Belarus-Analysen

Ausgabe 67 (31.10.2023) — DOI: 10.31205/BA.067.01, S. 2–5

Demonstrationen für Lukaschenka: Viel, laut und mit null Effekt?

Von Stas Gorelik (George Washington University/Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen)

Zusammenfassung
Die regierungsfreundlichen Demonstrationen, Konzerte und Foren waren ein Teil der Antwort des Lukaschenka-Regimes auf die demokratischen Proteste von 2020. Wie sehr mag diese Mobilisierung von Anhängern hilfreich für den Diktator in Belarus gewesen sein, und wie sehr konnte Lukaschenka dadurch populärer erscheinen? Zur Beantwortung dieser Fragen wird in diesem Beitrag ein Online-Umfrageexperiment analysiert, das im Sommer 2020 in Belarus durchgeführt wurde. Die Antworten zeigen, dass diese Aktionen Lukaschenkas Position wohl kaum gestärkt haben dürften. Allerdings ist meine Studie exploratorischer Natur, und die Schlussfolgerungen bedeuten natürlich nicht, dass Demonstrationen für Autokrat*innen nicht auch erfolgreich sein können. Es sind noch eingehendere Untersuchungen vonnöten, um festzustellen, wann genau derartige Veranstaltungen die Wähler von der Popularität eines Regimes überzeugen können und wann nicht.

Regimefreundliche Mobilisierung auf der Straße: Belarus und andere Autokratien

Nach den Präsidentschaftswahlen 2020 sind die Belarus*innen nicht nur gegen Aljaksandr Lukaschenka auf die Straße gegangen, sondern auch für ihn. Allerdings ist unklar, welchen Einfluss diese regimefreundlichen Aktionen auf die tatsächlichen Vorstellungen in der Gesellschaft hatten, die das Regime gutheißen. Anfangs handelte es sich um Versammlungen, an denen sich im ganzen Land Tausende beteiligten. Die wurden von Autokorsos abgelöst, bei denen die staatlichen grün-roten Flaggen gezeigt wurden. In der Hauptstadt stellten sich Anhänger von Lukaschenka auf, um die Sicherheitskräfte zu »begrüßen«, die loszogen, um die oppositionellen Proteste zu unterdrücken. Schließlich organisierte die Regierung einige Konzerte und Konferenzen zur eigenen Unterstützung. So fand beispielsweise im September 2020 das Frauenforum »Für Belarus« statt, das deutlich machen sollte, dass nur wenige Belarusinnen gegen die Willkür der Miliz protestieren würden, die meisten aber angeblich auf Seiten des herrschenden Regimes stünden.

Eines der offensichtlichen Ziele dieser Massenmobilisierung bestand darin, die Wähler*innen davon zu überzeugen, dass das Regime wirklich Popularität genieße. Damit sollten gleichzeitig Verwürfe entkräftet werden, dass die Wahlen gefälscht wurden. Studien zeigen, dass Menschen in der Tat ihre politische Haltung ändern können, unter anderem die Bereitschaft zu protestieren, und zwar in Abhängigkeit davon, was andere denken.

Auch wenn in Wirklichkeit sehr viel mehr Belarus*innen an den Protesten teilnahmen, die 2020 einen Rücktritt Lukaschenkas forderten (Studien des ZOiS zufolge mindestens 700.000) als an Demonstrationen für das Regime, sollte dennoch die Mobilisierung zur Unterstützung des Regimes nicht als bedeutungslos eingeschätzt werden. Aus Grafik 1 auf S. 6, die auf Expertenberechnungen des Projektes »Varieties of Democracy« beruht, geht hervor, dass 2020 die Dimensionen der regierungsfreundlichen Demonstrationen und Versammlungen in Belarus insgesamt größer waren als in anderen Autokratien, in denen in jenem Jahr Wahlen stattfanden. Die Grafik zeigt darüber hinaus, dass derartige Aktionen zur Unterstützung von Lukaschenka eine Neuheit der belarusischen Politik darstellen, da sie früher nur äußerst selten stattfanden.

Belarus ist nur eines der vielen autoritär regierten Länder, in denen Demonstrationen und andere Veranstaltungen zur Unterstützung des Regimes organisiert werden. Gleichwohl beginnt eine solche regimefreundliche Mobilisierung des Öfteren als Antwort auf Aktivitäten der Opposition, und sie ist dementsprechend insbesondere im Kontext von Wahlen wahrscheinlich. Eines der markantesten Beispiele im postsowjetischen Raum ist die Reihe von Demonstrationen für »Einiges Russland« und Putin, die 2011 und 2012 vom Kreml initiiert wurden, nachdem Zehntausende Russ*innen mit der Forderung auf die Straße gegangen waren, die Parlamentswahlen zu wiederholen und dabei fair zu gestalten. Anfangs, Ende 2011, war der Umfang der Aktionen zur Unterstützung von »Einiges Russland« zwar nicht sonderlich beeindruckend, doch im Frühjahr 2012 kamen in Moskau Hunderttausende zu Pro-Putin-Demonstrationen zusammen. Seit Anfang der 2000er Jahre fanden derartige elektorale Demonstrationen zur Unterstützung des jeweils herrschenden Regimes auch in Venezuela, in der Ukraine, in Aserbaidschan, im Iran, in Kasachstan und in Hongkong statt.

Somit ergibt sich der Wert der vorliegenden Studie aus Folgendem:

  1. Sie stellt einen Versuch dar, zu identifizieren, inwieweit die oben beschriebenen regimefreundlichen Veranstaltungen effektiv waren, und sie zeigt die Schwierigkeiten auf, die bei der Durchführung solcher Untersuchungen unter Einsatz von Umfrageexperimenten bestehen. Es geht nicht einfach um »historische« Fragen. Diese können auch bei zukünftigen Wahlgängen aktuell werden, falls es in Belarus erneut zu oppositionellen Protesten kommt. Mehr noch: Das Regime von Lukaschenka organisiert auch nach 2020 weiterhin Massenveranstaltungen, um eine angeblich bestehende allgemeine Zustimmung zum Regime zu demonstrieren. So wurde beispielsweise am 17. September dieses Jahres ein »patriotisches Forum« mit Tausenden Teilnehmer*innen organisiert. Dort wurde der neue staatliche Feiertag der nationalen Einheit begangen.
  2. Eine Analyse des Beispiels Belarus kann auch bei der Untersuchung regierungsfreundlicher Demonstrationen in anderen autoritär regierten Ländern hilfreich sein. Hier ist allerdings zu erwähnen, dass solche Massenveranstaltungen nicht nur im Kontext von Wahlen organisiert werden, sondern auch z. B. als Antwort auf internationale Krisen. So werden etwa in Russland seit dem Februar 2022 ständig Demonstrationen, Konzerte und Flashmobs zur Unterstützung des vom Kreml angezettelten Krieges organisiert.
Das belarusische Experiment zu regimefreundlichen Demonstrationen

Zur Einschätzung der Effektivität der Massenmobilisierung für Lukaschenka werden in diesem Beitrag die wichtigsten Daten aus dem Experiment vorgestellt, das in Belarus im Sommer 2022 durchgeführt wurde. Die Untersuchung wurde in eine Online-Umfrage aufgenommen, die Chatham House vom 4. bis 21. August 2022 (Die Ausgangsdaten des Experiments sind beim Autor erhältlich: stasgorelik@gwmail.gwu.edu). Das Experiment wurde vorab vom Institutional Review Board der George-Washington-Universität auf seine ethische Akzeptabilität geprüft und angenommen. Rund 800 Befragte haben die Fragen der Studie beantwortet, nachdem sie zuvor nach dem Zufallsprinzip eine von zwei Vignetten erhalten hatten. In einer Kontrollgruppe wurde die Hälfte der Teilnehmer*innen des Experiments daran erinnert, dass 2020 in Belarus Demonstrationen gegen Lukaschenka stattfanden. Die andere Hälfte der Stichprobe erhielt den gleichen Text der allerdings um die Information ergänzt, dass neben den oppositionellen Demonstrationen auch recht große Versammlungen zur Unterstützung von Lukaschenka stattfanden. Die beiden Gruppen unterschieden sich ursprünglich nicht wesentlich voneinander, was die wichtigsten sozialen und demographischen Merkmale und den Grad der Unterstützung für das Regime anbelangt. Anschließend wurden den Respondent*innen drei Fragen vorgelegt. Sie konnten der Aussage zustimmen, dass bei den Wahlen Lukaschenka oder eben, im Gegenteil, Zichanouskaja über 50 Prozent der Stimmen erhalten haben. Sie sollten zudem einschätzen, wie freiwillig die Teilnahme der Belarus*innen an den regierungsfreundlichen Demonstrationen war.

Text der Vignetten:

Kontrollgruppe: 2020 fanden in Belarus Demonstrationen und Aktionen gegen Lukaschenka und für die Ansetzung neuer Präsidentschaftswahlen statt.

Regierungsfreundliche Versammlungen: 2020 fanden in Belarus Demonstrationen und Aktionen gegen Lukaschenka und für die Ansetzung neuer Präsidentschaftswahlen statt. Gleichzeitig fanden auch Demonstrationen und Aktionen zur Unterstützung für Lukaschenka statt, an denen Tausende Menschen teilnahmen.

Text der anschließenden Fragen (post-treatment questions):

Frage 1: Inwieweit stimmen Sie der Behauptung zu oder nicht, dass Lukaschenka bei den Wahlen 2020 über 50 Prozent der Stimmen errang?

Frage 2: Und inwieweit stimmen Sie der Behauptung zu oder nicht, das Zichanousksaja bei den Wahlen 2020 über 50 Prozent der Stimmen errang ?

Frage 3: Was die Demonstrationen und Aktionen zur Unterstützung für Lukaschenka anbelangt, die 2020 nach den Wahlen stattfanden: Inwieweit stimmen Sie der Behauptung zu oder nicht, dass die meisten einfachen Leute an diesen Demonstrationen und Aktionen teilnahmen, dies wegen Druck durch Arbeitgeber oder gegen eine Bezahlung taten?

Bevor ich zur Analyse der Antworten übergehe, ist anzumerken, dass die Schlussfolgerungen aus diesem und anderen Experimenten mit Vorsicht zu genießen sind.

  • Diese Umfrage dürfte wohl kaum einen repräsentativen Querschnitt der öffentlichen Meinung darstellen. Wie Chatham House zu seinen Berichten anmerkt, erfassen seine Online-Umfragen in Belarus nur die städtische Bevölkerung, die Zugang zum Internet hat. Außerdem gab es bei dem hier analysierten Experiment deutlich mehr Frauen (60 %) als Männer (40 %), was allerdings keinen wesentlichen Einfluss auf die unten vorgestellten Ergebnisse hat. Eine eingehendere Analyse dieses Problems, auf dessen Grundlage diese Schlussfolgerung erfolgt, ist in dem Text nicht enthalten. Auch ist angesichts der zunehmenden Repressionen wohl zurecht davon auszugehen, dass ein beträchtlicher Teil der Belarus*innen sich schlicht weigert, an dieser oder anderen Umfragen teilzunehmen, wo sie nach politischen Ansichten gefragt werden. Daher werden in den Stichproben von Chatham House und anderen Forschungsorganisationen vor allem Belarus*innen erfasst, die entweder nichts von den politischen Repressionen wissen oder diese für gerechtfertigt halten (höchst loyale Anhänger des Regimes). Oder aber sie sind bereit, das Risiko einzugehen, ihre Ansichten zu äußern. Wie breit diese Gruppen allerdings in der Gesamtbevölkerung vertreten sind, ist eine offene Frage.
  • In dem Experiment hatten die Respondent*innen Ereignisse zu bewerten, die fast zwei Jahre zurücklagen, und ihre Antworten könnten sich natürlich nicht nur auf die eigenen Erinnerungen an die Krise von 2020 stützen. Mit großer Wahrscheinlichkeit haben auch die Ereignisse, die es seither in Belarus und der Welt gab, auf die Ansichten der Befragten Einfluss gehabt. Nichtsdestotrotz erlaubt das hier beschriebene Experiment, angesichts fehlender alternativer Daten, zumindest eine exploratorische (vorläufige) Vorstellung davon, wie regierungsfreundliche Demonstrationen sich auf die öffentliche Meinung auswirkten. Es ist eine der möglichen Methoden zur Erforschung dieses Phänomens.
  • In dem Beitrag wird nur die visuelle Analyse der wichtigsten Ergebnisse des Experiments vorgelegt, was allerdings trotz des Fehlens streng formaler Tests (wie etwa OLS-Regressionen) recht detaillierte Schlussfolgerungen erlaubt.
  • Zu erwähnen ist, dass die Antworten der Befragten in Übereinstimmung mit deren politischen Präferenzen dargestellt werden. Hierzu haben wir die Standardfrage von Chatham House zur Unterstützung für Lukaschenka eingesetzt, mit deren Hilfe seine Anhänger*innen (28,47 %) und seine Gegner*innen (26,44 %) identifiziert wurden, wie auch jene mit einer neutralen Haltung (45,1 %). Aus Platzgründen lasse ich die Frage ausgeklammert, inwieweit diesen Antworten zu politischen Ansichten geglaubt werden kann. Dennoch gehe ich insgesamt davon aus, dass selbst wenn viele Befragte ihre Zustimmung zu Lukaschenka oder eine »neutrale« Haltung vorgetäuscht haben sollten, dies wohl kaum den Kern der Ergebnisse verändern dürfte.
Die wichtigsten Ergebnisse

Grafik 3 auf S. 7 zeigt, wie die Befragten die Wahlergebnisse Lukaschenkas in Abhängigkeit von den im Experiment erhaltenen Informationen. Wer sich als Anhänger*in des Regimes bezeichnete, war dann noch stärker von einem Sieg Lukaschenkas, als er/sie die Vignette über die Demonstrationen zu seiner Unterstützung gelesen hatten. Dennoch ist die Zunahme des Anteils dieser Befragten (um 7,8 Prozentpunkte) beim Szenario regierungsfreundliche Demonstrationen statistisch nicht relevant (Chi-Quadrat-Test). Andererseits nahm unter den »Neutralen« unter den gleichen Bedingungen der Anteil derjenigen zu (um 7,5 Prozentpunkte), die nicht zustimmten, dass Lukaschenka 2020 über die Hälfte der Stimmen errungen haben könnte. Womöglich signalisierten Demonstrationen zur Unterstützung des herrschenden Regimes für Wähler mit einer unklaren politischen Haltung nicht, dass das Regime populär ist, sondern eher, dass es nicht vom eigenen Rückhalt überzeugt ist. Die Antworten der offenen Gegner*innen Lukaschenkas schließlich waren bei beiden Szenarien ungefähr gleich verteilt.

Aus Grafik 4 auf S. 7 geht hervor, wie die Teilnehmer*innen am Experiment die Werte für Zichanouskaja bei den Wahlen 2020 einschätzten. Die Befragten, die ihre Unterstützung für das herrschende Regime bekundet hatten, änderten beim Szenario regierungsfreundliche Demonstrationen ihre Ansichten zu dieser Frage kaum. In der Gruppe der »Neutralen« jedoch, die die Informationen über Demonstrationen für Lukaschenka erhalten hatten, verringerte sich die Anzahl derjenigen beträchtlich (um fast 9 Prozentpunkte), die meinten, dass Zichanouskaja nicht die Mehrheit errungen haben könnte. Dementsprechend stieg die Zahl derjenigen, die von ihrem Sieg überzeugt waren, wie auch jener, die sich mit einer Antwort schwertaten. Was die am stärksten oppositionell eingestellten Befragten angeht, so stieg bei denen überraschend der Anteil jener (um fast 8 Prozentpunkte), die der Ansicht nicht zustimmten, dass Zichanouskaja über 50 Prozent errungen haben könnte. Allerdings ist zu erwähnen, dass es in der Kontrollgruppe nur zwei dieser Befragten gab (unter 104). Unter diesen Umständen, wenn nämlich nur vereinzelte Teilnehmer*innen eine bestimmte Antwort wählen, sind sämtliche festgestellten Effekte mit äußerster Vorsicht zu behandeln.

Die in den Grafiken 3 und 4 auf S. 7 vorgelegte visuelle Analyse besagt allgemein, dass regierungsfreundliche Demonstrationen von den Befragten wohl nicht als überzeugende Signale für eine Popularität Lukaschenkas wahrgenommen wurden.

Wie ließen sich diese Ergebnisse erklären? Es gibt mindestens zwei potenzielle Gründe, die hier eingehender zu betrachten sind.

Zum einen könnte man annehmen, dass viele Belarus*innen – insbesondere neutral oder oppositionell eingestellte – der Ansicht sind, dass die meisten, die auf regierungsfreundliche Demonstrationen gehen, dies aufgrund von Druck durch den Arbeitgeber oder für Geld tun. In der Tat hat es Ende 2020 in unabhängigen belarusischen Medien und sozialen Netzwerken recht viele Meldungen hierüber gegeben. Allerdings waren nur rund 38 Prozent der Teilnehmer*innen dieser Ansicht, wie aus den Antworten auf die die dritte Post-Treatment-Frage hervorgeht. Zudem verändern sich die oben beschriebenen Effekte nur unerheblich, wenn man nur die Antworten jener Befragten nimmt (rund 62 %), die meinten, dass Zwang oder Geld die entscheidenden Motive waren, 2020 an regimefreundlichen Demonstrationen teilzunehmen.

Zweitens wurde im Experiment zwar gesagt, dass Tausende Belarus*innen für Lukaschenka auf die Straße gingen, doch darf man annehmen, dass die oppositionellen Proteste dennoch in den Augen vieler Befragter ein um ein Mehrfaches größeres Ausmaß hatten. Dementsprechend war es schwer für sie, ihre Meinung darüber zu ändern, wer bei den Wahlen 2020 den Sieg errungen haben könnte. Da die Teilnehmer*innen des Experiments lediglich an reale Ereignisse »erinnert« wurden (sie also nicht aufgefordert wurden, sich hypothetisch Demonstrationen vor Augen zu führen), konnten die Vignetten keine Informationen über tatsächlich große Aktionen für Lukaschenka enthalten, die der Größe der Opposition entsprachen – und zwar schlicht deshalb, weil es sie nicht gab.

Schlussbemerkungen

Zum Schluss ist erneut zu betonen, dass diese Studie lediglich als eine exploratorische aufgefasst werden sollte. Nachfolgende Umfrageexperimente zum Thema regierungsfreundliche Demonstrationen sollten auf der Basis von repräsentativeren Stichproben durchgeführt werden. Sie sollten auch Treatments beinhalten, in denen auch Versammlungen und Demonstrationen gleicher Größe beschrieben sind. Darüber hinaus könnte eine weitere Methode zur Erforschung der regimefreundlichen Mobilisierung und ihrer Folgen darin bestehen, Umfragen gleich während Protesten und den Gegenaktionen von Seiten des Staates durchzuführen, falls es in Belarus erneut dazu kommen sollte. Untersuchungen dieser Art, die in »Realzeit« vorgenommen werden, könnten zu den verlässlichsten Datenquellen werden.

Der Fall Belarus muss zudem nach Möglichkeit mit anderen autoritären Regimen verglichen werden, wo die Auswirkungen regierungsfreundlicher Mobilisierung sich völlig anders darstellen könnten. So kommt etwa die Polarisierung der politischen Ansichten in Belarus immer stärker zum Tragen: Den jüngsten Daten von Expert*innen des Projektes V-Dem zufolge ist die politische Polarisierung in Belarus eine der stärksten weltweit. Daher könnten regierungsfreundliche Demonstrationen – oder jedwede andere vom Staat initiierte Formen der Einflussnahme – nur eine sehr geringe Wirkung auf die Gegner Lukaschenkas haben, für die Lukaschenkas Regime unter allen Umständen bar jeder Legitimität dasteht. Gleichzeitig könnte sich etwa herausstellen, dass Lukaschenkas Anhänger*innen Informationen darüber ignorieren, dass viele Teilnehmer*innen an regierungsfreundlichen Demonstrationen dies auf Anweisung ihrer Vorgesetzten tun, und nicht wegen des aufrichtigen Wunsches, ihre Unterstützung für das Regime zu zeigen. In anderen Ländern könnte dieses Problem weniger prägnant sein. Etwa in Russland, wo die gegenseitige Ablehnung der Gegner*innen und Anhänger*innen Putins noch keine extremen Forman angenommen hat.

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

Lesetipps / Bibliographie

  • Aytaç, S. E.; S. C. Stokes: Why bother?: Rethinking participation in elections and protests. Cambridge University Press: Cambridge 2019.
  • Buckley, N.; K. L. Marquardt, O. J. Reuter, K. Tertytchnaya: Endogenous popularity: How perceptions of support affect the popularity of authoritarian regimes [The Varieties of Democracy Institute: Working Paper, Series 2022:132], auch in: American Political Science Review, 2022, S. 1–7; https://www.v-dem.net/media/publications/Working_Paper_132.pdf.
  • Douglas, N.; R. Elsner, F. Krawatzek, J. Langbein, G. Sasse: Belarus at Crossroads: Attitudes on Social and Political Change [=ZOiS Report, Nr. 3/2021], März 2021; https://www.zois-berlin.de/fileadmin/media/Dateien/3-Publikationen/ZOiS_Reports/2021/ZOiS_Report_3_2021.pdf.
  • Ekiert, G.; E. J. Perry, X. Yan (Hg.): Ruling by other means: State-mobilized movements. Cambridge University Press: Cambridge 2022.
  • Hellmeier, S.; N. B. Weidmann: Pulling the strings? The strategic use of pro-government mobilization in authoritarian regimes, in: Comparative Political Studies, 53.2020, Nr. 1, S. 71–108.
  • Reuter, O. J.: D. Szakonyi: Electoral manipulation and regime support: survey evidence from Russia, in: World Politics, 73. 2021, Nr. 2, S. 275–314.
  • Smyth, R.; A. Sobolev, I. Soboleva: A well-organized play: Symbolic politics and the effect of the pro-Putin rallies, in: Problems of Post-communism, 60.2013, Nr. 2, S. 24–39.

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