Krieg, Heldentum und nationale Wunscherfüllung: der Film »Cyborgs« von Achtem Seitablajew

Von Roman Dubasevych (Universität Greifswald)

Zusammenfassung
Die Rolle der Russischen Föderation bei der Entfachung und Konservierung des Konflikts im Osten der Ukraine ist gut dokumentiert und unbestritten. Die Ursachen für den stockenden Friedensprozess sind jedoch auch auf ukrainischer Seite zu suchen, und zwar in nationalistischen Identitätsvorstellungen und nationalen Opfer- und Widerstandsnarrativen, vor allem dem ukrainischen Heldenmythos. Die Analyse seiner bekanntesten aktuellen Repräsentation – des Kriegsdramas »Kiborhy« (Cyborgs, 2017) von Achtem Seitablajew über die Verteidiger des Donezker Flughafens – steht im Zentrum dieses Artikels.

»Wenn du ihnen in die Augen blickst, ihre Erzählungen hörst, wenn du begreifst, dass der Allmächtige dir ein Instrument wie den Film gegeben hat, wäre es eine große Sünde, wenn du keinen Film über sie drehst,weil du fast physisch spürst, dass du Zeuge der Geburt eines neuen Landes bist.« (Achtem Seitablajew)

Einleitung

Am 12. Dezember 2019 wurde die ukrainische Öffentlichkeit durch Nachrichten aus einer Pressekonferenz des Inneministeriums erschüttert. Es ging um die Ergebnisse einer Ermittlungskommission, die den Mord am Journalisten Pawel Scheremet untersuchte, der am 20. Juli 2016 im Zentrum Kiews einem Bombenanschlag zum Opfer fiel. Das Mordkommando soll aus Veteranen und Armeehelfern bestanden haben, darunter zwei Frauen. Der Anführer, Andrij Antonenko, in Veteranenkreisen unter dem Kampfnamen »Riffmaster« bekannt, war in seinem zivilen Leben ein bekannter Rockmusiker. Laut abgehörten Gesprächen sollte der »symbolische Mord« am beliebten Journalisten, der nach Zwischenstationen beim belarussischen und russischen Fernsehen seit 2013 in der Ukraine wirkte, das Land destabilisieren und den Weg zu einem Machtwechsel bereiten. Die ebenso abstrusen Putschpläne der ehemaligen Militärpilotin, Politikerin und »Heldin der Ukraine« Nadija Sawtschenko, sowie generell die Häufung von Waffendelikten, sind ohne die aktuelle Kriegskulisse und ihre posttraumatischen Folgen kaum denkbar.

Eine Ursache für diese Entwicklungen war sicherlich die gravierende Unterschätzung der Kriegsfolgen bei allen Konfliktparteien, insbesondere in der nach Demokratie und Rechtsstaat strebenden Ukraine. Neben den äußeren Faktoren wurde die Gewalteskalation im Osten auch durch den lokalen Heldendiskurs begünstigt, der nach dem Trauma des Majdan-Massakers reaktiviert wurde. Zu den historischen Vorläufern wie dem Kosaken-Mythos, den Opfernarrativen aus dem Bürgerkrieg (»Schlacht bei Kruty«) oder der Heroisierung der nationalistischen Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) kamen neue hinzu – der Opfermythos der »Himmlischen Hundertschaft« sowie der jüngste Kult um die »Kiborhy«, die Verteidiger des Serhij-Prokofjew-Flughafens in Donezk. Die Widersprüche einer Euromaidan-Ukraine kommen nirgendwo besser zum Vorschein als im Wahlslogan »Armee! Sprache! Glaube!« von Ex-Präsident Petro Poroschenko, der die Verknotung zwischen Nationalismus und Heldentum belegt. Auch wenn nach dem Sieg von Wolodymyr Selenskyj die Konjunktur wieder in die andere Richtung, auf einen Friedenskurs, umgeschlagen hat, ist der Einfluss dieser Heldennarrative auf die Innen- und Außenpolitik unübersehbar. Er äußert sich sowohl in der schleichenden Brutalisierung der Gesellschaft als auch in regelmäßigen Hysteriewellen und »Verrat«-Rufen, die jeden Kompromiss mit dem autoritären Russland und seinen Marionettenrepubliken begleiten. Vielmehr wird jede Annäherung an den schwierigen Nachbarn als Schmähung der Kriegsopfer gedeutet.

Der Krieg der Symbole

Bereits bei den ersten Straßenkämpfen während der Euromaidan-Proteste 2013 in Kyjiw fiel die Ähnlichkeit der Ausrüstung auf beiden Seiten zu virtuellen Computer- und Fantasywelten auf. Neben den martialisch-futuristischen Kampfanzügen der Polizei sowie dem Ski- oder Skater-Equipment der Protestierenden, wurden diese Assoziationen auch durch Drohnenaufnahmen und Livestreams verstärkt, die der entfesselten Gewalt einen episch-erhabenen Charakter verliehen. Der improvisierte Körperschutz der Protestierenden stärkte zwar ihren Kampfgeist, die makabre Game-Ästhetik des Geschehens ließ aber die Illusion der eigenen Unverwundbarkeit entstehen.

Die Suggestionskraft virtueller Kampfwelten erwies sich als dermaßen groß, dass sie nach den blutigen Auseinandersetzungen Eingang in die Bilderwelt der »Antiterroroperation« (ATO) im Osten des Landes fanden. Typische Parameter von Ego-Shooter- oder Battlefield-Spielen wie Noms de Guerre oder Besitz von »Ersatzleben« schienen die Grenzen zwischen Leben und Tod weiter zu verwischen. Somit wurde das chaotische und tödliche Kriegsgeschehen, ob auf den Straßen der Hauptstadt oder in der ostukrainischen Steppe zu einem »disembodied heavenly space« (Margaret Wertheim), eine Art Kriegsparadies, in dem der Kämpferkörper keine Grenzen kennt – eine Phantasie, die paradoxerweise durch die populären Berichte über erfolgreiche Prothetisierung bzw. »Wiederherstellung« der Verwundeten gefördert wurde.

Die Sehnsucht nach Sinngebung angesichts des Kriegschaos und der dargebrachten Opfer kam auch in einer symbolischen Überhöhung der Kampforte zum Ausdruck, zu denen vor allem der seit der ukrainischen Gegenoffensive im Mai zurückeroberte Donezker Flughafen gehörte. Die anlässlich der Europameisterschaft 2012 gebaute Anlage galt als nationales Prestigeobjekt, das die europäische Zugehörigkeit des Landes und ihre wiedergewonnene Fähigkeit zu großen Infrastrukturprojekten beweisen sollte.

Es war tatsächlich die symbolische Bedeutung und nicht die strategische Relevanz, die den Flughafen ins Zentrum der erbitterten kriegerischen Auseinandersetzungen rückte. Einen Tag nach der Wahl Petro Poroschenkos zum Präsidenten war der Vorzeigeflughafen am 26. Mai 2014 zunächst von Separatisten besetzt worden. Nach einer lang erwarteten Gegenoffensive gelang es der ukrainischen Armee ihn zurück zu erobern, dennoch fiel die Anlage durch das erste Minsk-Abkommen vom 5. September 2014 in eine von Separatisten kontrollierte Grenzzone. Seitdem wurde verbissen darum gekämpft, eine Schlacht, die fast vier Monate andauerte und insgesamt knapp tausend Soldatenopfer forderte. Das »internationale Tor« des Donbas verwandelte sich dabei in eine dystopische Trümmerlandschaft, in der die letzten ukrainischen Kämpfer am 22. Januar 2015 in Gefangenschaft gerieten.

Der Krieg als mediales Spektakel

Die hartnäckige Verteidigung des Flughafens und die erhöhte mediale Aufmerksamkeit förderten die Legendenbildung auf beiden Seiten. Während sie den Aufstieg der für ihre Brutalität berüchtigten separatistischen Warlords »Motorola« (Arsen Pawlow) und »Givi« (Michail Tolstych) begründete, der Anführer der Sturmeinheiten »Sparta« und »Somali«, brachte sie den ukrainischen Verteidigern den landesweiten Heldenstatus und Titel »Cyborgs« ein. Laut dem Dokumentarfilm »Aeroport« (Flughafen, 2015) des privaten Senders ICTV entstamme er einem abgehörten Gespräch der Separatisten, die angeblich voller Respekt über den hartnäckigen Widerstand der umzingelten Garnison gesprochen hätten. Angesichts der apokalyptischen Ausmaße der Kämpfe war in ukrainischen Medien auch von einem ukrainischen »Mini-Verdun« oder der »Brest-Festung« die Rede.

Der mediale Effekt der zunehmenden Fixierung auf den militärisch zwar bedeutungslosen, aber symbolisch immer wichtigeren Flughafen war so groß, dass der Kampfeinsatz dort schnell zu einer nationalen Prestigeangelegenheit wurde und das Geschehen selbst – zu einer makabren monatelangen Live-Kriegsserie, die das Land in Atem hielt. Den hohen Stellenwert des Flughafens belegt die Aussage des renommierten russisch-amerikanischen Kriegsreporters Sergej Lojko, der im Auftrag der Los Angeles Times einige Tage mit den ukrainischen Soldaten verbrachte:

Alle wissen Bescheid über die Todesgefahr, alle wissen vom Albtraum, von der Hölle, die dort herrscht, aber sie alle versuchen dort hinzukommen […] Als würde sich dort das geheime Zimmer aus dem »Picknick am Wegesrand« von den Strugackijs befinden, aus dem »Stalker« von Tarkovskij, in dem nicht so sehr all deine geheimen Wünsche erfüllt werden, sondern wo du als ukrainischer Mann, als Mann überhaupt, als Heimatverteidiger, wo du schließlich deine Mission begreifst.

Zugleich konnte jeder Fronteinsatz ungeahnte Karrierewege öffnen, wie der Aufstieg von »Cyborg« Maxym Hryschtschuk veranschaulicht, der vom gewöhnlichen Staatsanwalt zum stellvertretenden Leiter der Spezialisierten Antikorruptionsstaatsanwaltschaft (SAP) aufstieg. Dem Sog des Heroismus folgend prägte die ukrainische Nationalbank eine eigene Cyborg-Münze, ein Trend, dem auch die ukrainische Post mit der eigenen Briefmarke nachkam.

Angesichts des »epischen« Charakters des Kampfes und seiner »tolkienhaften« Wahrnehmung als »Kampf des Guten gegen das Böse« (Lojko) ließ eine filmische Umsetzung nicht lange auf sich warten, zumal die ukrainische Filmindustrie nach der Neugründung des Staatlichen Filmkommitees (2005) und der Staatlichen Filmagentur auch ihrer Rolle bei der Nationsbildung gerecht werden sollte. Der Aufgabe nahm sich Achtem Seitablajew an, ein ukrainischer Schauspieler und Regisseur krimtatarischer Herkunft, der mit zwei historischen Dramen – »Chajtarma« (2012) und »Tschuscha molytwa« (Fremdes Gebet, 2017) – über die dramatische Geschichte der Krimtataren bekannt wurde. Der als »Cyborgs« betitelte Film sollte programmatisch kein Action-Thriller nach US-amerikanischem Vorbild mit hurrapatriotischer Botschaft werden. Die »Cyborgs« wurden zu 50 Prozent von der Staatlichen Filmagentur finanziert, das Gesamtbudget des Films betrug knapp über eine Million Euro. Die »am meisten erwartete Filmpremiere des Winters« fand am 6. Dezember 2017 statt, dem Tag der ukrainischen Streitkräfte, und spielte gleich am ersten Tag die Hälfte der Produktionskosten wieder ein – ein Rekord der ukrainischen Filmgeschichte.

Im Herzen der kriegerischen Apokalypse

Die äußere Filmhandlung entwickelt sich um einen Schichtwechsel unter den Verteidigern des Flughafens, bei dem verwundete, ermüdete und tote Soldaten durch neue ersetzt werden. Im Vordergrund steht die Motivation der Kämpfer, deren Darstellung russische Propagandameldungen und Fakenews über blutrünstige »Banderistennazis« bzw. »Ukropy«, wie die Angehörigen der ukrainischen Streitkräfte abfällig genannt werden, zerstreuen sollte. Die meisten Filmszenen sind in einem improvisierten Bunker im Inneren des Flughafens angesiedelt, wo eine intensive Kommunikation zwischen den Kämpfern stattfindet.

Eine zentrale Rolle spielt dabei das Kernteam der Verteidiger um Major »Serpen« (August) mit seiner kleinen Gruppe kampferprobter Soldaten. Entgegen der Ankündigungen beginnt der Film mit patriotischer Pädagogik: Gleich nach der Ankunft befragt der Major die Neuankömmlinge nach ihren Motiven für den lebensgefährlichen Einsatz. Die bunte Zusammensetzung des Nachschubs – ein russischsprachiger Berufssoldat namens »Subota« (Samstag), ein pensionierter Freiwilliger aus Myrhorod namens »Staryj« (Der Alte), sowie der wohlbehütete Musikstudent »Maschor« (Dur) – soll die inklusiven basisdemokratischen Ideale des Euromaidans sowie ihre vielfältigen Beweggründe spiegeln. Der gemeinsame Nenner der heterogenen Truppe ist aber ein tiefes Unbehagen an heimatlichen Zuständen – von der Korruption, kaputter Umwelt bis zur Fremdbestimmung durch den russischen Nachbarn.

Gegen diese düstere Alltagswirklichkeit der Ukraine mit ihren verletzten Grenzen wird in dem Film affektiv und diskursiv immer wieder die imaginäre Vision einer wahren Ukraine mobilisiert, die sich signifikanterweise in einem Zitat aus dem Klassiker »Sadok wyschnewyj kolo chaty« (Kirschgarten neben dem Haus, 1847) von Taras Schewtschenko verdichtet. Obwohl sie den erträumten Kirschgarten noch nicht erreicht hätten, so »Serpen«, trügen die Soldaten ihn alle bereits in ihrem Herzen und tragen mit ihrem Kampf zu seiner Realisierung bei. Zugleich verkörpert der Flughafenbunker mit den Resten exquisiter Duty-Free-Waren auf eine makabre Art schon jetzt das für die meisten Männer unerreichbare Konsumparadies.

Neben kleineren Spannungen etwa zwischen dem blutrünstigen »Mars« und dem jungen Psychologen »Psych«, einem humanistisch orientierten Vertreter der jüngeren »Maidan-Generation«, zeichnet sich der Hauptkonflikt doch zwischen »Maschor« und »Serpen« ab. Während der erfahrene »Serpen« auf strenger Disziplin und Selbstkontrolle beharrt, setzt »Maschor« sein Leben immer wieder aufs Spiel, um mit seiner Improvisationsgabe Wunder an Heldenmut und militärischem Glück zu erzielen.

Der wahre Grund für »Maschors« aufmüpfige Haltung ist sein Gefühl der moralischen Überlegenheit. Als Kind der Unabhängigkeit, Musiker und Aktivist des Euromaidans, verkörpert er die junge europäische Elite des Landes, vor allem jene Studenten, die eine treibende Kraft hinter den Protesten waren. Seine Trompete entstammt ebenfalls der Ikonographie »der Revolution der Würde«. Sie verweist auf Kostjantyn Olijnyk, einen ehemaligen Militärmusiker aus Charkiw, der die Protestierenden bei den ersten blutigen Zusammenstößen mit der Polizei mit einer Mischung aus nationalistischen und sowjetischen Kampfschlagern in der Hruschewskyj-Straße anfeuerte.

Als Künstler und Europäer handelt »Maschor« kreativ, denkt tolerant und in »horizontalen« Kategorien einer sich selbst organisierenden Zivilgesellschaft. Nach einer Maßregelung durch »Serpen« begründet der junge Mann sein abweichendes Verhalten mit einem tiefen Misstrauen gegenüber einer Vätergeneration, die das Land an den Rand des politischen und wirtschaftlichen Ruins brachte. Schuld daran sei das Erbe der Sowjetunion, das auch der autoritätshörige und nationalistische homo sovieticus »Serpen« verkörpere: »Alle, die noch in der Sowjetunion geboren wurden, ihr seid alle zusammen Loser und Verräter! Darum bin ich jetzt hier und nicht auf irgendeinem scheiß internationalen Wettbewerb, wo ich keine Waffe in der Hand halten müsste«.

Der simulierte Dialog

Doch gerade aufgrund der Exzessivität und affektiven Rhetorik können »Maschors« Argumente von den Zuschauenden kaum ernst genommen werden, genauso wenig wie »Serpens« Ausfälle gegen den auf Russisch schreibenden Klassiker und Landsmann Nikolaj (Mykola) Gogol. Die übertriebene Theatralik so mancher Dialogsituation, die schon auf der Intonationsebene versagt, hat im Film System und führt uns zu einem zentralen Problem seiner rhetorischen Struktur – seiner Pseudodialogizität. Aufgrund ihres absurd-zugespitzten Charakters wirken die gegenseitigen Vorwürfe und Positionen der Protagonisten zunehmend als Simulation eines Disputs im ideologisch homogenen Lager.

Die wahre Hierarchie der Argumente veranschaulicht jedoch die Episode, in der ein gefangengenommener Separatist auf Drängen des »liberalen« »Maschor« in den sicheren Tod durch die eigenen Scharfschützen entlassen wird. Dabei erscheint »Serpens« darwinistische Sicht der ukrainisch-russischen Beziehungen zuweilen in einem komplementären Verhältnis zu »Maschors« (pseudo)liberalen und pazifistischen Deklarationen. »Serpens« von Misstrauen geprägte Haltung wird im Film als ein solides, weil »realistisches« Fundament der künftigen europäischen Ukraine präsentiert; ein verlässlicher Unterbau, der erst die »utopischen« Ansichten »Maschors« und seine toleranten Phantastereien ermöglicht. Damit wird die zentrale Kernformel des nationalistischen Narrativs wiederholt, die das Scheitern der bisherigen ukrainischen Staatsgründungen, z. B. nach der Februarrevolution von 1917, hauptsächlich auf den Mangel an militärischer Stärke und Konsequenz gegenüber den Feinden zurückführte. Trotz aller deklarierten Unterschiede sieht keiner eine Alternative zum Krieg.

Die Dominanz eines machiavellistischen Denkens in der Krisensituation führt eine weitere Auseinandersetzung zwischen »Maschor« und »Serpen« vor Augen. Auf »Maschors« Kritik, für das gegenwärtige Desaster trage die nationalistische Ideologie seines Vorgesetzten, »das ganze Pathos, die Rhetorik, […] dieses mittelalterliche Naphtalin« die Verantwortung, reagiert »Serpen« mit einem empörten Einwand, dem »Maschor« wenig entgegenzusetzen hat: »Und wieso habt ihr euch, als es brenzlig wurde, auf dieses Naphtalin gestürzt? Gestickte Hemden rausgeholt, Fahnen? Weil ihr unbewusst verstanden habt: Ohne dieses Naphtalin gibt es euch nicht!«. Die liberale Offenheit, »Tolerastie« und »Kosmopolitismus« der Jungen gefährdeten laut »Serpen« die ukrainische Kultur und ihren Lebensraum. Ohne Mythen und Helden müsse das Land im Kampf gegen Russland unterliegen, das »alle Ressourcen«, selbst Gogol (sic!), für seine Indoktrinierung der »russischen Welt« zu mobilisieren wisse. Dass diese Position »Serpens« auch diejenige der Regie ist, legt die Untermalung dieser Worte mit dramatischen Geigenklängen nahe, die sie als eine tiefe Offenbarung erscheinen lassen.

Unter diesem Gesichtspunkt scheint »Maschors« Funktion weniger in der Artikulation einer ernsthaften Gegenposition als in der Aktualisierung der manichäischen Kriegslogik zu bestehen, die durch den Märtyrertod seines Vorgesetzten zusätzlich bestätigt und sakralisiert wird. Die instrumentale Funktion »Maschors« manifestiert sich auch in der Sprachfrage. Während für seinen Vorgesetzten das Ukrainische als gleichwertige Waffe in diesem Krieg zu gebrauchen ist, betont »Maschor«, dass er die Sprache als Musik betrachte. Seine Bemerkung in einer Kampfpause, nun müsse er »diese Art von Musik« spielen, macht seine Aussage aber äußerst doppeldeutig. Bedeutet dies eine grundsätzliche Ablehnung der Gewalt, oder ist die Musik letztlich ein Euphemismus für das Gedonner der Waffen? Soll die Kunst das gegenseitige Morden stoppen oder den Edelmut der rauen Soldatenherzen hervorheben und den unnachgiebigen Kampf rechtfertigen?

Die Verführung zum Krieg

Die besondere Rolle des kämpfenden Musikstudenten kulminiert im Soundtrack, insbesondere in seinem Leitmotiv – dem Tango »Huzulka Ksenja« (Die Huzulin Ksenja). So erklingt das bekannte Tanzlied in den Kampfpausen wiederholt als Ausdruck der soldatischen Erhabenheit, »Maschor« bläst seine Melodie beim Abschied von seinem aus dem Hinterhalt ermordeten Mentor. Dennoch kommt der Tango im Film nicht in seiner klassischen Ausführung von einem Café-Orchester, sondern in einer Interpretation durch Swjatoslaw Wakartschuk, den Politiker und Frontman der westukrainischen Kultband Okean Elzy, vor.

Als international erfolgreichste Rockgruppe der Ukraine ist Okean Elzy nicht nur das Aushängeschild des Landes, sondern ein Wegbegleiter der ersten Jahrzehnte seiner Unabhängigkeit. Dass es bei Wakartschuks Musik nicht nur um eine politische, sondern auch um eine eminent kulturpolitische Wahl geht, zeigt sich besonders deutlich in der Einspielung des besagten Tangos. Bei der »Huzulin Ksenja« handelt es sich um eine Komposition aus den 1930er Jahren von Jaroslaw Barnytsch, die bis heute zum Standardrepertoire der (west)ukrainischen Hochzeits- und Restaurantmusik gehört. Die Wahl des Tango-Remakes als Filmmusik steht somit im Zeichen einer Mode, die authentische Volkskunst der Karpatenstämme als Ursprung und Kern der ukrainischen Identität sieht. Symptomatisch für diesen Trend zu ihrer Ethnisierung ist die Konjunktur des gestickten Trachtenhemds Wyschywanka, das spätestens seit der Präsidentschaft Wiktor Juschtschenkos Mitte der 2000er Jahre und dem Erfolg von Ruslanas »Wild Dances« beim Eurovision-Song Contest 2005 zum zentralen Symbol einer »unverfälschten« ukrainischen Identität aufstieg. Der Tango rückt so ins affektive und imaginäre Zentrum einer märchenhaften nationalen Wunscherfüllung, die als Amalgam eines idealisierten »alten Europa« mit einem ahistorischen Naturparadies erscheint, unversehrt durch die Erschütterungen des 20. Jahrhunderts, vor allem durch die Folgen der repressiven Sowjetmacht, die nun allein für das ganze Leid der Geschichte geradestehen muss.

Der Kontrast zwischen eher leb- und lieblosen Spuren realer Frauen im Film und der musikalisch zelebrierten Anhimmelung der Huzulin lässt somit den ketzerischen Verdacht aufkommen, dass die Liebeshymnen der Cyborgs gar nicht einer irdischen Frau gelten, sondern dass die mythische Ksenja im Filmkontext einerseits die Fiktion der ethnischen Reinheit, andererseits den Tod symbolisiert. Ihre letztlich abstrakte Verehrung inmitten der männerdominierten apokalyptischen Todeslandschaft scheint nicht Eros zu folgen. Sie gehorcht einem latenten Zerstörungsdrang, der in diesem Herzen eines mit allen medialen und ideologischen Mitteln geführten Krieges als wahres Leben, Freiheit, Liebe und Heimat inszeniert wird.

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