Zusammenhalten und unterstützen. Ein Rückblick auf die polnische EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Hälfte 2011

Von Kai-Olaf Lang (Berlin)

Zusammenfassung
Die sechsmonatige EU-Ratspräsidentschaft (Juli bis Dezember 2011) war in Polen mit großem Ernst, beachtlichen Zielen und gründlichen Vorbereitungsmaßnahmen angegangen worden. Polen wollte der krisengeschüttelten Europäischen Union Zuversicht und neuen Schwung verleihen, in schwierigen Zeiten europäische Gemeinsamkeit unterstreichen und die Integration festigen. Polens Aktivitäten wiesen dabei in zwei Richtungen. Einerseits wollte Polen, wie jeder Vorsitz, die Liste seiner Prioritäten abarbeiten, die in den drei großen Rubriken »Wachstum«, »Sicherheit« und »Offenheit« zusammengefasst wurden. Andererseits ging es darum, Polens Selbstverständnis und Rolle in der EU längerfristig zu stärken. Außenminister Radosław Sikorski hatte zum Auftakt des Vorsitzes vor dem polnischen Sejm diesbezüglich die Prioritäten genannt: Polen wolle durch das kommende Halbjahr seine Position als Akteur der ersten Liga in der EU verbessern, sein Image als Land des wirtschaftlichen Erfolgs festigen, sich als »solider und solidarischer Staat« und als Mitgliedsland zeigen, das Freiheit und Demokratie unterstützt. Was von der polnischen Ratspräsidentschaft bleibt, ist ihr entschlossenes Eintreten für »mehr Europa« und gegen innere Spaltungen. Polen geht aus der Ratspräsidentschaft als Bannerträger der Einheit und Gemeinschaftlichkeit heraus.

Trotz oder wegen des anspruchsvollen und wiederholt vorgetragenen Zielkatalogs der polnischen EU-Ratspräsidentschaft war sich Polens Regierung bewusst, dass es schwer werden würde, vom Sessel der Ratspräsidentschaft kreativ in die politische Dynamik der EU einzugreifen. Denn zahlreiche Restriktionen erschwerten es selbst einem Land wie Polen, das mit seiner Größe, seinen beachtlichen wirtschaftlichen Erfolgen und vielen Sympathien seitens der Partner zu seinem Präsidentschaftshalbjahr angetreten war, einen aktiven »Lenkungsvorsitz« zu praktizieren, bei dem über bloße Ablaufroutinen auch eine politische Handschrift sichtbar werden würde. So war Warschau denn auch mit dem Näherrücken der Präsidentschaft bemüht, die auch von außen herangetragenen hochgesteckten Erwartungen zu dämpfen. Die Regierung von Donald Tusk wollte Realismus und Ambitioniertheit in ein Gleichgewicht bringen. Denn in der Tat zeichnete sich in der Praxis bald ab, was im Prinzip schon vorher bekannt war: Polens Ratsvorsitz war durch zumindest drei große Sachverhalte limitiert, die das Handeln der Ratspräsidentschaft im Allgemeinen und einige der polnischen Schwerpunktfelder im Besonderen einschränkten: durch den Kompetenzzuschnitt bzw. -entzug des Lissabon-Vertrags, durch Entwicklungen in der südlichen und östlichen Nachbarschaft der EU und durch die überragende Bedeutung der Eurozonen-Krise.

Polen und die Verwerfungen in der Eurozone

Zweifelsohne waren die Krisenerscheinungen in der Eurozone bzw. die Anstrengungen zu einer Verbesserung der wirtschafts- und finanzpolitischen Koordinierung in der Währungsunion und der gesamten EU das europapolitische Großthema, das auch die polnische Ratspräsidentschaft überlagerte. Als Nicht-Eurostaat hatte Polen in diesem Zusammenhang ohnehin kaum Möglichkeiten, direkt an den primär Eurozonen-internen Diskussionen über die Stabilisierung der Gemeinschaftswährung bzw. einiger ihrer Mitgliedstaaten teilzunehmen: Polen konnte in den entscheidenden Gremien und Foren schlicht nicht präsent sein – es nimmt nicht an den Eurozonen-Gifpeln teil und ist nicht in der Eurogruppe (also den Sitzungen der Eurozonen-Finanzminister), im Eurosystem der Europäischen Zentralbank oder dem Rettungsfonds ESFS vertreten. Hierbei darf aber nicht vergessen werden, dass der Schwerpunkt der einschlägigen Diskussionen und Politikinitiativen faktisch ohnehin beim deutsch-französischen Tandem bzw. dem Präsidenten des Europäischen Rats lag. Auch als Eurozonen-Mitglied hätte Polen wohl nur begrenzt Einfluss ausüben können. Nachdem der polnische Wunsch nach einer Teilnahme von Finanzminister Jacek Rostowski (als Vorsitzender des ECOFIN-Rates) an den Sitzungen der Eurogruppe durch Frankreich zurückgewiesen worden war, sah Polen seine Rolle primär darin, bei den Stabilisierungsanstrengungen in der Eurozone zu assistieren, indem etwa wichtige Begleitmaßnahmen zur Stärkung der EU-weiten Haushaltsdisziplin und Wettbewerbsfähigkeit akzentuiert wurden. Der wichtigste Schritt hierbei war sicherlich der sog. Six-Pack, ein Reformpaket zur Intensivierung der europäischen Regelkonformität im Bereich der Wirtschafts- und Budgetpolitik. Dieser Überhang aus der vorangegangenen ungarischen Präsidentschaft wurde mit aktiver polnischer Begleitung in Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament und den Regierungen der Mitgliedstaaten unter Dach und Fach gebracht.

Eine zweite, mittelbare Form der Unterstützung für eine effizientere Economic Governance sah Polen in der auch in der Prioritätenhierarchie ganz vorne rangierenden Wachstumsagenda. Der weitere Ausbau des Binnenmarktes und die Erschließung neuer Quellen des Wachstums standen im Zentrum der polnischen Bemühungen – auch wenn die diesbezüglichen Schritte (Bericht über Wachstumspotentiale oder das Binnenmarktforum in Krakau) eher Signalwirkung hatten als reale Prägekraft.

Finanzminister Rostowski (wie auch die polnische Regierung insgesamt) sah sich insgesamt in der Rolle eines Mahners, der die Eurostaaten immer wieder dazu aufforderte, rasch notwendige Schritte zu tun, da ansonsten dunkle Szenarien eintreten könnten. Für großes mediales Echo sorgte insbesondere Rostowskis Bezugnahme auf einen ihm bekannten Banker, der im Falle verschärfter wirtschaftlicher Krisen auch Kriegsgefahren in Europa sah. Weniger dramatisch, aber gleichwohl mit klarem Appell erklärte Polens Finanzminister aber auch, man stehe vor der Wahl zwischen »vertiefter makroökonomischer Integration in der Eurozone oder deren Kollaps«. Mit einem klaren Seitenhieb auf Deutschland kritisierte Rostowski zwei »gefährliche Populismen« in der europäischen Politik – den der finanziellen Verantwortungslosigkeit, aber auch den fehlender Solidarität mit Hilfsbedürftigen.

Stand im Kontext der Eurozonen-Krise zunächst das Motiv der inhaltlichen und prozeduralen Unterstützung im Vordergrund, schob sich in der zweiten Hälfte der Ratspräsidentschaft ein anderer Aspekt ins Zentrum polnischer Aktivitäten. Die alte polnische Sorge, infolge intensivierter innereuropäischer, konkret Eurozonen-spezifischer, Integrationsschritte ins Abseits zu geraten, fand mit der wieder aufkeimenden Debatte über »Kerneuropa« neue Nahrung. Schon die wuchtige Rede, die Außenminister Sikorski am 28. November 2011 in Berlin gehalten hatte, stand stark im Zeichen polnischer Einbindungswünsche. Denn abgesehen davon, dass der polnische Außenminister Deutschland europapolitisch in die Pflicht nahm und gleichzeitig polnischen Sukkurs für Berlin ausdrückte, machte er auch unmissverständlich deutlich, dass Polens Unterstützung für Reformen in der Eurozone an die Involvierung in deren Konstruktion gebunden sei. Kurz danach präsentierte Warschau eine Reihe konkreter Vorschläge, die – mit Blick auf den Dezember-Gipfel der Staats- und Regierungschefs – die An- und Einbindung der zehn Nicht-Eurostaaten in die aufgewerteten Harmonisierungs- und Koordinierungsmechanismen der Eurozone und eine weiterhin hervorgehobene Rolle der Gemeinschaftsorgane sicherstellen sollten. Auch wenn der Europäische Rat aufgrund des britischen Widerstands keine Lösung im Rahmen der 27 brachte, so konnte Polen zunächst mit dem Ergebnis zufrieden sein, das die Gefahr eine Spaltung zwischen den 17 Euroländern und den zehn Nicht-Eurostaaten reduzierte. Polen war kein Euro-Outsider, sondern hob seine Position als Pre-In der Eurozone, also als künftiges Mitglied, hervor, das es vorab zu berücksichtigen gelte.

Polen und die östlichen Nachbarn

Schwerpunkt im Bereich der Außenpolitik sollten die Beziehungen zu den östlichen Nachbarn der EU sein. Als Koautor der Östlichen Partnerschaft (ÖP), die als kombinierter bi- und multilateraler Rahmen innerhalb der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) die Beziehungen zu den Ländern Osteuropas und des südlichen Kaukasus voranbringen soll, wollte Polen diese Politikinitiative festigen und vertiefen. Gerade bei dieser »Top-Priorität« wurden die vielfachen Einschränkungen für präsidentschaftliches Handeln sichtbar. Mit dem Lissabon-Vertrag war das Gros der Kompetenzen zur Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik (HV) und zum (im Aufbau befindlichen) Europäischen Auswärtigen Dienst gewandert. Mit der im Frühjahr erfolgten »Durchsicht« der ENP, die unter Federführung der HV und des für Nachbarschaftsfragen zuständigen Kommissars Stefan Füle erstellt wurde, waren Kernprinzipien und Modifikationen der Nachbarschaftspolitik (wie etwa die Hinwendung zu mehr Konditionalität durch den Grundsatz »more for more«) bereits festgezurrt. Vor allem aber brachten die Ereignisse an den europäischen Peripherien beachtliche Restriktionen. Durch den »arabischen Frühling« richtete sich die außen- und nachbarschaftspolitische Aufmerksamkeit vor allem nach Nordafrika und Nahost. Die Politik des regierenden Lagers von Viktor Janukowitsch in der Ukraine und die Repressionen des Regimes von Alexander Lukaschenko in Belarus nach den Präsidentschaftswahlen Ende 2010 ließen bezüglich der östlichen Partner in der EU den Eindruck von Stagnation und Rückschritt aufkommen. Insofern hatte Polen bei seinem Engagement für die Östliche Partnerschaft mit institutionellen, konzeptionellen und realen Grenzen zu kämpfen. Diese wollte man durch

informelle Kanäle (etwa durch enge Kontakte und gute Abstimmung des polnischen Außenministers mit der HV und anderen Mitgliedstaaten oder durch Nutzung von Formaten wie das Gymnich-Treffen der Außenminister in Zoppot), Aktivitäten für die südliche Nachbarschaft (um zu zeigen, dass Polen sich nicht allein für den Osten interessiert), die Unterstützung für die EU-Russland-Kooperation (um die pragmatischen Polen-Russland-Beziehungen auch für die EU zur Verfügung zu stellen, wie etwa beim Thema Kaliningrad) sowie durch die Chance kompensieren, die sich durch den Gipfel der Östlichen Partnerschaft bot. Dieser sollte ursprünglich von der ungarischen Präsidentschaft organisiert werden, fand nun aber Ende September in Warschau statt.

Warschau verfolgte angesichts der schwierigen Gesamtlage letztlich eine zweigleisige Strategie. Einerseits wollte man die Partner in der EU weiterhin zu einem Bekenntnis zu langfristig ambitionierten Perspektiven für die Kontakte mit den östlichen Nachbarn bringen. Faktisch sollten sich diese an einer weitgehenden wirtschaftlichen Integration mit Einbindung in den EU-Binnenmarkt orientieren – dies zumindest hatten Außenminister Sikorski und sein schwedischer Amtskollege noch im Oktober 2010 in einem Brief an die HV anvisiert. Dabei wollte man das alte Drängen auf eine prinzipielle Mitgliedschaftsperspektive nicht direkt verankern (Polen kannte die Position in der EU und war daher pragmatisch), aber man wollte diese auch nicht ausschließen. Die entsprechenden Passagen in der Erklärung zum (seitens der EU »recht gut besuchten«) Gipfel der ÖP müssen eher als realistische Besitzstandswahrung, denn als Skizzierung anspruchsvoller Ziele gewertet werden, aber angesichts der um sich greifenden Osteuropa-Ermüdung in der EU war auch kaum mehr zu erwarten.

Andererseits war Warschau daran interessiert, die ÖP praktisch zu konsolidieren und wichtige Politikprozesse am Laufen zu halten. Angesichts der Irritationen um die ukrainische Ex-Ministerpräsidentin Julia Timoschenko war Polen daran gelegen, trotz einer wachsenden Frustration über die Führung in Kiew die Verhandlungen über das Assoziierungsabkommen zu finalisieren. Insofern war es ein Erfolg, dass während der polnischen Präsidentschaft das sensitive Handelsübereinkommen (DCFTA), ein integraler Bestandteil des geplanten Assoziierungsvertrags, verhandelt wurde und damit das Assoziierungsabkommen inhaltlich komplettiert werden konnte (zusammen mit einigen weiteren politischen Fragen). Polen war realistisch genug, nicht auf einer öffentlichkeitswirksamen Paraphierung des Assoziierungsabkommens zu insistieren, trug aber insgesamt dazu bei, dass im Falle eines künftigen Einlenkens der ukrainischen Regierung in der Timoschenko-Frage Paraphierung und Ratifizierung rasch angegangen werden können. Insgesamt sah Polen aber, wie wenig Einfluss es gegenwärtig auf die Machthaber in Kiew ausüben kann. Denn trotz bilateraler Bemühungen (etwa durch Staatspräsident Bronisław Komorowski), gaben Janukowitsch und die Seinen nicht nach. Ernüchternd waren Polens Versuche, Belarus trotz dessen Selbstisolierung zumindest symbolisch an die EU anzudocken, dies wurde durch das Nein des Minsker Außenministers zur Teilnahme am ÖP-Gipfel deutlich. In Anbetracht dessen war es für Polen positiv, dass es für Moldova und Georgien grünes Licht für Gespräche zum Handelsteil ihrer Assoziierung gab. Dies signalisierte, dass der so wichtige Prozess des Aushandelns von Assoziierungsabkommen trotz Schwierigkeiten mit dem einstigen Musterland Ukraine weitergeht.

Jenseits der Vertrags- und Verhandlungsebene konzentrierte sich Polen vor allem auf zwei Aspekte der Nachbarschaftspolitik: Zum einen wurde die sektorale Zusammenarbeit vorangebracht, mehrere bislang schwach akzentuierte Politikfelder wie etwa Regionalentwicklung, Landwirtschaft oder Verkehr wurden auch im multilateralen Kontext angesprochen. Zum anderen wurde die gesellschaftliche und zwischenmenschliche Komponente der Nachbarschaftspolitik betont. Hierzu gehören Maßnahmen im Bereich Visa. Die Mitgliedstaaten hielten – wenn auch zögerlich – an der Perspektive des visafreien Personenverkehrs fest, mehrere unterstützende Maßnahmen wurden aufrechterhalten (Einbindung des Söderköping-Prozesses in die ÖP; Treffen des Prager-Prozesses). Während das in Polen abgehaltene Zivilgesellschaftliche Forum im engeren Sinne nicht Bestandteil der regierungsoffiziellen Ratspräsidentschaft war, konnte mit dem Endowment for Democracy ein Projekt (nach einigen Widerständen etwa in Deutschland) auf den Weg gebracht werden, das die Festigung bürgergesellschaftlicher Strukturen in den Nachbarschaften zu einem sichtbaren europäischen Handlungsfeld macht.

Insgesamt war der Bereich Östliche Partnerschaft gekennzeichnet durch ein eher konservatives, wenn nicht defensives Präsidentschaftsverhalten, das angesichts mannigfacher Einhegungen keine großen Initiativen anschob, sondern eher Bestehendes ausbaute und fortentwickelte. Polen wollten bewahren und sichern, Ambitionen nicht nach unten schrauben lassen und darauf achten, dass Fokus und Ressourcen der EU nicht übermäßig nach Süden abdriften.

Polens Rolle

Abgesehen von diesen beiden zentralen Bereichen der polnischen Ratspräsidentschaft gab es eine Vielzahl anderer Prioritäten und Themenbereiche. Betrachtet man diese im Vergleich, so ergeben sich wichtige Anhaltspunkte dafür, wie Polen die wesentlichen Handlungsanforderungen erfüllt hat, mit denen ein Vorsitz konfrontiert ist. Polen hat auf der Ebene des Prozessmanagements sicherlich professionell gearbeitet. Eine europapolitisch nicht unerfahrene und große Administration hat dazu beigetragen, dass keine größeren organisatorischen Betriebsunfälle stattfanden und ein solide Koordinierung und Vorbereitung von Ratsformationen und Arbeitsgruppen umgesetzt wurde. Wenig Spielraum blieb für neue Initiativen. Polen war, wie vermutlich alle Präsidentschaften unter dem Lissabon-System, kaum Impulsgeber, sondern eher Weiterführer und Konsolidierer von Politikfeldern. Erfolgreich war man am ehesten noch mit dem Endowment for Democracy. Schon bei der sogar mit Deutschland und Frankreich lancierten und von Italien und Spanien unterstützten Idee zur Vertiefung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik gelangte Warschau an Grenzen, ließ sich doch trotz Hilfe der Hohen Vertreterin der Widerstand Großbritanniens nicht brechen. Aufgrund der Dominanz der Eurozonen-Thematik, die die politische Energie der europäischen Eliten weitgehend absorbierte, gab es für Polen auch kaum Möglichkeiten, strategische oder richtungsändernde Entwicklungen in anderen Politikfeldern anzustoßen. So blieb Warschau vor allem die schwierige Funktion der Vermittlung, die etwa beim »Six-Pack« oder beim europäischen Patent, aber auch beim Aushandeln der ÖP-Erklärung erfolgreich bestritten wurde.

Insofern gab Polens Ratspräsidentschaft wichtige Hinweise für die Funktionen, die Präsidentschaften unter den Prämissen von Lissabon und im Zeichen einer wirtschaftlichen Dauerkrise erfüllen können. So kann wohl selbst ein ambitioniertes, selbstbewusstes, anerkanntes und gut vernetztes Mitgliedsland kaum noch prägen und gestalten. Zwar waren Ratsvorsitze immer schon zu einem Großteil von Routinen und vorgegebenen Anforderungen stranguliert, doch wird es immer schwieriger, alte Pfade auszubauen oder gar neue anzulegen. Organisieren, Assistieren und Unterstützen scheint wichtiger als spektakuläre Initiativen, agenda setting oder markante Führung. Und schließlich: Angesichts des Kompetenzentzugs für Ratspräsidentschaften sind Bilateralismen, informelle Kanäle und Glaubwürdigkeit wichtige Ressourcen, um dennoch punktuell Entscheidungen und Kompromisse zu gestalten.

Polens Präsidentschaft und Polens Europapolitik

Jenseits des eigentlichen Auftritts der Ratspräsidentschaft und der Abarbeitung der selbstgesetzten oder vorgegebenen Prioritäten gab es eine zweite Ebene des polnischen Halbjahrs – nämlich die der polnischen Europapolitik. Polen befindet sich seit dem Regierungswechsel von 2007 in einer stetigen politischen Aufwertung in der EU. Neue Partner, neue Themen und neue Handlungsformen haben diese Phase gekennzeichnet. Der Ratsvorsitz sollte aus Sicht der Warschauer Regierung diese Tendenz verstärken und über den Sechsmonatsabschnitt hinaus wirken. Im Großen und Ganzen ist dieses Vorhaben gelungen. Auch wenn Polen faktisch nur wenig bewegen und gestalten konnte, hat Polen seine Erstlingspräsidentschaft nicht nur als abzuleistende Pflichtübung umgesetzt, sondern auch als Chance zur Beförderung seiner europapolitischen Interessen und seines integrationsfreundlichen Ansatzes genutzt. Vier Sachverhalte fielen hierbei besonders auf.

Erstens hat die Präsidentschaft wie erwartet dazu beigetragen, die polnische Europapolitik nochmals thematisch zu verbreitern. Hatte Polen in der Vergangenheit vorrangig des Feld der weit verstandenen Sicherheit bespielt (Sicherheit vor Russland, Sicherheit vor Instabilität in der direkten Nachbarschaft, Energiesicherheit usw.) und darüber hinaus vor allem auf die Sicherung von finanziellen Transfers aus Brüssel gesetzt, erschloss sich Polen nach und nach weitere Politikfelder, auf denen es teils dezidiert auftrat. Der Ratsvorsitz hatte per se den Effekt, dass Polen sich mit der gesamten Palette europäischer Politik auseinandersetzte. Polen wird nun noch besser als zuvor in der Lage sein, in prinzipiell jedem Politikbereich mitzureden und eventuell mitzugestalten.

Zweitens gelang es Polen, eine Reihe von europapolitischen Kenn- und Markenzeichen zu etablieren. Polen profilierte sich als gemeinschaftstreuer, integrationsbefürwortender Hüter der Einheit und des Zusammenhalts der Europäischen Union. Dieses in der Schlussphase der Präsidentschaft deutlich hervorgetretene Charakteristikum ist sicherlich in der breiteren europäischen Öffentlichkeit sowie im politischen Prozess ein neuer Akzent – galt doch Polen zuvor eher als eindimensionaler Experte für Solidarität.

Drittens hat sich – wie bei jeder Präsidentschaftspremiere – die Europafähigkeit der polnischen Administration nochmals gesteigert. Nicht nur die ehemalige Behörde des Komitees für Europäische Integration (Urząd Komitetu Integracji Europejskiej – UKIE), die in das Außenministerium eingegliedert worden war und mit der dort befindlichen EU-Expertise die Herzkammer der polnischen Europapolitik bildet, sondern zahlreiche andere Ressorts und Ämter haben nun personell und institutionell europapolitische Kompetenzzuwächse zu verbuchen.

Und viertens hat Polen seinen alten Ruf als eigennutzorientierter Partikularist gekonnt durch das Image eines ehrlichen Maklers ersetzt. Geschickt agierte man insbesondere bei Themen, wo man ein klares Eigeninteresse hatte – so etwa beim mehrjährigen Finanzrahmen. Hier ging es Polen primär darum, den Prozess voranzubringen, aber ungünstige Weichenstellungen zu verhindern, ohne als parteiisch zu gelten. Eingerahmt in einen Diskurs, demzufolge Wachstum allgemein angestrebt werde und ein großes Budget das beste Instrument zur Generierung von Wirtschaftswachstum sei, ist Warschau tatsächlich in der Lage gewesen, eine Reduktion des Budgets oder eine Neuausrichtung der Kohäsionspolitik abzuwenden. Seit Januar 2012 hat Warschau nun wieder die Möglichkeit, seine Interessen offen zu verfolgen und aktiv einzugreifen, wenn es faktisch um Zahlen geht. Auch bei der Klimapolitik hat es Polen durch sein Agieren im Zusammenhang mit den Verhandlungen in Durban vermocht, zumindest seinen Ruf als destruktiver Verhinderer ein wenig abzuschütteln.

Fazit: Zusammenhalten und Unterstützen

Polens Ratspräsidentschaft zeigte nicht zuletzt einen Sachverhalt: Ein Vorsitz kann in vielerlei Hinsicht effizient und weitgehend fehlerlos agieren und dennoch wenig erreichen. Diese Nachricht ist ernüchternd, für Polen und seine Position in der EU aber durchaus positiv. Dass die während der EU-Ratspräsidentschaft abgehaltenen Parlamentswahlen bzw. der Wahlkampf in Polen nicht negativ auf die Führung der Amtsgeschäfte wirkten, zeugt davon, dass eine konsolidierte operative Basis und eine verantwortungsvolle politische Führung die polnische Europapolitik gekonnt umsetzen können – und das, obwohl ein europapolitische Konsens fehlt. Insgesamt wird man behaupten können, dass Polen als EU-Ratsvorsitz vorrangig als Dienstleister und Assistent für die europäische Politik wirkte, und dabei den Gedanken der unfragmentierten Integration und des Zusammenhalts betonte. »Zusammenhalten und Unterstützen« war gewissermaßen die implizite Devise des polnischen Vorsitzes. Was von diesen beiden Komponenten der polnischen Ratspräsidentschaft bleibt, ist aber vermutlich weniger ihr Assistieren bei konkreten Themen, sondern ihr entschlossenes Eintreten für »mehr Europa« und gegen innere Spaltungen. Polen geht aus der Ratspräsidentschaft als Bannerträger der Einheit und Gemeinschaftlichkeit heraus.

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