Belarus-Analysen

Ausgabe 58 (23.12.2021), S. 4–5

(K)Eine Migrationskrise in Belarus? Die EU und die Funktionalisierung von Migration

Von Franck Düvell (Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien, Universität Osnabrück)

Stand: 30. November 2021

Im Mai 2021 drohte Lukaschenko der EU als Antwort auf Sanktionen der EU mit einer Öffnung der Grenzen für Migration und Drogen. Seit Juni zogen Migrant_innen in größerer Zahl durch Belarus in die EU, zunächst nach Litauen und nachdem dort die Grenze abgeriegelt wurde nach Polen. Inzwischen sind 4.200 unerlaubt nach Litauen eingereist, zudem wurden 7.000 Fälle von Abweisungen registriert, seit Anfang August gingen die Zahlen zurück und stehen seit September nahe Null. Stattdessen verschob sich die Migration durch Belarus ab August an die polnische Grenze, verschiedene Quellen berichten von um die 4,000 Einreisen, 10,000 Migrationswilligen und 30,000 versuchten Grenzübertritten. Um die 5.000 sind nach Deutschland und teils sogar nach Frankreich und Großbritannien weitergereist. Einige Aufnahmen zeigen, wie belarussische Soldaten Migrierende über die Grenze drängen.

Mitte November, nachdem sowohl Litauen als auch Polen die Grenze abgeriegelt hatten – sogar das Militär wurde mobilisiert und die Gefahr eines militärischen Zusammenstoßes heraufbeschworen – begann Belarus die Geflüchteten in improvisierten Lagern unterzubringen und einige auch zurückzufliegen, teils mit Hilfe der International Organization for Migration (IOM). Die Geflüchteten kamen überwiegend aus dem Irak, Afghanistan und Syrien, aber auch dem Jemen, Kamerun und der Republik Kongo und reisten von dort, sowie dem Libanon, der Türkei und Dubai nach Belarus. Dies zeigt, dass es sich um einen größeren internationalen Vorgang handelt. Soweit die Sachlage.

Die Funktionalisierung von Migration für politische Zwecke ist nicht neu. Libyens Gaddafi hatte mehrfach mit der Öffnung der Grenze gedroht, Erdogan in der Türkei zuletzt 2020 und auch Putin hatte 2015 40,000 Asylsuchende aus Russland nach Norwegen und Finnland weiterziehen lassen. Auch nicht neu ist die Migrationsroute durch Osteuropa. So waren seit Ende der 1990er Jahre teils mehrere zehntausend Flüchtlinge und Migrant_innen jährlich durch die Ukraine in die EU eingereist. Eine Nebenroute verlief damals über Russland und Belarus in die Ukraine und weiter in die EU. Seit 2010 ist dies allerdings weitgehend beendet, vor allem, weil die Ukraine auf Druck der EU ihre Grenzen und das Migrationsgeschehen besser kontrolliert.

Belarus hingegen war bislang nicht als Transitstaat für irreguläre Migration oder Geflüchtete bekannt. Tatsächlich hat meine Forschung gezeigt, dass Belarus bislang von Migrierenden eher gemieden wurde. Die Perzeption war, dass es dort schärfere Kontrollen gäbe, man nicht in die Nähe der Grenze gelänge und man auch mit Bestechung weniger ausrichten könne als z. B. in der Ukraine. Das hat sich im Sommer 2021 nach der niedergeschlagenen Protestbewegung und den anschließenden Sanktionen der EU schlagartig geändert.

Dies ist allerdings nur möglich, weil es in vielen Ländern rund um die EU, im Nahen Osten und Nordafrika, unbewältigte Krisen gibt die zu erzwungener Migration führen. Während die EU und andere Staaten dies nicht verhindern können oder wollen, wurden gleichzeitig die meisten legalen Migrationskanäle verschlossen, Visumsanträge abgelehnt und Familienzusammenführung oftmals erschwert. Insbesondere das Umsiedlungsprogramm der EU, von dem jährlich bis zu 250.000 Geflüchtete profitieren könnten, wird seit 2016 vom Rat der Europäischen Union blockiert. In dieser Notlage ergreifen Geflüchtete jede auch noch so kleine oder riskante Chance, um ihrem Schicksal zu entkommen. Dies zwingt sie auf illegale Pfade. Das Zusammenspiel dieser Faktoren hat zur Folge, dass sich die EU angreifbar macht und Belarus hat sich dies zunutze gemacht.

Sowohl in Litauen als auch in Polen wurde das Geschehen an der Grenze und die Einreise von rund 8.000 Geflüchteten als »Migrationskrise« eingestuft. Dies wurde auch durch die dramatische Berichterstattung der Medien beflügelt, die Bilder von jeweils nicht mehr als ein paar hundert Personen, von denen einige Gegenstände warfen, als Ansturm inszenierten. Bedenkt man, das 2015 in Griechenland teils 7.000 Geflüchtete an nur einem Tag ankamen, dass die EU in 2021 bereits über 400.000 Geflüchtete aufnahm, kann die Migration durch Belarus in die EU von 8–10.000 Personen, weniger als 3 % aller irregulären Einreisen, keineswegs als Migrationskrise eingestuft werden. Tatsächlich wurden die Vorgänge hochgespielt. Die Panik auf Seiten der EU hat Lukaschenko in die Hände gespielt, zeigte es doch, dass die Drohung mit Migration funktioniert. Es hätte sicher auch die Möglichkeit gegeben, die Grenzkontrollen im Stillen zu verbessern, die paar Tausend Geflüchteten aufzunehmen und Lukaschenko ins Leere laufen zu lassen. Doch auch auf Seiten der EU und einiger Mitgliedsstaaten ging es um mehr als Migration, nämlich darum, Lukaschenko in die Schranken zu weisen.

Einmal mehr waren Geflüchtete und Migrierende die Opfer. Sie wurden an der Grenze eingeklemmt zwischen Belarus’ Politik, Migration als Straf- und Druckmittel gegen die EU zu nutzen, und Litauens und Polens Politik der illegalen Flüchtlingsabwehr. Bis zu 13 Menschen sind bislang an der Grenze ums Leben gekommen. Sowohl Belarus als auch Litauen und Polen waren für die Verletzung der Genfer Flüchtlingskonvention, von EU-Recht und Misshandlungen der Geflüchteten verantwortlich.

Die Asylanerkennungsraten in Litauen und Polen sind schändlich niedrig, 2 % bzw. 16 % im Vergleich zu durchschnittlich 50 % in der EU; dies gilt auch für Widerspruchverfahren. Das Asylverfahren in der EU ist nach wie vor eine Lotterie, wir sind weit entfernt von einem Gemeinsamen Asylsystem, dies erklärt auch die Weitermigration in andere Mitgliedsstaaten, etwa nach Deutschland. Erst wenn dies geändert ist, kann man von Schutzsuchenden erwarten, ihre Asylverfahren in Litauen und Polen abzuwarten.

Der Konflikt zeigt einmal mehr, dass Migration und Migrations- und Flüchtlingsdiplomatie eine zunehmend größere Rolle in internationalen Beziehungen spielt. Man muss die Migration durch Belarus deshalb auch im größeren Kontext betrachten. Russland baut seit Jahren seine Macht aus und schwächt die der Kontrahenten. Es ist davon auszugehen, dass im Einflussbereich Russlands wenig geschieht, was der Kreml nicht abgesegnet hat oder zumindest toleriert. Deshalb muss man die Migrationssituation in Belarus auch im Zusammenhang der Beziehungen zwischen Russland, den USA und der EU sehen. Es ist anzunehmen, dass Russland die Empfindlichkeit der EU im Hinblick auf irreguläre Migration und Flüchtlinge sehr genau analysiert und ebenso wie 2015 diese Art der Transitmigration, in diesem Fall durch Belarus, sanktioniert. Deshalb muss man das Migrationsgeschehen in Belarus aus der Perspektive der Geopolitik Russlands und als Destabilisierungsversuch der EU durch Russland verstehen.

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