Belarus-Analysen

Ausgabe 65 (31.03.2023) — DOI: 10.31205/BA.065.01, S. 2–6

Politischer Aktivismus von Frauen in Belarus:
 Spuren der Zeit angesichts des Wandels

Von Alena Aharelysheva (European College of Liberal Arts in Belarus – ECLAB)

Zusammenfassung
Die Proteste von 2020 haben die Tätigkeit der belarusischen Aktivistinnen und deren Ergebnisse deutlicher sichtbar werden lassen. Der Umstand, dass Frauen in hohem Maße in das politische Geschehen eingebunden sind, wäre ohne die jahrelange Arbeit von Frauen- und Genderorganisationen in Belarus nicht möglich gewesen. Gegenwärtig, da sich die Spezifik des Aktivismus in Belarus aufgrund des Drucks und der Repressionen durch den Machtapparat geändert hat, ist der Aktivismus von Frauen erneut nicht mehr sichtbar. In diesem Beitrag werden die wichtigsten Ergebnisse einer Forschungsarbeit über belarusische Aktivistinnen vorgestellt, die die Autorin 2020 und 2022 unternommen hat. Darüber wird eine kurze Analyse des Aktivismus von Frauen in Belarus angestellt und eine Bewertung der Tätigkeit der belarusischen demokratischen Kräfte hinsichtlich der Gendersensibilität vorgenommen.

Kurze Geschichte des Aktivismus von Frauen in Belarus

Der politische Aktivismus von Frauen begann sich sofort, nachdem Belarus 1991 seine Unabhängigkeit erlangt hatte, produktiv zu entwickeln. Bereits Anfang der 2000er Jahre waren über 60 landesweite und regionale Organisationen und Initiativen aktiv, die sich mit Fragen der Frauenrechte und der Gleichstellung der Geschlechter beschäftigten. Viele befassten sich mit Problemen genderbedingter Gewalt (es wurden Schutzräume für betroffene Frauen und deren Kinder sowie ständig erreichbare Nothilfe-Hotlines für Opfer genderbedingter und häuslicher Gewalt usw. betrieben). Auf Genderfragen spezialisierte NGOs lobbyierten Gesetzesänderungen zur Gewährleistung einer Gleichstellung der Geschlechter, schufen Bildungsprogramme zur Stärkung von Gendersensibilität, und sie setzten sich dafür ein, dass es für Frauen und Männer einen gleichberechtigten Zugang zum Markt entlohnter Beschäftigung gibt. Frauenorganisationen stellten dort Soforthilfe für vulnerable Gruppen bereit, wo der Staat dies entweder nicht wahrnahm oder aber die Dimension der zu lösenden sozialen Probleme unterschätzte. Dem »Genderdigest« des »European College of Liberal Arts in Belarus« (ECLAB) zufolge gab es 2019 in Belarus über 37 Genderorganisationen und -initiativen, die im Laufe des Jahres 470 Veranstaltungen, 10 Studien und 2.500 Beratungen durchführten; es wurden 40 Medienprodukte herausgegeben und 12 Advocacy-Kampagnen unternommen. Allerdings blieb ihre Arbeit bis zu den Protesten von 2020 gegenüber den mit erheblichen administrativen Ressourcen ausgestatteten staatlichen Organisationen kaum sichtbar. So ergab eine 2019 von Pact durchgeführte Umfrage, dass 70 Prozent der Belarus:innen nicht wussten, dass der Begriff »Genderungleichheit« existiert oder was er bedeutet. Gleichzeitig gaben nur 3,9 Prozent der Männer und 6,9 Prozent der Frauen an, dass sie persönlich Genderungleichheit erfahren haben.

Der belarusische Staat hat formal eine Gender-Agenda erstellt. 1996 wurde der erste Nationale Aktionsplan zur Verbesserung der Situation der Frauen verabschiedet. 2000 wurde der Nationale Rat für Genderpolitik beim Ministerrat der Republik Belarus eingerichtet. Das Regime von Lukaschenka setzte das Thema Gleichstellung der Geschlechter als einen relativ ungefährlichen Weg zur Entwicklung demokratischer Prozesse ein, mit dem darüber hinaus auch Finanzmittel von außen akquiriert werden konnten. So lag Belarus beispielsweise 2019 unter 149 Ländern auf dem 28. Rang des »Gender Development Index« und 2020 auf Rang 29 von 153 Ländern beim Index des »Global Gender Gap Reports«. Allerdings stellten die NGOs Unterschiede zwischen den Plänen zur Förderung der Gleichstellung der Geschlechter und dem tatsächlichen Vorgehen der Behörden fest. Darüber schrieben sie in den Alternativberichten an die UNO zur Wahrung der Menschenrechte, zur Gleichstellung der Geschlechter und zur Wahrung der Rechte von Frauen. Ein Beispiel hierfür war, dass Lukaschenka ein Gesetz zur Bekämpfung häuslicher Gewalt blockierte. Ein Gesetzentwurf, der über mehrere Jahre von Frauenorganisation und dem Innenministerium ausgearbeitet worden war, wurde 2018 blockiert, nachdem religiöse Organisationen sich in einen gemeinsamen Brief an die Präsidialadministration gegen den Entwurf gewandt hatten.

Die Proteste nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen 2020 führten zur größten Repressionswelle in der Geschichte von Belarus. In der Folge wurden die meisten Frauen- und Genderorganisationen in Belarus aufgelöst oder gezwungen, aufgrund von politischem Druck ihre Existenz zu beenden. Die meisten Aktivistinnen mussten das Land verlassen.

Die Rolle des Jahres 2020 für die Entwicklung des Aktivismus von Frauen

Bei der Protestwelle 2020 schlossen sich dem Aktivismus viele neue Frauen an, die sich zuvor nicht als Aktivistinnen bezeichnet hatten (und viele tun dies auch heute nicht). Sie halten die Arbeit, die sie machen, für »natürlich«, »unkompliziert« oder »routinemäßig«. Die Ereignisse von 2020 holten die Frauen aus den Bereichen Bildung, soziale Fürsorge und Kultur heraus und brachten sie zur politischen Agenda und auf Landesebene in den öffentlichen Raum. Daneben begann sich ein Graswurzelaktivismus zu entwickeln. Er zielte darauf ab, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die nicht in Organisationsstrukturen eingebunden waren.

Während die ersten beiden Frauenmärsche von 2020, die sich gegen das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte gegenüber den Prostierenden im August 2020 wandten, praktisch ohne Festnahmen abliefen, waren die folgenden Märsche von grausamer Unterdrückung geprägt. Der Staat beschuldigte die auf Genderfragen spezialisierten Organisationen, sie würden die Frauenmärsche finanzieren und organisieren. Im Sommer 2021 erfolgten in ganz Belarus massenweise Hausdurchsuchungen bei zivilgesellschaftlichen Organisationen. Mit Stand vom März 2023 sind in Belarus 809 NGOs aufgelöst worden. 435 haben sich aufgrund des politischen Drucks selbst aufgelöst, darunter 55 Organisationen, die zu Genderthemen arbeiten. Allerdings setzen mehr als 10 dieser Initiativen ihre Arbeit aus dem Ausland heraus fort.

Die Verhaftungen und Strafurteile für Mütter vieler Kinder, wie auch der Umstand, dass es über 160 weibliche politische Gefangene gibt (Stand: Anfang 2023), zeigen, dass der belarusische Staat deren politisches Vorgehen ernstnahm und die Aktivität von Frauen als Gefahr für die Stabilität des autoritären Systems betrachtet.

Genderthemen und die demokratischen Kräfte

Das Büro von Swjatlana Zichanouskaja, der Anführerin demokratischen Kräfte von Belarus, hat für verschiedene Themenbereiche Beauftragte ernannt (Bildung und Wissenschaft, auswärtige Angelegenheiten, Wirtschaft, parlamentarische Zusammenarbeit und Verfassungsreform usw.). Es hat allerdings bis in die jüngste Zeit die Gleichstellung der Geschlechter nicht formal auf seine Agenda gesetzt. Und es hat keine hierfür zuständige Person ernannt. Zudem wird argumentiert, dass eine öffentliche Artikulierung von Genderfragen angeblich Personen, die Genderwerte nicht teilen, gegen die demokratischen Kräfte aufbringen könnte (Information der Autorin). Das am 9. August 2022 gebildete Vereinigte Übergangskabinett bestand bei seiner Einrichtung aus vier Männer, die sich mit Fragen des Machtübergangs, der Rechtsordnung, der nationalen Sicherheit, der Verteidigung usw. befassen sollten. Eine Beauftrage für soziale Fragen, die sich, wie anzunehmen ist, auch mit Genderfragen befassen wird, wurde erst im Dezember 2022 als Reaktion auf begründete Kritik ernannt.

Eine eigene Beauftragte für die Gleichstellung der Geschlechter, wie auch die Hinzuziehung von Expertinnen in diesem Bereich zu den bestehenden Strukturen würde es erlauben, die Sensibilität für genderbasierte und andere Arten der Diskriminierung bei den demokratischen Kräften insgesamt zu erhöhen.

Ergebnisse der Studie »Formen der politischen Partizipation und des Aktivismus von Frauen« (wird demnächst veröffentlicht)

Die Autorin hat als Mitglied einer Forschungsgruppe im Rahmen der Feministischen Gruppe des Koordinationsrates im September / Oktober 2020 und im Juli 2022 eine Studie durchgeführt. Ziel war es, die Veränderungen zu dokumentieren, die sich beim Aktivismus von Frauen in Belarus vollziehen. Zudem sollte für ein besseres Verständnis der Bedürfnisse und Interessen von Aktivistinnen gesorgt werden. Ein gesondertes Ziel der Studie war es, dem politischen Aktivismus von Frauen in einer Situation nachzuspüren, in der sich sämtliche Protesttätigkeit sich in den Untergrund verlagert hat, in der der Aktivismus von Frauen nicht sichtbar ist und unterschätzt wird, weil er sich auf den privaten Bereich konzentriert, online erfolgt oder mit »traditionellen Frauenbereichen« der Fürsorge und emotionalen Arbeit verknüpft ist.

An der Internetbefragung nahmen 906 Aktivistinnen (2020) bzw. 1126 Aktivistinnen (2022) teil, die unterschiedlichen Alters waren und verschiedene Berufe ausübten. Die Anzahl der befragten Frauen und ihre Verteilung nach sozialen oder demographischen Merkmalen erlaubt es, die Stichprobe als repräsentativ zu betrachten und die Ergebnisse auf alle belarusischen Aktivistinnen hochzurechnen.

Für die Zwecke dieser Studie wurden drei Kategorien politischen Aktivismus unterschieden, an denen sich Frauen aus Belarus beteiligen:

  • Graswurzelaktivismus
  • entlohnte Tätigkeit und/oder Freiwilligenarbeit für eine NGO
  • Arbeit und/oder Freiwilligenarbeit im Rahmen formalisierter politischer und zivilgesellschaftlicher Institutionen.

Faktoren und Formen der Partizipation

Die Ereignisse von 2020 waren ein Katalysator für die Einbeziehung von Frauen in die Arbeit von Aktivist:innen. Über 50 Prozent der befragten Frauen heben hervor, dass sie nach dem August 2020 zu Aktivistinnen wurden, weil sie auf die Brutalität der Regierung gegenüber friedlichen Protestierenden reagieren wollten, die gegen die gefälschten Wahlen aufbegehrten, aber auch auf einen Wandel im Land hofften. Nach dem August 2020 bestanden die meisten Aktivitäten darin, an den Protesten teilzunehmen, Informationen zu verbreiten, den Widerstand durch Spenden finanziell zu unterstützen, in Hofgemeinschaften zusammenzuarbeiten und den politischen Gefangenen Hilfe zu leisten (medizinische und logistische Hilfe sowie mit Lebensmitteln und Briefen).

Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar engagierten sich belarusische Aktivistinnen bei der Hilfe für Ukrainer:innen (mit Geld, Essen, Kleidung usw.), setzten dabei aber auch ihren Aktivismus in belarusischer Richtung fort. An der Hilfe für die Ukrainer:innen beteiligten sich 85 Prozent der im Ausland lebenden belarusischen Aktivistinnen und 59 Prozent der in Belarus lebenden. Jede zweite der befragten Aktivistinnen war bei der Verbreitung von Informationen über den Verlauf der Kriegshandlungen in der Ukraine, über Antikriegs-Proteste sowie von Informationen über den Krieg tätig, die von den staatlichen Medien verschwiegen werden. Und jede dritte Aktivistin hilft den Menschen in der Ukraine finanziell. Gleichzeitig nehmen die Frauen weiterhin an Protestaktionen teil: Über 40 Prozent der befragten Aktivistinnen in Belarus und rund 70 Prozent derjenigen, die nicht in Belarus leben, haben sich nach dem Februar 2022 an Protestaktionen gegen den Krieg beteiligt.

Aktivismus als dritte Arbeit

Der belarusische Aktivismus von Frauen geht trotz des großen Stresses und der Ermüdung weiter; und er muss sich weiterhin mit entlohnter Arbeit und mit Hausarbeit vereinbaren lassen. In den zwei Jahren bleibt das Niveau des Stresses und der Ermüdung bei belarusischen Aktivistinnen hoch: Über 70 Prozent der Befragten bewerten das Niveau auf einer zehnstufigen Skala mit sieben oder mehr. Ungeachtet des schwierigen psychischen und emotionalen Zustands hat über die Hälfte der Befragten nicht vor, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen, und zieht es vor, aus eigener Kraft zurechtzukommen. Allerdings räumen die Befragten ein, dass frau sich um sich selbst kümmern müsse. Der Kampf mit Stress und Ermüdung sind Teil des Alltags.

Die große Ermüdung und der Stress könnten Folge der dreifachen »Beschäftigung« einer Mehrheit der befragten Aktivistinnen sein: Neben der Erwerbstätigkeit müssen die Aktivistinnen die Last der Fürsorge für den Haushalt und die Angehörigen stemmen, sowie meist dazu noch die Tätigkeit als Aktivistin. Es war zu beobachten, dass zwischen 2020 und 2022 die Zeit für unbezahlte Arbeit von 35,5 Prozent auf 61,6 Prozent zugenommen hat. Diese Zunahme ist auf die Notwendigkeit zurückzuführen, den Ukrainer:innen nach dem Februar 2022 Hilfe zu leisten. Meist erfolgte das auf Kosten der Zeit, die für häusliche Erledigungen aufgewendet wird. Das größte Dilemma bestand für die Befragten darin, ihre Aufmerksamkeit auf die zu verteilen, die Unterstützung benötigen. Insgesamt ist die Doppelbelastung, wenn sich nämlich eine Frau neben der Erwerbstätigkeit auch um den Haushalt und die Familie kümmern muss, für die meisten Belarusinnen Realität.

Selbstidentifizierung

Der politische Aktivismus von Frauen hat sich in Belarus anders entwickelt als im Westen und erfolgte nahezu die gesamte Zeit seit Erlangung der Unabhängigkeit unter einem autoritären politischen Regime. Das führte zu einer Reihe Besonderheiten. Die Transformationsprozesse im Westen waren bei sämtlichen drei Wellen des Feminismus für die Belarusinnen nicht aktuell. Die Erfahrungen, dass Frauen Agency entwickeln, öffentlich protestieren, sich aus Solidarität massenhaft zusammenschließen und politisch vertreten sind, waren für Belarusinnen bis vor kurzem vielfach nicht zugänglich. Jetzt sind Fragen mangelnder Gleichstellung der Geschlechter und der Diskriminierung in einem gewissen Maße marginal. Dadurch ist eine Diskrepanz zwischen der Tätigkeit der Aktivistinnen und dem entstanden, wie sie sich selbst identifizieren.

So werden die Informationsarbeit und die verschiedenen Arten der Hilfe für Ukrainer:innen von den Befragten selbst nicht immer als Aktivismus aufgefasst. Jede zweite der Befragten verwirklicht ihren Aktivismus individuell, und jede fünfte macht dies mit Gleichgesinnten, die keine Initiative und/oder Organisation repräsentieren. Eine solche Arbeit kann zwar flexibler erfolgen und sicherer sein, weil sie schwieriger aufzuspüren ist, gleichzeitig ist aber auch weniger sichtbar für die Medien und die Gesellschaft. Das könnte erklären, warum der Aktivismus von Frauen in Belarus fast unsichtbar ist und die politische Beteiligung gering. Ein äußerst geringer Anteil der Aktivistinnen sind Mitglieder von Organisationen oder Parteien, was auf den Umstand zurückzuführen ist, dass diese praktisch sämtlich aufgelöst wurden: 14,8 Prozent der Befragten leisten Freiwilligenarbeit in gesellschaftlichen Organisationen, 5,9 Prozent arbeiten in NGOs und nur 1,6 Prozent sind Mitglied einer politischen Partei.

Die meisten der befragten Frauen halten ihre Betätigung nicht für Aktivismus und insbesondere sich selbst nicht für Aktivistinnen, auch wenn das an anderer Stelle des Fragebogens bei anderen Themen der Umfrage Aktivismus hervorgehoben wurde, und sie viel Zeit für Aktivismus aufwenden. Das führt uns zurück zu dem in Belarus recht weit verbreiteten Problem, dass Frauen ihre Tätigkeit nicht als Aktivismus definieren und geneigt sind, die Bedeutung ihrer Arbeit zu unterschätzen.

Barrieren für den Aktivismus

In Belarus ist jetzt praktisch jede aktivistische Tätigkeit mit einem großen Risiko verwaltungsrechtlicher oder strafrechtlicher Verfolgung verknüpft, da sie von der Regierung als politische Betätigung aufgefasst wird (selbst bei »per definitionem politikfernen« sozialen oder kulturellen Fragen). Der Staat stellt folgende Verbindung her: »Aktivismus jeder Art sind gegen den Staat gerichtete Handlungen«.

Mehr als die Hälfte der befragten Aktivistinnen nannten als Barrieren, die ihrem Aktivismus entgegenstehen, folgende:

  • das hohe Risiko in Form von politischen Repressionen
  • Angst um Angehörige
  • Burnout.

90 Prozent derjenigen, die vor allem politischen Risiken sehen, befinden sich in Belarus: »Bei uns herrscht Totalitarismus. Nach der Hausdurchsuchung habe ich vier Monate mein Telefon und meinen Computer nicht zurückbekommen. Und das für Briefe an politische Gefangene!« Für ein Drittel der Befragten stellt das Fehlen eines Teams für gemeinsame Aktionen und der Verlust des Vertrauens in die Produktivität ihrer Arbeit ein Problem dar: »Ich bin ganz allein, die einen sind ausgewandert, ein großer Teil meiner Verwandten, engen Freunde und Gleichgesinnten wurden ins Gefängnis geworfen«; »Im Land hier bekommen wir unsere Kraftlosigkeit und Nutzlosigkeit zu spüren«. Lediglich 0,4 Prozent der Befragten sehen keinerlei Barrieren für ihre Tätigkeit.

Migration und Aktivismus

Die totale Säuberung des zivilgesellschaftlichen Sektors und die politische Verfolgung belarusischer Aktivistinnen haben zu einer massenhaften Emigration aus Belarus geführt. Die größten Emigrationswellen erfolgten nach den Präsidentschaftswahlen 2020 und nach dem Beginn der militärischen Invasion Russlands in die Ukraine im Februar 2022 zu beobachten. Die Studie über die belarusischen Aktivistinnen ergab, dass im September 2020 nur 2,5 Prozent der befragten Aktivistinnen außerhalb von Belarus lebten, wonach dieser Anteil bis zum Juli 2022 bis auf fast 40 Prozent anstieg. Dabei sind Polen und Litauen die beiden populärsten Migrationsziele. Aufgrund des Krieges, der Wirtschaftssanktionen und der hohen Wahrscheinlichkeit von politischer Verfolgung haben sich nur 1,1 Prozent der Befragten in Russland niedergelassen.

Die zweite Immigrationswelle 2022 brachte für die gerade erst entstandenen Aktivistinnennetzwerke eine Destabilisierung und Überlastung mit sich. Sie verschärfte die Frage der Ressourcen und der (Un)Sichtbarkeit ihrer Arbeit, die sich seit Kriegsbeginn vielfach auf eine Soforthilfe für die Betroffenen richtete (Sammlung von Medikamenten für Opfer sexualisierter Gewalt gegen Frauen und Kinder, Vorbeugung gegen Menschenhandel, Schaffung von Möglichkeiten für eine Abtreibung, Versorgung von Geflüchteten mit Wohnraum, Nahrung und Dingen des Primärbedarfs). Unter diesen Bedingungen mangelt es vielen Frauen nun an Ressourcen und Kräften, um die Sichtbarkeit und soziale Relevanz ihrer Arbeit zu gewährleisten. Die öffentlichen Plattformen und die wichtigen politischen Entscheidungen werden in Zeiten heftiger sozialer Krisen in der Regel von Männern übernommen. Daher ist eine eingehende Analyse der Situation notwendig, um Wege zur Überwindung dieser Ungleichstellung zu finden.

Empfehlungen

Aufgrund der Studie lassen sich folgende genderorientierte Empfehlungen an Organisationen, Initiativen und Privatperson formulieren, die sich bei ihrer Tätigkeit auf die Entwicklung demokratischer Prozesse in Belarus konzentrieren.

I. Bildung

Die feministische Bildungsarbeit für belarusische Frauen sollte weiterentwickelt werden, da gerade eine feministische Optik es den Frauen ermöglicht, rundum als Aktivistin zu selbstidentifizieren und im Bereich des politischen Aktivismus deutlicher sichtbar zu werden.Bei der Ausarbeitung von Bildungsprogrammen für Belarus:innen sollte die Zweckhaftigkeit eines auf Trauma und Gewalt beruhenden Ansatzes geprüft werden. So befinden sich beispielsweise viele Frauen in Belarus aufgrund anhaltender systematischer Gewalt von Seiten des Staates in einem traumatisierten Zustand. Die Gewalt ist entweder unmittelbarer Natur, etwa bei Festnahmen, oder aber mittelbar, wenn konkrete Hilfsdienste für Frauen Dienstleistung wegfallen, wenn wegen der massenhaften Repressionen und der Unterdrückung die bürgerschaftliche Position nicht ausgedrückt werden kann und die Frauen Angst um ihre Kinder haben müssen (verstärkte Ideologisierung des Schulunterrichts; Entzug des Sorgerechts von Aktivistinnen durch den Staat).

II. Etablierung von Frauen in Führungspositionen

Die Aktivität zur Förderung von Frauen im politischen und öffentlichen Leben sollte verstärkt werden. Ebenso sollte das Potenzial von Expertinnen weiterentwickelt werden, und zwar sowohl erfahrener wie auch junger (Rhetoriktraining, Coaching, PR-Förderung, Unterstützung von Expertinnen-Projekten)

III. Förderung von genderorientierten Organisationen und Initiativen

Es sollten in Belarus und darüber hinaus Rehabilitationsprogramme für Frauen aufgelegt werden, die politische Gefangene waren. Ebenso sollten Beschäftigungs- und Umschulungsprogramme für Frauen geschaffen werden, die aus politischen Motiven entlassen wurden.Der Umfang der Förderung sollte ausgeweitet werden: Anstelle einer geschlossenen Liste förderungswürdiger Dienste sollte eine flexible Förderliste geschaffen werden, die sich an den Bedürfnissen der Aktivistinnen orientiert (z. B. Befriedigung humanitärer Bedürfnisse wie Nahrung, Medikamente, Miete und Lebenshaltungskosten).Es sollte ein Übergang stattfinden weg von einem Vorbeugungsparadigma gegen Burnout hin zu strukturellem Wohlergehen: In die Projektarbeit sollten Komponenten für psychologische Resilienz, gerechte Entlohnung, Krankenversicherung und Krankengeld aufgenommen werden.

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

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