Die Lage der katholischen Kirche in Polen

Von Theo Mechtenberg (Bad Oeynhausen)

Zusammenfassung
Ein knappes Vierteljahrhundert nach dem Epochenjahr 1989 steht das nationale Selbstverständnis der katholischen Kirche Polens in deutlicher Spannung zur säkularen Herausforderung einer pluralistisch-demokratischen Gesellschaft. Während eine national-katholische Formation in politischer Nähe zur national-konservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) in Verteidigung der traditionellen Einheit von Kirche und Nation auf die Säkularisierungsprozesse und Veränderung der Lebensstile vornehmlich negativ reagiert, ist ein »offener Katholizismus« um einen innerkirchlichen wie gesellschaftlichen Dialog zur Bewältigung säkularer Herausforderung bemüht. Eine Versöhnung dieser unterschiedlichen Konzeptionen ist nicht erkennbar, sodass Polens katholische Kirche gegenwärtig unter einer tiefen Spaltung leidet.

Zieht man die Religionsstatistik zu Rate, dann erscheint Polens katholische Kirche wie eh und je als Fels in der säkularen Brandung. Und dies zumal, wenn man die Situation mit der in der Bundesrepublik vergleicht. Während hierzulande die Pfarreien aufgrund des Priestermangels zu immer weiter sich ausdehnenden pastoralen Räumen zusammengelegt werden, stehen in unserem Nachbarland nach Angaben aus dem Jahr 2009 für die 10.157 Pfarreien und weitere kirchliche Einrichtungen 24.455 Diözesan- und 5.687 Ordenspriester zur Verfügung. Bei einem Anteil von 95 % Katholiken fallen gelegentliche Kirchenaustritte, zu denen im Internet aufgerufen wird, kaum ins Gewicht. Anders in Deutschland, wo über 600.000 Katholiken in den letzten fünf Jahren ihrer Kirche den Rücken zugekehrt haben.

Glaubensrapport von Erzbischof Józef Michalik

Diese auf dem ersten Blick positive Sicht findet in dem 2011 veröffentlichten Glaubensrapport des Vorsitzenden der Polnischen Bischofskonferenz, Erzbischof Józef Michalik, ihre Bestätigung. In dieser kirchlichen Bilanz, der ersten dieser Art aus der Feder eines hochrangigen Hierarchen, betont der Erzbischof einleitend, dass sich die nach dem Ende des Kommunismus »nicht nur unter weltlichen Publizisten, sondern auch unter ›römischen Bischöfen‹ verbreitete Vorhersage eines ›Triumphs der Idee des Laizismus und Säkularismus‹ nicht bewahrheitet« habe (S. 7f.). Polens Kirche habe die Zeit des Kommunismus aufgrund dreier Faktoren relativ unbeschadet überlebt: mit Hilfe der religiös-nationalen Tradition, der engen Verbundenheit zwischen Klerus und Volk sowie durch die Stärke der Familien. Während die religiös-nationale, volkskirchliche Tradition auch in die Zeit der gewonnenen Freiheit fortwirke und die Verbindung zwischen Klerus und Volk nach wie vor eng sei, habe leider die Familie ihren Ort der Glaubensvermittlung eingebüßt. Ihre Krise bilde daher für die Kirche das eigentliche Problem (S. 8). Immer wieder nimmt der Erzbischof auf den Verfall der Familie, von dem bis zu 30 % heutiger Ehen betroffen seien, Bezug, um Negativerscheinungen innerhalb der Kirche zu erklären (S. 20). Zudem verweist er auf einzelne Krisenphänomene innerhalb des Klerus wie den Amtsverzicht von Priestern, Alkoholismus unter Geistlichen, Missbrauchsfälle, denen gegenüber es keine Toleranz geben dürfe, sowie Homosexualität unter Klerikern, ohne dass diese Erscheinungen allerdings in ihrer Häufigkeit statistisch belegt werden. Eine tiefere Analyse, die bestimmte kirchliche Reformen nach sich ziehen würde, sucht man in den Aussagen des Erzbischofs indes vergeblich.

Polen – ein Missionsland

Im Unterschied zu Erzbischof Michalik schätzt der Warschauer Metropolit, Kazimierz Kardinal Nycz, die Situation seiner Kirche deutlich kritischer ein. Er spricht von einer »schleichenden Säkularisierung«, die im sozialen Umfeld eine »galoppierende Form« angenommen habe. Er sieht im katholischen Polen geradezu ein Missionsland: »In Polen haben wir uns leider zu spät bewusst gemacht, dass wir eine missionarische Kirche sein müssen, weil neben uns Menschen leben, die aus unterschiedlichen Gründen Christus nicht kennen, die Kirche nicht kennen oder nur von außen wahrnehmen – sie gehen somit nicht zur Kirche, sie brauchen Missionare.« 2011 forderte er in einem an seinen Diözesanklerus gerichteten Adventsbrief anstelle einer unterschiedslosen Pastoral eine Neuevangelisation, um jene zu erreichen, die sich von der Kirche abgewandt haben. Damit stellt sich allerdings die Frage nach einem eine solche Neuevangelisation ermöglichenden Kirchenverständnis.

Zwei kritische Stimmen aus Sorge um die Kirche

Noch um vieles kritischer sind jene, sich in jüngster Zeit mehrenden Stimmen, die bestimmte kirchliche Negativ­erscheinungen beim Namen nennen und die Hierarchie zu entschiedenem Handeln auffordern. Eine gehört dem angesehenen, einst mit der antikommunistischen Opposition eng verbundenen Lubliner Dominikaner Ludwik Wiśniewski. Am 11. September 2010 hatte er, an der Bischofskonferenz vorbei, an den Apostolischen Nuntius Celestino Miglione zu dessen Amtsbeginn einen Brief gerichtet. Darin bringt er seine Sorge zum Ausdruck, Polens Kirche könnten in naher Zukunft spanische Verhältnisse drohen. Dass sie weit über das Ende des Kommunismus stabil geblieben sei, verdanke sie vor allem zwei überragenden Führungspersönlichkeiten – Kardinalprimas Stefan Wyszyński und Papst Johannes Paul II. Beide hätten, jeder auf seine Art, der polnischen Kirche ein »Gesicht« gegeben. Daran fehle es jetzt. Schlimmer noch: Zu ihrem Schaden sei die Kirche gegenwärtig durch Gruppierungen bestimmt, die sich »für die wahren Polen und echten Katholiken« halten und sich in der Öffentlichkeit lauthals zu Wort melden würden. Deren verzerrtes Kirchenbild wirke abschreckend, so dass »die junge Generation zunehmend vor einer solchen Kirche fliehe.«

Wiśniewski ist der Überzeugung, der Episkopat sei in der Frage der Gestalt der Kirche in der heutigen Welt »tief gespalten« und könne daher »keines der schwierigen, in unserer Kirche existenten Probleme« lösen. Er sieht in der »Unfähigkeit, mit der veränderten Welt zu kommunizieren« und eine für sie verständliche Sprache zu sprechen, geradezu die »Achillesferse« seiner Kirche. Er schlägt daher eine »GROSSE DEBATTE zu den brennendsten Problemen« vor.

Ausführlich geht Wiśniewski auf das seit Jahren ungelöste Problem des von Pater Tadeusz Rydzyk geleiteten Medienimperiums ein, das innerhalb der »polnischen« Kirche einen Machtfaktor darstelle. Pater Rydzyk nutze seinen medialen Einfluss neben rein religiösen Sendungen immer wieder zu antisemitischen Kommentaren sowie zu an Hass grenzenden Angriffen auf Liberale, imaginäre Freimaurer und innerkirchliche, mit dem national-katholischen Kurs des Senders nicht übereinstimmende Gegner. Wiśniewski nennt daher den Sender »einen Ort, an dem die Menschen Fanatismus und Gehässigkeit, ja sogar Hass auf Andersdenkende lernen.«

Amtsträger aus dem Umkreis von Radio Maryja reagierten auf diese Initiative mit Ablehnung und wenig freundlichen Bemerkungen an die Adresse des Briefschreibers. Zu der von Wiśniewski geforderten »GROSSEN DEBATTE zu den brennendsten Problemen« kam es nicht.

Auf ähnliche Weise äußerte sich im November letzten Jahres der betagte Medizinprofessor Stanisław Luft, ein um Polens Kirche hoch verdienter Mann, in einem offenen Brief an Erzbischof Michalik in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Polnischen Bischofskonferenz. »Sieben Jahre nach dem Tod des polnischen Papstes« sei die Kirche »heute tief gespalten.« Während vor sieben Jahren »Millionen von Polen auf die Straße« gegangen seien, »um Einheit und Gemeinschaft zu erfahren«, bringe man heute »polnische Katholiken auf die Straße, um unter dem Kreuz und dem Bild der Gottesmutter politische Schlagworte gegenüber Andersdenkenden voller Abneigung, ja selbst voller Hass, von sich zu geben.« Professor Luft sieht seine Kirche »in einer ernsten Krise«. Ihr drohe »ein Bruch sowie eine massenhafte Abwanderung von Gläubigen […]. Statt einer ›offenen Kirche‹ als Antwort des Konzils auf die Probleme der heutigen Welt, bevorzugt man heute eine sich zu einer ›belagerten Festung‹ verschließende Kirche mit einer Abneigung gegenüber der sie umgebenden Wirklichkeit. Statt einer Kirche der Liebe und der Toleranz offeriert man eine Kirche des Kampfes, ja des Krieges.« Er verweist auf die gefährliche Politisierung der Religion, wie sie durch Pater Rydzyk mit seinem Medienimperium im deutlichen Widerspruch zum Zweiten Vatikanischen Konzil sowie zu den Bestimmungen des Konkordats betrieben werde. All dies geschehe »im stillen Einverständnis der offiziellen Organe der hierarchischen Kirche.« Der Brief schließt mit der Bitte an die Bischöfe, »die für die Kirche wie für Polen so bedrohlichen Tendenzen« zu bedenken und abzuwenden. Über eine Antwort auf diesen »offenen Brief« ist nichts bekannt.

Zwei gegensätzliche Auffassungen zur Gestalt der Kirche in der heutigen Welt

Der Streit um die Gestalt der »polnischen« Kirche, wie er sich gegenwärtig abspielt, ist durch zwei gegensätzliche Konzeptionen bestimmt: Auf der einen Seite ein sehr stark national geprägtes traditionelles, vor allem von Pater Rydzyk und seinem Medienimperium verbreitetes Kirchenbild, auf der anderen Seite ein »offener Katholizismus«, wie er vor allem von der Krakauer katholischen Wochenzeitung »Tygodnik Powszechny« und intellektuellen katholischen Kreisen vertreten wird.

Das religiös-nationale Kirchenverständnis

In seinem Glaubensrapport beruft sich Erzbischof Michalik zur Begründung eines stark national geprägten Kirchenverständnisses auf Kardinalprimas Stefan Wyszyński. In der Tat beruhten dessen Pastoral und Kirchenpolitik auf der geschichtlich vermittelten Symbiose von Kirche und Nation. Religiös-nationale Erinnerungsdaten besaßen daher zu jener Zeit einen hohen Stellenwert. So wurde durch eine neunjährige große Novene das Gedenken an die »Taufe Polens« im Jahr 966 vorbereitet. Das Gedenkjahr 1966 stand dann mit seinen pastoralen Großmanifestationen ganz im Zeichen einer tausend Jahre währenden ungebrochenen Einheit von Kirche und Nation. Diese pastoralen Großereignisse hatten zudem einen deutlich systemkritischen Akzent, dienten sie doch dazu, gegen den Führungsanspruch der kommunistischen Partei die Kirche als die eigentliche Repräsentantin der Nation zu erweisen. Wie man weiß, endete diese Auseinandersetzung mit einem Triumph der Kirche über das kommunistische System.

Lag es angesichts dieser Entwicklung nicht nahe, das bewährte Modell einer Symbiose von Kirche und Nation nach dem Epochenjahr 1989 auch auf die neuen Verhältnisse anzuwenden? War den Worten des unlängst verstorbenen Primas Józef Glemp nicht beizupflichten, »die Nation als getaufte hat das Recht, solche Strukturen des Staates zu fordern, die ihrem Charakter entsprechen«? War es nicht ein Gebot der Stunde, gegen die neuen Feinde der Kirche und der Nation, gegen den Liberalismus, gegen eine die nationale Identität angeblich gefährdende Mitgliedschaft in der Europäischen Union zu Felde zu ziehen?

Der Versuch, das Modell einer Symbiose von Glaube und Nation und die Funktion der Kirche als ihr schützender Hort und Anwalt auf die neuen Bedingungen einer pluralistisch-demokratischen Gesellschaft zu übertragen, musste scheitern. Selbst unter der ohnehin fragwürdigen Voraussetzung einer »katholischen Nation« folgerte daraus keineswegs eine »katholische Gesellschaft«, wie dies Polens Hierarchie unter Primas Glemp Anfang der 1990er Jahre annahm. Einen schulischen Religionsunterricht an den demokratischen Instanzen vorbei einzuführen, ein absolutes Abtreibungsverbot durchzusetzen, eine gesetzliche Festschreibung »christlicher Werte« einzufordern sowie die demokratischen Wahlen in ihrem Sinne zu beeinflussen und die Katholiken moralisch zu verpflichten, »für einen Katholiken zu stimmen«, wie dies der heutige Vorsitzende der Bischofskonferenz, Józef Michalik, vor den Parlamentswahlen im Herbst 1991 verlangte – all dies stieß nicht nur in antiklerikalen Kreisen, sondern auch innerhalb der Kirche auf entschiedenen Widerspruch.

So meldete sich neben anderen auch der angesehene Priester und Philosoph Józef Tischner in den 1990er Jahren immer wieder zu Wort, um vor der für die Kirche wie für die Gesellschaft gleicherweise gefährlichen national-katholischen Orientierung zu warnen. Sie sei im Kern eine »politische Religion«, deren Wesen in einer Vermischung der Ebenen von Religion und Politik liege, wodurch es zu einer Politisierung der Religion komme. Wo solches Denken Fuß fasse, sei im politischen Raum kein Dialog, keine Kooperation und kein für den gesellschaftlichen Frieden so notwendiger Kompromiss mehr möglich. Damit aber würden die Fundamente der Demokratie unterminiert; es komme zu einem religiös verbrämten Totalitarismus und durch ihre Politisierung verkomme die Religion zur Ideologie. Zudem werde der politische Kampf im Namen der absoluten Wahrheit nicht allein vor den Toren der Kirche ausgetragen. Er finde auch in ihrem Inneren statt, verfeinde Christen mit Christen.

Ende der 1990er Jahre schien es, dass Polens Kirche – nicht zuletzt durch eine Intervention Johannes Pauls II. anlässlich seiner Polenreise vor den Parlamentswahlen des Jahres 1996 – fortan politische Zurückhaltung wahren würde. Doch angeführt von Pater Tadeusz Rydzyk und seinem Medienimperium besteht weiterhin eine starke national-katholische, politisch eng mit PiS verbundene Formation, die sich zudem der Unterstützung zahlreicher Bischöfe sicher sein kann. Sie schreckt nicht davor zurück, sich in ihrem politischen Kampf religiöser Symbole zu bedienen. So waren es selbsternannte »Verteidiger des Kreuzes«, die als »wahre« Katholiken und »wahre« Patrioten nach dem tragischen Absturz der Präsidentenmaschine am 10. April 2010 monatelang in diesem Zeichen gegen den neu gewählten Staatspräsidenten Bronisław Komorowski demonstrierten, der die Präsidentschaftswahl gegen Jarosław Kaczyński, den Zwillingsbruder des verunglückten Präsidenten, gewonnen hatte. Jüngstes Beispiel für diese Art »politischer Religion« ist der Marsch, der am 28. September 2012 von Pater Tadeusz Rydzyk in Warschau im Verein mit Politikern von PiS unter dem Motto »Polen erwache!« organisiert wurde. Er war ein einziger Rundumschlag gegen die Regierung von Ministerpräsident Donald Tusk, der man eine »Rückkehr zum Totalitarismus der kommunistischen Volksrepublik« vorwarf und dessen Ablösung man lautstark forderte.

Dieser Marsch, auf den Prof. Luft in seinem offenen Brief anspielt, ist in der Geschichte der III. Republik ohne Präzedenz: Er wurde von Priestern mitorganisiert und lag somit auch in ihrer Verantwortung. Doch damit nicht genug. Die Organisatoren baten den Warschauer Metropoliten Kazimierz Kardinal Nycz, dass er oder einer seiner Bischöfe mit den Demonstranten die Eucharistie feiern möge. Hätte der Kardinal diesem Ersuchen stattgegeben, dann wäre in der Öffentlichkeit der Eindruck entstanden, dass dieser Marsch mit seinen politischen Protesten und Forderungen den Segen der Hierarchie hat. Als er statt eines Bischofs lediglich einen einfachen Priester freistellte, zeigten sich die Organisatoren über die Entscheidung des Kardinals höchst unzufrieden. Mit ihrer Verbitterung machten sie deutlich, dass sie bereit waren, selbst die Eucharistie für ihre politischen Absichten zu instrumentalisieren.

Tradition und Konzeption eines »offenen Katholizismus«

Im Gegensatz zu dieser stark konfrontativen national-katholischen Formation artikulieren die zahlreichen neu entstehenden »Tygodnik Powszechny Clubs« einen »offenen Katholizismus«, der die demokratisch-pluralistische Gesellschaftsform des neuen Polen akzeptiert, zur Mitgestaltung bereit ist, den Dialog mit Andersdenkenden sucht und, wo dies verantwortbar ist, Kompromisse eingeht. Auch der »offene Katholizismus« hat seine Tradition. Er orientiert sich am Kirchenverständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils, das – zumal mit der Pastoralkonstitution Gaudium et Spes – ein dialogisches Weltverhältnis der Kirche einfordert. Auch Papst Paul VI. bestätigte parallel zum Konzil mit seiner Enzyklika Ecclesiam suam (1964) den Dialog der Kirche mit der Welt. Die Kirche dürfe sich nicht damit begnügen, gesellschaftliche »Übel« aufzuzeigen, »sie mit Bannfluch zu belegen und Kreuzzüge gegen sie zu predigen.« Es gehe nicht darum, einen »vorherrschenden Einfluss« auf die Welt anzustreben oder gar eine »theokratische Herrschaft« auszuüben. Die Gestaltung der »Beziehungen zwischen Kirche und Welt« verlange vielmehr einen »Dialog«(Nr. 73). Man muss sich schon wundern, dass angesichts solch klarer Worte Polens Nationalkatholiken das sentire cum ecclesia für sich in Anspruch nehmen, das sie den »offenen Katholiken« absprechen, die sich zu Recht auf diese Aussagen berufen können.

Eine der ersten Persönlichkeiten, die auf der Basis des konziliaren Kirchenverständnisses die Grundlagen für einen »offenen Katholizismus« gelegt haben, ist die 1972 allzu früh verstorbene Journalistin Anna Morawska. In ihrem Lyoner Vortrag »Dialog mit Nichtglaubenden«, den sie 1966, ein Jahr nach Beendigung des Konzils, auf dem Weltkongress von Pax Romana gehalten hat, sieht sie die Grundvoraussetzung für einen solchen Dialog in der Erkenntnis, »dass unsere eigenen Gedanken, wenn sie wahrhaftig und eigenständig sind, denen der modernen Nichtglaubenden sehr gleichen«, zumal wo es darum geht zu helfen, gemeinsam »eine menschliche Gesellschaft zu schaffen und zu erhalten.« Daraus resultiere, »dass die echte und wesentliche Trennungslinie nicht entlang der Grenze von Gläubigen und Nichtglaubenden verlaufe, sondern quer durch sie – zwischen denen, die für andere da sind […] und den von Misstrauen erfüllten kleinbürgerlichen oder pharisäischen Doktrinären in beiden Lagern.«

Auf ähnliche Weise äußerte sich unlängst der Krakauer Bischof Grzegorz Ryś: Die eigentliche, die Menschheit trennende Linie verlaufe »heute nicht sosehr zwischen gläubigen und nicht glaubenden Menschen, sondern zwischen denen, die sich zu irgendwelchen geistigen Werten bekennen, und denen, denen sie fremd sind.« Er regt unter Berufung auf Papst Benedikt XVI. eine Art »Vorhof der Heiden« an, der im Jerusalemer Tempelbezirk als »Treffpunkt von Juden und Nichtjuden« diente. Bischof Ryś erhofft sich davon eine Überwindung der »vielfach geteilten Gesellschaft, in der das wechselseitige Vertrauen fast auf den Nullpunkt gesunken« sei. Und er erinnert an die »70er und 80er Jahre des 20. Jahrhunderts, in denen viele Seelsorger ihre Gotteshäuser für Freiheit fordernde Wissenschaftler, Künstler sowie gesellschaftliche und politische Akteure geöffnet haben (ohne nach dem Taufschein zu fragen).« Auch »die vielfarbige Welt der ersten Solidarność« sei von der »Logik eines Vorhofes« bestimmt gewesen. Er fragt: »Ist dies heute für uns eine unwiederbringliche Vergangenheit? Vielleicht unterscheidet sich die heutige Generation der Polen gar nicht sosehr von der früheren? Vielleicht hat sich auch unsere Kirche verändert? Vielleicht wurde sie ausschließlich konfessionell und Fragen der ›Griechen‹ gegenüber gleichgültig?«

Bischof Ryś belässt es nicht bei diesen Gedanken, er realisiert sie, indem er in Krakau einen solchen »Vorhof« schafft. Am 20. Juli 2012 fand im Collegium Maius unter der Fragestellung »Ist noch eine gemeinsame Sorge um das Gemeinwohl möglich?« unter seiner Moderation ein erstes Treffen dieser Art statt, an dem bedeutende gläubige wie nicht glaubende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens teilnahmen. Weitere Begegnungen folgen.

Auch wenn Bischof Ryś in diesem Zusammenhang den Terminus »offener Katholizismus« ebenso vermeidet wie einen Seitenhieb auf die sich einem solchen Dialog verweigernde national-katholische Formation, so entspricht doch seine Initiative ganz der Intention jener katholischen Kreise, die für einen Dialog offen sind. Bischof Ryś stellt sich mit seiner Auffassung und Initiative – wenn auch nur indirekt – gegen Erzbischof Michalik, der in seinem »Glaubensrapport« einem offenen Katholizismus eine deutliche Absage erteilt. Der habe zwar in der Vergangenheit seine Verdienste gehabt, sei aber heute »nicht wieder zu beleben«. Sein »Fehler« sei »ein Mangel an Sorge um volle Kirchlichkeit sowie ein Engagement mit einer falschen Einstellung der polnischen Wirklichkeit gegenüber«. Als Beispiel verweist er auf die Bücher des polnisch-amerikanischen Historikers Jan Tomasz Gross über die Beteiligung von Polen bei der Ermordung von Juden im Zweiten Weltkrieg und in der unmittelbaren Nachkriegszeit. In der von Vertretern eines »offenen Katholizismus« betriebenen kritischen Aufarbeitung dieser belastenden Vorgänge sieht Erzbischof Michalik eine »Verfälschung der Geschichte Polens«. Dies sei »umso beunruhigender, als heute eine deutliche kulturelle Tendenz anhalte, die Kirche zu verunglimpfen, um ihre gesellschaftliche Rolle zu neutralisieren, ja sogar ihre Präsenz im öffentlichen Leben einzuschränken.«

Mit dieser Aussage stellt Erzbischof Michalik die kirchliche Loyalität »offener Katholiken« rundweg in Frage. Nun kann aber – wie Anna Morawska in ihrem Referat verdeutlicht hatte – ein ehrlicher Dialog zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden »nur unter der Bedingung verwirklicht werden, dass und insoweit allgemein belastende Zustände und Verfahrensweisen in der Kirche als einer offiziellen Institution auch verändert werden.« Komme es nicht zu einer solchen Veränderung, dann gerate ein um den Dialog bemühter Katholik in den Verdacht, »die Kirche bloßzustellen und ihre Autorität zu schwächen.« In einem solchen Konflikt würde er dann nicht mehr als «wahrer Katholik« angesehen.

In einen derartigen Verdacht und Konflikt geriet der Marianerpater Adam Boniecki, langjähriger Chefredakteur der für seinen »offenen Katholizismus« bekannte »Tygodnik Powszechny«. Am 9. November 2011 erhielt er ein Schreiben seines Provinzials mit der Auflage, sich außerhalb des »Tygodnik Powszechny« nicht mehr medial zu äußern. Boniecki, selbst einst über Jahre Ordensgeneral, kam aufgrund seines Gehorsamsgelübdes dem ihm auferlegten Verbot widerspruchslos nach. Doch damit war die Angelegenheit keineswegs bereinigt. Der Provinzial hatte einen Stein ins Wasser geworfen und damit in der inner- wie außerkirchlichen Öffentlichkeit Wellen des Unverständnisses, ja der Empörung hervorgerufen. Ganz ohne Zutun des Betroffenen solidarisierten sich mit ihm in den verschiedensten Internetforen tausende Gläubige sowie der Kirche fern stehende Bürger. Der Gemaßregelte erhielt eine Unzahl an Briefen und E-Mails. In ihrem Zentrum – so Boniecki – »stehe nicht er selbst, sondern der Glaube der Verfasser sowie Fragen voller Besorgnis nach dem Glauben sowie nach der Kirche: wie diese sich darstelle und nach welcher sie sich sehnen.«

Der Grund für diese Maßregelung war Bonieckis immer wieder unter Beweis gestellte Bereitschaft, im Fernsehen, in außerkirchlichen Medien und auf Diskussionsforen auch mit Menschen außerhalb der Kirche das Gespräch zu suchen, sich kirchenkritischen Fragen zu stellen und sich in solchen Auseinandersetzungen jede Aggressivität zu verbieten. So auch in dem Konflikt um den Musiker und Sänger Nergal, der in einem blasphemischen Akt in einem seiner Konzerte die Bibel öffentlich zerrissen hatte und, als Musikexperte geschätzt, in die Jury der beliebten Musiksendung »The Voice of Poland« berufen werden sollte. Als die Wellen kirchlichen Protestes allzu hoch gingen und Nergal als »praktizierender Satanist«, der »Christentum und Religion verabscheut«, attackiert wurde, riet Boniecki zur Mäßigung. Ähnlich besonnen zeigte er sich, als in Reaktion auf die selbst ernannten »Verteidiger des Kreuzes« vor dem Präsidentenpalast von der antiklerikalen Palikot-Bewegung (Ruch Palikota) die Entfernung des Kreuzes aus dem Plenarsaal des Sejm gefordert wurde und Boniecki die dadurch im national-katholischen Lager ausgelöste Empörung nicht teilte. Bischof Wiesław Mehring, im Episkopat zuständig für Fragen der Kultur und des nationalen Erbes, sah sich daraufhin veranlasst, Boniecki in einem offenen Brief mangelnde kirchliche Loyalität vorzuwerfen. Darauf antwortete dieser ganz im Sinne offener Dialogbereitschaft: »Jene, die nicht mit uns sind, sind nicht unbedingt menschlicher Eigenschaften beraubt, ihre Motive nicht unbedingt vom Teufel inspiriert, ihre Vorbehalte gegen die Leute der Kirche nicht unbedingt böswillig ausgedacht, ihre Fragen nicht unbedingt uns gestellte Fallen, sondern sie können aus einer echten Sorge um das Wohl des Menschen und der Gesellschaft resultieren.«

Anna Morawska sah, und dies in einer Zeit konziliarer Euphorie, voraus, »dass sehr wahrscheinlich ein größerer Teil der jüngeren Generation den Glauben aufgeben wird, überzeugt, dass sie ihn in aller Ehrlichkeit nicht von ganzem Herzen in einer orthodoxen Form annehmen kann.« Und sie fragt: »Müssen wir jeden Kontakt mit diesen Leuten verlieren?« Diese Prognose hat sich im heutigen Polen erfüllt. Unter der einst mit viel Hoffnung bedachten »Generation JP2« (Johannes Paul II.) vollzieht sich ein kirchlicher Exodus. Allein der Anteil praktizierender jüngerer Frauen ist in den letzten Jahren unter dem Einfluss der Modernisierungsprozesse und dem dadurch bedingten Wandel des Lebensstils um 26 Prozent zurückgegangen. Hinzu kommt aber auch, dass mit dem Tod von Johannes Paul II. die »Generation JP2« ihr kirchliches Gesicht verloren hat.

Ein »offener Katholizismus«, der für einen innerkirchlichen Pluralismus eintritt, welcher der Kirche ein menschenfreundliches Gesicht verleiht, das nicht abstößt, sondern anziehend wirkt, fähig zum Dialog mit Nichtglaubenden und Suchenden, könnte hier Abhilfe schaffen. Wer ihn dagegen wie Erzbischof Michalik für tot erklärt oder wie Bischof Dydzyk ihm gar über seinen Tod hinaus noch eine vergiftende Wirkung zuschreibt, der verweigert seiner Kirche das Medikament, das sie zu ihrer Heilung bedarf.

Lesetipps / Bibliographie

  • Józef Michalik: Raport o stanie wiary w Polsce, Radom 2011.
  • Theo Mechtenberg: Polens katholische Kirche zwischen Tradition und Moderne, Dresden 2011.

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