Die polnische Linke zwischen Aufbruch und Dauerkrise

Von Stefan Garsztecki (Technische Universität Chemnitz)

Zusammenfassung
Auch wenn Polen im Gegensatz zu anderen ostmitteleuropäischen Nachbarländern wie Ungarn oder die Slowakei bis dato relativ gut durch die Finanzkrise gekommen ist, verwundert es dennoch, dass seit der Abwahl der polnischen Linken im Jahr 2005 bis heute keine Linkspartei eine große Rolle im politischen Leben des Landes spielt. Die Demokratische Linksallianz (Sojusz Lewicy Demokratycznej – SLD), eine direkte Nachfolgepartei der bis 1989 regierenden Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (Polska Zjednoczona Partia Robotnicza – PZPR) konnte nach 1989 zweimal für jeweils eine Wahlperiode von 1993–1997 und von 2001–2005 als stärkste Partei nach den Wahlen die Regierung stellen, aber nach 2005 gelang es ihr nicht mehr, in die Konkurrenz zwischen der regierenden Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO) um Ministerpräsident Donald Tusk und der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) um ihren Parteichef Jarosław Kaczyński einzugreifen. Dabei geht auch in Polen die soziale Schere auseinander und sind die Arbeitsbedingungen und Arbeitsverhältnisse zum Teil als sehr problematisch zu bezeichnen. Zudem sollte doch angesichts der Dominanz der liberal- bzw. nationalkonservativen Parteien PO und PiS und der wie auch in anderen westlichen Gesellschaften geführten Debatten um die Stellung der Frau, um Abtreibung, gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft oder die Rolle der Kirche im öffentlichen Bereich eine parteipolitische Alternative für einen Teil der Wähler attraktiv sein. Schließlich schien auch der mit viel nationalem Pathos geführte öffentliche Diskurs nach der Katastrophe von Smolensk (April 2010) für die polnische Linke eine Vorlage für Präsidentschafts- und Parlamentswahlen gewesen zu sein. Die Ergebnisse und auch aktuelle Umfragen können dies bis heute nicht bestätigen.

Die Geschichte der SLD war lange Zeit eine Erfolgsstory. 1990 wurde sie als Wahlbündnis von etwa dreißig verschiedenen Gruppierungen gegründet, darunter auch der Sozialdemokratie der Republik Polen (Socjaldemokracja Rzeczypospolitej Polskiej – SdRP), der eigentlichen Nachfolgepartei der bis 1989 herrschenden PZPR. Auch die Umgestaltung der SLD in eine homogene Partei im Jahr 1999 schien den Erfolg weiter zu befördern. Obwohl etliche ihrer Spitzenleute wie der erste Vorsitzende ab 1999, Leszek Miller, oder Aleksander Kwaśniewski, der von 1995–2005 für zwei Amtszeiten ein sehr populärer Staatspräsident war, bereits in der Endphase der Volksrepublik Polen in höchste Staats- und Parteiämter aufgestiegen waren, tat dies ihrer Popularität keinen Abbruch. Beginnend mit den ersten vollständig freien Wahlen im Herbst 1991 legte die SLD von 12 % Stimmenanteil in jenem Jahr bei allen folgenden Wahlgängen zu – bis hin zu seinem Spitzenergebnis von 41 % im Jahr 2001. Sie stellte in dieser Zeit drei Mal den Ministerpräsidenten des Landes mit Józef Oleksy (3/95–01/96), Włodzimierz Cimoszewicz (02/96–10/1997) und Leszek Miller (10/2001–05/2004), ohne dass einem von ihnen aus unterschiedlichen Gründen eine volle Amtszeit beschieden gewesen wäre, zeichnete für zwei Wahlperioden (1993–1997 und 2001–2005) politisch für die Regierung verantwortlich und stellte für zehn Jahre mit dem damaligen Präsidenten Kwaśniewski auch den populärsten Politiker des Landes aus den eigenen Reihen. Seit der Abwahl im Herbst 2005, als die SLD nur noch auf 11,3 % der Stimmen bei den Wahlen zum Sejm kam, konnte die SLD auch in den folgenden Parlamentswahlen in den Jahren 2007 (13,15 %) und 2011 (8,2 %) nicht mehr an alte Erfolge anknüpfen, und auch die im März dieses Jahres vom angesehen Meinungsforschungsinstitut CBOS (Centrum Badania Opinii Społecznej – Zentrum zur Erforschung der öffentlichen Meinung) ermittelten 10 % stellen keine dramatische Verbesserung dar.

Die Geschichte eines Absturzes

Die Gründe für diesen Niedergang sind vielfältig. Hier sind erstens sicherlich einige Korruptionsaffären in den Reihen der SLD-Regierung in den Jahren 2001–2004/05 anzuführen, die gemeinsam mit der schlechten wirtschaftlichen Situation und einer hohen Arbeitslosigkeit das Vertrauen in die Regierung erschütterten. Zweitens müssen auch die personellen Querelen in der SLD genannt werden. Bevor Ende Mai 2005 der damals erst 31-jährige Wojciech Olejniczak die Führung der SLD übernahm, waren mit Leszek Miller (4/1999–3/2004), Krzysztof Janik (3/2004–12/2004) und Józef Oleksy (12/2004–5/2005) in etwas mehr als einem Jahr drei Vorsitzende abgelöst worden. Damit aber nicht genug. Olejniczak verlor auf einem Parteitag Ende Mai 2008 die Kampfabstimmung gegen den gleichaltrigen Grzegorz Napieralski, der sich zwar solide in den Präsidentschaftswahlen des Jahres 2010 mit 13,68 % schlug, aber im Herbst 2011 nach dem schlechtesten Wahlergebnis der Partei bei Parlamentswahlen seinen Hut nehmen musste und im Dezember 2011 vom bis heute amtierenden fast 67-jährigen Leszek Miller abgelöst wurde, ein Comeback, das einige Jahre zuvor noch als sehr unwahrscheinlich gegolten hätte. Nachdem Miller bei den Parlamentswahlen im Jahr 2007 nicht mehr für die SLD von der Parteiführung nominiert worden war, trat er aus der Partei aus, schloss sich kurzfristig und erfolglos der populistischen Selbstverteidigung (Samoobrona) auf deren Liste an, bevor er im Jahr 2008 die neue Partei Polens Linke (Polska Lewica – PL) gründete und gleich deren Vorsitz übernahm. Im Jahr 2010 erfolgte dann die Rückkehr zur SLD, im darauf folgenden Jahr die Rückkehr in den Sejm und im Dezember des gleichen Jahres der erneute Vorsitz! Unberührt davon gehört Leszek Miller nach wie vor zu den beliebtesten Politikern des Landes. Nach dem populären polnischen Präsidenten Bronisław Komorowski (aus den Reihen der PO), dem erst vor kurzem aus dem SLD hinausgeworfenen Politiker Ryszard Kalisz und Außenminister Radosław Sikorski (PO) ist er der viertpopulärste Politiker des Landes und lässt dabei seine Partei weit hinter sich, die gerade einmal bei zehn Prozent liegt. In einer nach wie vor konservativen Gesellschaft wie der polnischen scheint der erfahrene und seit einem Vierteljahrhundert bekannte Miller die jungen, blassen Nachwuchspolitiker der SLD in den Augen der Bevölkerung klar auszustechen, ohne allerdings programmatisch neue Wählerschichten zu überzeugen und die SLD in Umfragen dauerhaft über die 10 % heben zu können.

Ein dritter Punkt ist wohl die jahrelange programmatische Schwäche der SLD, auf die noch gesondert einzugehen sein wird. Dominant schien lange Jahre der Machterhalt bzw. die Machteroberung, und auch die Einstellung zur vor allem ökonomischen Transformation rief immer wieder Kritik von anderen linken Gruppierungen hervor, da Spitzenpolitiker der SLD von Privatisierungsprozessen zu Beginn der 1990er Jahre als Teil der alten Elite profitiert hatten. Im Übrigen war dies ein Modell, wie der im letzten Jahr verstorbene polnische Ökonom Tadeusz Kowalik ausgeführt hat, das alle neuen Eliten betraf und nicht nur die Postkommunisten.

Schließlich trugen die Korruptionsaffären und die sinkende Unterstützung für die SLD am Ende der Parlamentsperiode 2001–2005 dazu bei, dass es heftige interne Auseinandersetzungen mit den bereits angeführten häufigen Führungswechseln und auch die Abspaltung einer größeren Gruppe von Abgeordneten gab. Als der damalige Sejmmarschall Marek Borowski mit anderen Parteimitgliedern in seinem Bestreben nach Erneuerung der Partei nicht auf offene Ohren stieß und die Mehrheit der Führungsriege offenbar einen langsameren Reformkurs anstrebte, gründete er im März 2004 gemeinsam mit anderen Politikern der SLD wie auch des linken Milieus die Polnische Sozialdemokratie (Socjaldemokracja Polska – SdPl). Im Gründungsdokument wurde auf die damals schlechten Umfragewerte der SLD hingewiesen sowie darauf, dass Machteroberung für die SLD Priorität habe.

Auch die zwischen September 2006 und April 2008 funktionierende Koalition Linke und Demokraten (Lewica i Demokraci – LiD), zu der neben der SLD und der SdPl noch die Arbeitsunion (Unia Pracy – UP) und die Demokratische Partei (Partia Demokratyczna – PD) gehörten, trug zur weiteren Zersplitterung der sozialdemokratischen und linksliberalen Kräfte in Polen bei, ohne dass jenseits der SLD einer dieser Gruppierungen ein dauerhafter Wahlerfolg beschieden war. Die UP war 1992 aus kleineren linken Parteien heraus entstanden, während die PD im Jahr 2005 aus den Resten der Freiheitsunion (Unia Wolności – UW), dem intellektuellen Milieu der ehemaligen Gewerkschaft Solidarność, hervorgegangen war. Nach Austritt der PD und angesichts des bescheidenen Wahlerfolges mit 13,15 % bei den Parlamentswahlen von 2007 hörte diese Koalition linker Parteien 2008 auf zu existieren.

Die Zersplitterung und die Schwäche der linken Parteien sind aber weiterhin ebenso aktuell wie die Frage einer programmatischen Erneuerung und neuer Führungsfiguren, die neue Wählerschichten erschließen könnten.

Programmatische Erneuerung?

Natürlich ist zunächst einmal zu fragen, was es in Polen überhaupt bedeutet, politisch »links« zu sein. Über diese Frage wird mit Fug und Recht auch in Deutschland gestritten, während politikwissenschaftliche Nachschlagewerke es vermeiden, hier einen Definitionsversuch vorzunehmen. Ganz allgemein könnte man heute das Eintreten für die gesellschaftlich Unterprivilegierten, das Recht auf Arbeit, Forderungen nach gesellschaftlicher Umverteilung und egalitäre Grundpositionen sowie eine stärkere Rolle des Staates als links bezeichnen, wobei sich in der ideologischen Rechtfertigung bei der Geschichte der Arbeiterbewegung und ganz allgemein der Aufklärung bedient wird. In Polen ist hingegen ein Definitionsversuch ungleich schwieriger, da der Systemwechsel ja auf grundlegender Einigkeit der politischen Kräfte über demokratische und ökonomische Reformen beruhte und die Anfang der 1990er Jahre durchgeführte Schocktherapie eines Leszek Balcerowicz sowie die Privatisierungspolitik auch von der SLD in Regierungsverantwortung fortgeführt wurde. Dennoch lassen sich unterschiedliche Merkmale der Linken wie der Rechten in Polen ausmachen, wenn sich auch hinter beiden Begriffen eine breite Palette unterschiedlicher Gruppierungen aufzählen lässt.

Auch in Polen kann man unter links nach Selbst­deklarationen unterschiedlicher Gruppierungen den Einsatz für sozial und gesellschaftlich Schwächere, eine starke Rolle des Staates, das Eintreten für eine strikte Trennung von Staat und Kirche und einen fürsorglichen Staat (Wohlfahrtsstaat) verstehen, der zudem demokratisch und in der Außenpolitik proeuropäisch ausgerichtet ist, wie Tomasz Godlewski in einer umfangreichen Untersuchung herausgearbeitet hat. Auch die in gewissen Abständen von CBOS durchgeführten Untersuchungen, auf die Godlewski in seiner Untersuchung zurückgreift, belegen in der Wahrnehmung der Bevölkerung durchaus unterschiedliche Wertekataloge für links und rechts. Mit links werden danach vor allem die Sorge um den Bürger, also soziale Fragen und soziale Gerechtigkeit, aber – im Jahr 2000 – auch noch die Verbindung mit der alten Ordnung verknüpft, während mit rechts als Spitzenwerte Nation und Katholizismus bzw. als zweiter Wert Kapitalismus assoziiert wurden. Die Auseinandersetzungen um Geschichtspolitik in Polen in den letzten zirka zehn Jahren, um das »richtige« Erinnern an den Zweiten Weltkrieg, an den Holocaust, an Katyn, die Diskussionen um den Platz von Religion im öffentlichen Raum, deutlich geworden in jüngster Zeit anhand des Diskurses über die Flugzeugkatastrophe von Smolensk im April 2010, all das hat die Unterschiede zwischen Links und Rechts deutlicher gemacht. Allerdings haben nationale, geschichtspolitische Themen und auch die innenpolitischen Auseinandersetzungen um die Flugzeugkatastrophe von Smolensk und deren angemessene Aufarbeitung in den letzten Jahren die innenpolitische Auseinandersetzung dominiert – sicherlich zum Nachteil der Linken, die hierbei kaum präsent war.

Unabhängig davon hat die SLD in den letzten Jahren versucht, sich programmatisch neu aufzustellen. Dabei sind insgesamt drei Initiativen auszumachen. Hier ist zunächst das im Januar 2011 von Janusz Reykowski und anderen Autoren vorgestellte Buch »Projekt dla Polski. Perspektywa lewicowa« (Projekt für Polen. Eine linke Perspektive) anzuführen. Prominente Autoren aus der SLD bzw. deren Umfeld versuchen in diesem programmatischen Buch nach Angaben des Herausgebers Reykowski, parteipolitische, soziale und weltanschauliche Fragen miteinander zu verknüpfen und Wege zur Verbesserung des demokratischen Kapitalismus aufzuzeigen. In Bezug auf die Parteipolitik gilt es danach, die Wahlchancen der Linken zu verbessern. Dazu gehört auch, dass sich die SLD mehr und mehr als Einigungsfaktor linker sozialer Bewegungen – genannt werden ökologische, antimilitaristische und antiglobalistische Gruppierungen – verstehen möchte. Dieses Buch und seine Überlegungen wurden von den Autoren in verschiedenen Städten Polens präsentiert und diskutiert, wie die Vierteljahreszeitschrift »Myśl Socjaldemokratyczna« (Sozialdemokratischer Gedanke), die seit 1991 erscheint und für die SLD ein wichtiges Diskussionsorgan ist, berichtet. Allerdings wird in den Beiträgen dieser Zeitschrift und auch in den Diskussionen über das »Projekt für Polen« einmal mehr die Debatte über die Bewertung der Volksrepublik Polen geführt, über ihre Fehler und Errungenschaften. Hier sind die Reaktionen, soweit es aus den Berichten der Autorentreffen hervorgeht, gespalten. Schließlich gibt es auch Stimmen in dieser Debatte, die der SLD vorwerfen, für die Einführung der herrschenden liberalen Doktrin und die Auswüchse des Kapitalismus mit verantwortlich zu sein.

Neben diesen Auseinandersetzungen innerhalb der SLD scheint das »Projekt für Polen« aber auch potentiell ein Akzeptanzproblem zu haben. Erstens waren einige der Autoren der Veröffentlichung wie Jerzy Wiatr oder Janusz Reykowski bis zum Ende der Volksrepublik Polen eng mit diesem System verbunden. Zweitens gehören mit Ausnahme von Andrzej Romanowski alle Autoren – u. a. noch Andrzej Mencwel und Zdzisław Sadowski – der Generation 70+ an, sind zum Teil deutlich über 80 und dürften damit über die Rolle des Stichwortgebers nicht hinauskommen. Es fehlen sowohl die Verbindung in das Milieu linker und alternativer Gruppierungen wie auch der Politiker, der diese Ideen zündend aufgreifen könnte. Die bekannte polnische Frauenrechtlerin und Feministin Magdalena Środa hatte denn auch kritisiert, dass sie zur Buchpremiere und Diskussionsrunde mit den Autoren im März 2011 in Warschau nicht eingeladen worden war. Dass zudem keine Autorin an dem Bericht beteiligt war, ist ein weiterer Mangel.

Das »Projekt für Polen« knüpft an vorherige Versuche an, die verschiedenen linken Milieus zu einigen und die SLD weiter für Menschen mit anderen politischen Biographien, die nicht mit der Volksrepublik Polen und der dort herrschenden PZPR verbunden waren, zu öffnen. Der Versuch des damaligen Präsidenten Aleksander Kwaśniewski, eine erfolgreiche neue linksliberale oder sozialdemokratische Partei zu schaffen, war weder mit der PD noch mit der Polnischen Sozialdemokratie unter Marek Borowski erfolgreich. Auch hinter dem »Projekt für Polen« steht letztlich Kwaśniewski, der das Zentrum für Politische Analysen (Centrum Politycznych Analiz), das dieses Projekt unter der Leitung von Reykowski durchgeführt hat, initiierte. Neben dem schwachen Abschneiden der SLD in Wahlen und den ideologischen und personellen Auseinandersetzungen bei der Linken dürfte der ehemalige Präsident dabei auch von eigenen Ambitionen und dem Wunsch nach einem politischen Comeback angetrieben worden sein.

Neben dem »Projekt für Polen« muss das aktuelle Programm der SLD aus dem Jahr 2011 »Jutro bez obaw. Program dla Polski« (Das Morgen ohne Ängste. Programm für Polen) genannt werden. Hier wird der Versuch unternommen, eine linke Identität zu definieren, wobei man sich auf die Schlagworte der französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit bezieht. Zugleich stellt man sich in die Traditionen der polnischen und der europäischen Linken. Angeknüpft wird dabei nicht an die Volksrepublik Polen, sondern an Größen der polnischen sozialistischen Bewegung vom Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts und der II. Polnischen Republik der Zwischenkriegszeit wie Bolesław Limanowski, Ignacy Daszyński, Adam Ciołkosz oder Stanisław Brzozowski, die, wie z. B. der Philosoph und Schriftsteller Brzozowski, noch heute zum Kanon intellektueller Linker gehören. Ansonsten versucht das umfangreiche Programmdokument in den Abschnitten Staat, Gesellschaft und Wirtschaft Antworten auf die Herausforderungen der späten Moderne zu finden.

Insgesamt ist das Programm der SLD deutlich stärker auf den Wahlerfolg zugeschnitten. Im »Projekt für Polen« wurde noch intensiv der Frage der Identität der Linken nachgespürt, was im SLD-Dokument keine Rolle spielt. Jerzy Wiatr, der im »Projekt für Polen« für den Abschnitt zur Identität der Linken verantwortlich zeichnete, nannte in einer Diskussionsrunde über das »Projekt für Polen« vier grundlegende Werte für die Linke, auf die man sich einstimmig geeinigt habe: Freiheit, Gerechtigkeit, Patriotismus und internationale Solidarität. Keines dieser Schlagworte taucht im SLD-Programm auf.

Schließlich muss noch ein dritter programmatischer Ansatz genannt werden, der von der SLD und Teilen des linken, SLD-nahen Milieus verfolgt wird, und zwar der für Juni 2013 geplante Programmkongress der Linken. In einem Beschluss des Landesvorstandes der SLD vom April 2013 wird darauf hingewiesen, dass dies im 21. Jahrhundert der erste Kongress sein werde, der unterschiedliche Strömungen der polnischen Linken zusammenführen werde. Allerdings gibt es bereits Streit über die Einladungen und die anwesenden Personen. Weil auch General Wojciech Jaruzelski eingeladen ist, hat Piotr Duda, der Chef der Gewerkschaft Solidarność, seine Teilnahme bereits abgesagt. Leszek Miller, Chef der SLD, sieht auf dem Kongress keinen Platz für Janusz Palikot, der mit seiner linksliberalen Bewegung bei den letzten Sejm-Wahlen im Jahr 2011 mit klaren Aussagen gegen die Kirche und etlichen provokativen und unkonventionellen Auftritten 10,1 % der Stimmen erhielt. Aleksander Kwaśniewski möchte ihn hingegen gern dabei haben, da er seit langem die Idee einer breiten linken Plattform, die nicht zwingend unter SLD-Führung organisiert sein muss, verfolgt. Von einer Einigung scheint das linke Milieu noch ein Stück entfernt zu sein.

»Europa Plus« und die SLD

Der jüngste Versuch, die zerstrittene polnische Linke zu einigen und die Wahlchancen für eine linksliberale Gruppierung links von der PO zu vergrößern, wurde im Februar 2013 erneut von Aleksander Kwaśniewski mit der Initiative »Europa Plus« unternommen. Vom Namen her knüpft diese Gruppierung an europäische Fragen an, und es war von Beginn an ein erklärtes Ziel, mit einer eigenen Liste zu den Europawahlen im kommenden Jahr anzutreten. Inhaltlich wird in der auf der Homepage veröffentlichten programmatischen Erklärung – ein richtiges Programm gibt es noch nicht – zu einer weiteren Integration Europas aufgerufen. Ziel müsse eine neue, föderale Union sein, da die alte EU, der Polen beigetreten ist, nicht mehr existiere. Für Polen bedeute das, möglichst schnell der Euro-Zone beizutreten, sich für institutionelle Veränderungen der EU stark zu machen und eine aktive Politik in Bereichen wie einer gemeinsamen Energiepolitik oder bei der Entwicklung neuer Technologien zu verfolgen.

Vorgestellt wurde die Initiative im Februar 2013 neben Kwaśniewski noch von Janusz Palikot und Marek Siwiec. Palikot ist mit seiner Bewegung in Umfragen schon seit längerem deutlich unter den bei den letzten Sejmwahlen erzielten 10,1 % und sucht neue Bündnispartner. Als ehemaliges PO-Mitglied ist er dort nicht zuletzt auch aufgrund seiner akzentuierten antiklerikalen Äußerungen ein rotes Tuch, bringt aber in die Allianz mit Kwaśniewski und linken Gruppierungen eben genau diese klaren Aussagen und den Erfolg vor allem bei jüngeren Wählern mit ein. Siwiec ist als ehemaliger SLD-Politiker, der dem Präsidenten Kwaśniewski in unterschiedlichen Funktionen diente und der auch die Präsidentschaftskampagne des für die SLD startenden Włodzimierz Cimoszewicz im Jahr 2005 leitete, noch bestens in der SLD vernetzt. Im Dezember 2012 verließ er die SLD und schloss sich der Palikot-Bewegung (Ruch Palikota) an. Die engen Verbindungen zur SLD wurden auch dadurch betont, dass auch Ryszard Kalisz, zum damaligen Zeitpunkt noch SLD-Politiker und einer der populärsten Politiker des Landes, seine Unterstützung für »Europa Plus« ausdrückte. Nachdem er gegen Miller im Dezember 2011 die Wahl zum Vorsitzenden der SLD verloren hatte, gehörte er dem Präsidium der SLD an. Aufgrund seiner Unterstützung für die Initiative »Europa Plus« wurden zunächst seine Mitgliedsrechte in der SLD im März 2013 ausgesetzt, bevor er Anfang April dann aus der Partei ausgeschlossen wurde.

Die Nervosität der SLD und wohl insbesondere von Leszek Miller sind offensichtlich. Nach Aussagen führender Personen von »Europa Plus« ist es natürlich das Ziel, eine Partei zu schaffen, die mit ihrem linksliberalen, proeuropäischen Profil sowohl auf die Wähler der PO wie auch die der SLD abzielt. Zudem ist ja die SLD seinerseits bemüht, sich mehr und mehr als Dachorganisation und Kristallisationspunkt unterschiedlicher linker Parteien und Strömungen zu präsentieren, wie der für Juni einberufene Programmkongress belegt. Hinzu kommt noch eine persönliche Konkurrenz beider Politiker, von denen der eine, Miller, stets der Mann des Apparates war, der nicht zuletzt deshalb innerhalb der Partei populär ist, und der andere, Kwaśniewski, schon seit langem das enge Korsett der Parteidisziplin abgestreift hat. Miller lehnte in einem Interview denn auch mit scharfen Worten jegliche Verbindung mit der Palikot-Bewegung und »Europa Plus« ab und verwies auf das Programmstatut der SLD und einen jüngsten Beschluss des Landesvorstandes der SLD vom April 2013, der ein Engagement von SLD-Mitgliedern im Projekt »Europa Plus« ausdrücklich ausschließt.

Neben diesen persönlichen Animositäten und der Konkurrenzsituation zwischen SLD und »Europa Plus« hat diese Initiative aber noch zwei andere Geburtsfehler, die nur zum Teil zu beheben sind.

Da ist zum einen die Person von Janusz Palikot selbst. Zwar zieht er durch sein unkonventionelles Auftreten und seine drastische, zum Teil vulgäre Sprache an die Adresse von PiS und hier insbesondere auch Jarosław Kaczyński Wähler an, aber nach Umfragen von CBOS wird in Polen keinem Politiker mit so viel Misstrauen begegnet wie ihm.

Zum anderen ist es fraglich, ob »Europa Plus« als Partei erfolgreich sein kann. Die Distanz zu alternativen linken Milieus, zu Globalisierungsgegnern, linken Intellektuellen und feministischen Gruppierungen scheint zu groß, die programmatischen Aussagen momentan noch zu eng gestrickt. In vielen linken Strömungen und Publikationen wie z. B. der Zeitschrift »Krytyka Polityczna« (Politische Kritik) ist man in weltanschaulichen und gesellschaftlichen Fragen viel progressiver und zugleich theoretisch anspruchsvoller, und auch feministische Gruppierungen dürften sich mit der Initiative schwer tun. Zwar ist Ryszard Kalisz von Kwaśniewski als Verbindungsperson zu feministischen Milieus angegeben worden, aber der Praxistest steht da noch aus. Wanda Nowicka, stellvertretende Sejmmarschallin und Vorsitzende des Verbands für Frauenrechte und Familienplanung (Federacja na rzecz Kobiet i Planowania Rodziny) wurde im Februar von der Palikot-Bewegung ausgeschlossen und auch der im Juni 2009 entstandene Kongress der Frauen (Kongres Kobiet) dürfte zu selbstbewusst und unabhängig sein, um sich vor den parteipolitischen Karren spannen zu lassen, obgleich die Bewegung eine Reihe von Frauen in ihr Personaltableau integriert.

Dem gegenüber scheint die SLD eher in der Lage zu sein, auch andere linke Milieus zu integrieren, da sie programmatisch mittlerweile breiter aufgestellt ist. Um auch an der Wahlurne in Zukunft Erfolg zu haben, muss sie erstens stärker als bisher neue linke Milieus und Bewegungen ansprechen, womöglich integrieren, wie z. B. die Frauenbewegung oder Globalisierungsgegner. Zweitens muss sie sich personell für die Zeit nach Leszek Miller erneuern. Zwei junge Vorsitzende sind mit Olejniczak und Napieralski in kurzer Zeit verbrannt worden und eine nachwachsende Generation ist momentan nicht in Sicht. Drittens sollten die Auseinandersetzungen über eine Bewertung der Volksrepublik Polen den Historikern überlassen werden, bei gleichzeitiger Anknüpfung an ältere sozialistische Traditionen, so wie es das Programm der SLD praktiziert. Mit Menschen, die vor allem im alten System verwurzelt sind, und ohne gut ausgebildete junge Menschen aus den urbanen Zentren des Landes wird die SLD auch in Zukunft weder Wahlen gewinnen noch als Koalitionspartner in Frage kommen.

Zum Weiterlesen

Artikel

Zweieiige Zwillinge. PiS und Fidesz: Genotyp und Phänotyp

Von Kai-Olaf Lang
Die regierenden Parteien in Polen und Ungarn haben vieles gemeinsam. Beide streben einen neotraditionalistischen Umbau von Staat und Gesellschaft an. Demokratie verstehen sie als Mehrheitsherrschaft, das Mandat, das sie vom Volk an den Wahlurnen erhalten haben, soll nicht durch „checks and balances“ beschränkt werden. In der EU setzen PiS und Fidesz auf die Sicherung und den Ausbau nationalstaatlicher Hoheitsbereiche. Aufgrund außen- und europapolitischer Differenzen – insbesondere in der Sicherheits- und Russlandpolitik – ist allerdings keine nationalkonservative Achse in Ostmitteleuropa entstanden. (…)
Zum Artikel auf zeitschrift-osteuropa.de

Logo FSO
Logo DGO
Logo ZOIS
Logo DPI
Logo IAMO
Logo IOS