutschland erreicht hatten, wurde die Flüchtlingskrise zum wichtigsten Streitpunkt zwischen der Regierung und der Opposition. Zunächst jedoch verhielten sich Ministerpräsidentin Ewa Kopacz und ihre Regierung reserviert und vieldeutig. Polen, so die Regierungschefin, sei solidarisch und werde bei der Flüchtlingskrise helfen. Allerdings könne man höchstens 2.000 Flüchtlinge aufnehmen, betonte sie. Von der EU vorgegebene Quoten für die Aufnahme lehnte sie ab. Mit Blick auf Deutschland betonte Ewa Kopacz, man müsse darauf achten, dass das eigene Handeln nicht eine unkontrollierte Welle von Wirtschaftsflüchtlingen auslöse. Polen könne sich die Aufnahme von Wirtschaftsflüchtlingen nicht leisten.

Auch Polens Staatspräsident Andrzej Duda setzte die klassische polnische Formel gegen Quoten, die in Brüssel bestimmt werden: »Nichts über uns ohne uns.«

Sogar der Publizist Marek Ostrowski von der liberalen »Polityka« warb um Verständnis: »Das Pech will es so, dass die schwierigste Phase der Migrationskrise mit dem Wahlkampf zusammenfällt. Das ist keine Zeit für normale Gespräche, und unsere Partner in der Union sollten verstehen, dass der Standpunkt der polnischen Regierung, die nicht damit einverstanden ist, vorbehaltlos per 'Juncker-Plan' bestimmten Ländern Flüchtlingsquoten zuzuteilen, nicht mit mangelnder Bereitschaft zu Solidarität gleichzusetzen ist, sondern der Versuch ist, guten Willen mit politischem Realismus zu verbinden.«

Schließlich trat Ewa Kopacz die Flucht nach vorn an und erklärte, Polen wolle freiwillig bis zu 12.000 Flüchtlinge aufnehmen. Polen, sagte sie, »kann nicht so tun, als ginge uns das alles nichts an. Wir sind ein Teil Europas.« Es gebe keinen Widerspruch zwischen der Fürsorge für die eigenen Bürger und der Hilfe für Menschen, die sich aus Kriegsgebieten retten wollten. Gleichzeitig formulierte die Regierungschefin drei Bedingungen: Europas Außengrenzen müssten gesichert werden, man müsse zwischen Flüchtlingen und Wirtschaftsmigranten unterscheiden, und die polnischen Behörden müssten jeden unter Sicherheitsgesichtspunkten überprüfen können.

Auch Außenminister Grzegorz Schetyna erklärte in einem Artikel für verschiedene europäische Zeitungen, Polen sei bereit, freiwillig mehr Flüchtlinge aufzunehmen als ursprünglich von der EU-Kommission gefordert. Europa müsse solidarisch zusammenhalten, gleichzeitig aber auch gemeinsame Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit seiner Grenzen treffen. Schetyna griff den Vorschlag von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier auf, dass Deutschland und Polen in der Flüchtlingskrise zusammenarbeiten sollten, und fügte hinzu, die deutsch-polnischen Beziehungen stünden beispielhaft für Zusammenarbeit und freundschaftliche Nachbarschaft.

Mehrere Gründe dürften Ewa Kopacz zum Umdenken bewogen haben. So spürte sie, dass ihre anfänglich abwehrende Haltung zu einem Ansehensverlust Polens im Westen geführt hat. Des Weiteren ist es ein offenes Geheimnis, dass der EU-Ratsvorsitzende Donald Tusk, Vorgänger von Frau Kopacz im Amt des Ministerpräsidenten und als Vorsitzender der Bürgerplattform, maßgeblich am Umdenken der Regierungschefin und ihrer Regierung beteiligt war. Schließlich hat Ewa Kopacz die Meinungsumfragen in Rechnung gestellt, die zeigen, dass zumindest ein Teil der polnischen Bevölkerung bereit ist, Flüchtlinge aufzunehmen. Außerdem ist ihr klargeworden, dass die polnische Hilfsbereitschaft gerade auch ein Mittel ist, ihrer Bürgerplattform, die ja bislang weit hinter der massiv fremdenfeindlichen Partei Recht und Gerechtigkeit von Jarosław Kaczyński liegt, bei der Parlamentswahl am 25. Oktober viele jener Wähler wieder zuzuführen, die ihr nach und nach die Gefolgschaft verweigert haben. Ein weltoffenes, europäisches und liberales Polen steht hier gegen ein verschlossenes, eigenbrötlerisches, nationalkonservatives Polen.

Tatsächlich ist PiS die Speerspitze fremdenfeindlicher Stimmungen in der polnischen Gesellschaft. In einer Rede vor dem Sejm hat Jarosław Kaczyński den Untergang des Abendlandes ausgerufen, sollten die Flüchtlingsströme nicht konsequent abgewehrt werden, und vor der akuten Gefahr eines islamisierten Polen gewarnt. Die Einwanderer, so Kaczyński, würden unverzüglich Zonen der Scharia ausrufen, wie dies in Schweden und anderen europäischen Staaten schon geschehen sei. Die Regierung Kopacz sei bereit, Menschen aufzunehmen, die nur darauf warteten, »Kirchen zu Toiletten« zu machen, wie man dies jetzt schon in Italien und anderswo beobachten könne. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán habe Recht mit der Bemerkung, dass Deutschland diesen »Mechanismus« geschaffen habe, der die Flüchtlinge anziehe, betonte der PiS-Vorsitzende. »Ergo ist das sein Problem, nicht unseres.«

Kaczyński nutzte seine von solchen Invektiven gespickte Rede für die Schärfung des ideologischen Profils seines nationalkonservativen Lagers. Geht es ihm um die Schaffung einer neuen Endecja nach dem Vorbild der gleichnamigen national-radikalen Bewegung der Zwischenkriegszeit, die Polen mit ihrem Provinzialismus an den Rand Europas gebracht hatte, mit einem krankhaften Patriotismus, der alles vermeintlich Polenfeindliche ausschalten wollte?

Wenig Erfahrung mit Ausländern

Als Person ist Kaczyński das beste Beispiel dafür, dass Polen kaum Erfahrungen mit Ausländern hat und dass viele Menschen jedwede Andersartigkeit als Bedrohung und Gefahr für ihre polnisch-katholische Identität und Sicherheit empfinden. Demgegenüber haben Länder wie Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Schweden in den letzten Jahrzehnten reichhaltige Erfahrungen mit kultureller Andersartigkeit gesammelt.

Der Politikwissenschaftler Aleksander Smolar schrieb in einem Beitrag für die »Gazeta Wyborcza«: »Bis 1989 war unsere Gesellschaft nach außen hin regelrecht abgeriegelt und auch danach kam sie nicht mit bedeutenden Migrationsbewegungen aus entfernten Ländern in Berührung. Bis vor kurzem waren Menschen anderer Hautfarbe und mit asiatisch geprägten Augen sogar auf Warschaus Straßen eine Sensation und provozierten aufdringliche Blicke. In einer Situation, in der es immer wieder zu terroristischen Anschlägen […] seitens apokalyptischer islamistischer Sekten kommt, ruft das nicht gekannte Fremde hysterische Reaktionen hervor. Nationale Homogenität vermittelt ein Gefühl der Sicherheit, auch wenn diese in der gegenwärtigen, dynamischen und globalisierten Welt eigentlich nicht aufrechterhalten werden kann.«

Es bleibt noch, auf die soziale Frage zu verweisen. Viele Menschen in Polen, die eher zu den Verlierern der neuen marktwirtschaftlichen Zeiten gehören, begegnen der Aufnahme von Flüchtlingen mit Sozialneid. Da es ihnen selbst eher schlecht geht, sehen sie nicht ein, dass man Flüchtlingen, selbst wenn ihr Schicksal noch härter ist, helfen soll.

Kaczyński, so scheint es jedenfalls, hat sein Vehikel gefunden, mit dem er unbedingt die Wahl am 25. Oktober gewinnen will. Die Begleitmusik zu seinen Äußerungen lieferte unter anderem die PiS-Kandidatin für das Amt der Regierungschefin, Beata Szydło, die in einem Radio-Interview erklärte, Deutschland wolle mit seinem Vorgehen Europa erpressen. Der Vorsitzende der PiS-Fraktion im Sejm, Mariusz Błaszczak, wiederum erklärte, Polen habe nie Kolonien besessen und deshalb auch keine Verpflichtungen gegenüber Einwanderern. Und der frühere PiS-Abgeordnete und jetzige Parlamentskandidat der Bürgerplattform Ludwik Dorn nannte Viktor Orbán den »einzigen wahren Europäer«. Publizistische Unterstützung für PiS liefern immer auch Zeitungen und Zeitschriften wie etwa »Do Rzeczy« und »Wprost«.

»Schisma in der polnischen Kirche«

Die anderen Parteien wie der Regierungspartner Polnische Bauernpartei (Polskie Stronnictwo Ludowe – PSL) und das oppositionelle Linksbündnis mit der Demokratischen Linksallianz (Sojusz Lewicy Demokratycznej – SLD) an der Spitze behandelten die Flüchtlingskrise eher wie eine heiße Kartoffel, die man besser nicht anfassen sollte. Ihre Erklärungen in der Sejm-Debatte und in der Öffentlichkeit blieben vage. Sprecher wie Stanisław Żelichowski (PSL) und Tadeusz Iwiński (SLD) betonten zwar, dass Polen Flüchtlinge aufnehmen müsse, machten aber keine genaueren Angaben zu Zahlen und Begleitumständen. Ein parteiübergreifendes Gespräch über die Flüchtlingskrise und die Aufgaben Polens, das Ministerpräsidentin Kopacz vorgeschlagen hatte, lehnten PiS, PSL und SLD ab. Die Regierungschefin hatte dafür mit der Bemerkung geworben, die Flüchtlingskrise sei eben nicht ein Problem der Regierung, sondern aller politischen Kräfte und der ganzen Gesellschaft.

Ähnlich wie Gesellschaft und Politik ist auch die katholische Kirche Polens in der Flüchtlingsfrage tief gespalten. Die »Gazeta Wyborcza« konstatierte sogar ein »Schisma in der polnischen Kirche«. So veröffentlichte das Präsidium der Polnischen Bischofskonferenz eine Erklärung, in der zur Hilfe für die Flüchtlinge aufgerufen wird. Der Text beginnt mit der Bitte, für den Frieden in der Welt und für alle Flüchtlinge zu beten, die ihr Vaterland verlassen hätten, um ihr Leben und das ihrer Kinder zu retten. Ohne einen Adressaten zu benennen, plädieren die Bischöfe für weitergehendes Handeln zur Beseitigung der Ursachen von Krieg und Elend. Gleichzeitig erinnern sie daran, dass vor allem »die weltliche Macht«, also der Staat, für die Flüchtlinge verantwortlich sei. Von katholischer Seite sei insbesondere die Caritas angesprochen, die mit den staatlichen Stellen kooperieren solle.

Zusätzlich erklärte der Primas der katholischen Kirche, Wojciech Polak, man solle allen Flüchtlingen unabhängig von ihrer Religion helfen. Erzbischof Stanisław Gądecki, Vorsitzender der Polnischen Bischofskonferenz, rief alle Pfarreien dazu auf, sich auf Flüchtlinge vorzubereiten, und der Vorsitzende des Rates der Bischofskonferenz für Migration, Pilgerschaft und Tourismus, Bischof Krzysztof Zadarko, stellte fest, selbst die Aufnahme von 30.000 Flüchtlingen wäre kein Problem für Polen.

Das ist die eine Seite. Die andere besteht darin, dass es viele katholische Priester und Pfarrer gibt, die sich ablehnend oder gar hasserfüllt über Flüchtlinge äußern – nicht selten von der Kanzel. Muslime sind für sie Barbaren, die morden und vergewaltigen, die Städte demolieren und das Kreuz schänden. Diese Kleriker scheuen auch nicht davor zurück, die freundliche und hilfsbereite Haltung des Papstes und der polnischen Bischöfe gegenüber den Flüchtlingen öffentlich zu kritisieren.

Jenseits der »großen Politik« und der Kirche äußern sich an vielen Stellen in der Gesellschaft immer wieder Solidarität und Hilfsbereitschaft gegenüber den Flüchtlingen. Das gilt zum Beispiel für Beamte bzw. Abgeordnete auf lokaler und regionaler Ebene ebenso wie für Nichtregierungsorganisationen. So lud der Stadtpräsident (Oberbürgermeister) von Stolp (Słupsk), Robert Biedroń, Flüchtlinge ein, ihre Kinder in die Schulen der Stadt und der ganzen Region zu bringen. Wie die Behörden seiner Stadt seien auch die in anderen Städten und Gemeinden in der Lage, Flüchtlinge aufzunehmen. Intellektuelle und Politiker aus Ostmitteleuropa, darunter die früheren polnischen Staatspräsidenten Aleksander Kwaśniewski und Bronisław Komorowski, appellierten an die Regierungen und Gesellschaften, den Flüchtlingen zu helfen. Der Warschauer Politologe Radosław Markowski verwies darauf, dass Solidarität mit den Flüchtlingen auch etwas mit Eigennutz zu tun haben könne, in dem Sinne, dass Polen durchaus zusätzliche gute Fachkräfte wie etwa Ärzte, Ingenieure und Übersetzer gebrauchen könne (siehe auch den polnischen Beitrag zur Diskussion von Zbigniew Bujak in dieser Ausgabe – d. Red.).

Historische Hintergründe der Angst vor Fremdheit

Europaweit Beachtung fand die Tatsache, dass Polen bei dem Sondergipfel der EU-Innenminister am 22. September den Mehrheitsbeschluss zur Verteilung von 120.000 Flüchtlingen mittrug, während die Tschechische Republik, die Slowakei, Ungarn und Rumänien dagegen votierten. Das Einlenken Warschaus hatte sich schon abgezeichnet, nachdem Ministerpräsidentin Ewa Kopacz am Sonntag zuvor im öffentlich-rechtlichen polnischen Fernsehen erklärt hatte, Polen sei ein Teil Europas und müsse in der Flüchtlingskrise solidarisch sein.

Während dieses Abstimmungsverhalten in den anderen Visegrád-Staaten (Slowakei, Ungarn, Tschechische Republik) auf scharfe öffentliche Kritik stieß, wurde die polnische Regierung im Westen überwiegend gelobt. So sagte der Generalsekretär des Europarates, Thorbjørn Jagland, die Regierung von Frau Kopacz habe sich verantwortungsvoll gezeigt. Polen könne in der Flüchtlingsfrage eine Brückenfunktion zwischen dem Osten und dem Westen einnehmen. In Polen warf die PiS-Spitzenkandidatin Szydło der Regierung vor, in Brüssel die Visegrád-Gruppe betrogen zu haben, und der PiS-Abgeordnete Witold Waszczykowski sagte, die Regierung habe die Einheit der Visegrád-Gruppe deshalb perfide durchbrochen, weil sie wisse, dass die regionale Zusammenarbeit für Präsident Andrzej Duda Priorität genieße. Beide vergaßen geflissentlich zu erwähnen, dass diese Gruppe schon lange ein kümmerliches Schattendasein fristet und ihre Mitglieder wiederholt europapolitische Alleingänge unternahmen. Hinzu kommt, dass sie auch gegenüber Russland alles andere als einheitlich handelt.

Das Verhalten der polnischen Regierung in Brüssel zeigte einmal mehr, dass die im Westen und gerade auch in Deutschland vielfach geäußerte Kritik an Polens vermeintlich mangelnder europäischer Solidarität in der Flüchtlingskrise voreilig und überzogen bzw. undifferenziert war.

Hinter dieser Kritik stand vielfach die Unkenntnis über die Beweggründe mancher Teile der polnischen Gesellschaft. Ganz entscheidend ist dabei die enorme Gewalterfahrung im 20. Jahrhundert, das Wissen um die Bedrohung für das eigene Staatswesen. Die entfesselte Gewalt im Zweiten Weltkrieg mit Holocaust, Umsiedlungen und Vertreibungen sowie die Politik der kommunistischen Machthaber ab 1945 haben Polen ethnisch homogenisiert. Außerdem waren der nationale Zusammenhalt und ein entsprechendes kulturelles Selbstverständnis immer auch entscheidend für den erfolgreichen Widerstand gegen die Sowjetmacht.

So ist die Flüchtlingskrise auch für Polen eine Stunde der Wahrheit. Bestimmte Bewusstseinsstrukturen und weltanschauliche Auffassungen in Gesellschaft und Politik treten nun deutlicher hervor, als dies bisher der Fall war. In der polnischen Diskussion wird auch immer wieder darauf hingewiesen, dass bei aller Wahrung nationaler und kultureller Traditionen Polen die Flüchtlingskrise auch als Chance begreifen sollte, die Schaffung einer weltoffenen und aufgeklärteren Gesellschaft voranzutreiben.

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Von Kai-Olaf Lang
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Zum Artikel auf zeitschrift-osteuropa.de

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