Legitimität auf tönernen Füßen: Die Präsidentschaftswahl 2022 in Kasachstan

Von Sofya du Boulay (Oxford Brookes University)

Personalistische Regime sind besonders während jener Phasen vulnerabel, in denen der Amtsinhaber seine Macht an einen Nachfolger abgibt. Die Konsolidierung von Macht, die in einer Person und ihrem loyalem Elitenetzwerk konzentriert ist, erfordert die Fähigkeit, potenzielle interne und externe Bedrohungen auszubalancieren, die den Fortbestand des Regimes gefährden. Das personalistische System, das von Nursultan Nasarbajew in den drei Jahrzehnten seiner Herrschaft in Kasachstan etabliert wurde, hat der Politik, der Wirtschaft und der internationalen Außenwirkung des Landes einen deutlichen Stempel aufgedrückt. Geschichtsbücher und Museumsausstellungen glorifizieren Nasarbajew als den Begründer kasachischer Staatlichkeit. 2019 trat Nasarbajew von seinem Präsidentenamt zurück und ernannte seinen engen Verbündeten und damaligen Vorsitzenden des Senats, Kassym-Dschomart Tokajew, zu seinem Nachfolger. Die Präsidentschaftswahl von 2019 war sorgsam orchestriert und resultierte im Sieg des vom Regime favorisierten Kandidaten. In autoritären Regimen stellen Wahlen instrumentelle Werkzeuge zur Nachahmung demokratischer Prozesse dar, die jedoch nicht mehr als den oberflächlichen Anschein legal-rationaler Herrschaft erwecken sollen. Die koordinierte Nachfolge wurde 2019 schließlich nur teilweise vollzogen. Nasarbajew besetzte weiterhin wichtige Führungsposten, etwa als Vorsitzender des nationalen Sicherheitsrates und als Chef der Regierungspartei Nur Otan (heute: Amanat). Dieser Schachzug ermöglichte es dem ehemaligen Präsidenten, hinter den Kulissen weiterhin umfassende Kontrolle über Wirtschaft und Politik auszuüben. Diese Form der Doppelherrschaft führte zu erheblicher Verwirrung und öffentlichem Misstrauen gegenüber dem neugewählten Staatsoberhaupt Tokajew, der vor diesem Hintergrund als bloße Marionette Nasarbajews erschien. Nach fast drei Jahren kulminierten schließlich die schwelenden Spannungen zwischen den verschiedenen Elitelagern um Tokajew und seinen politischen Rivalen, was zum endgültigen Bruch des bis dahin bestehenden Elitenkonsens führte. Das Resultat war die größte Krise der nationalen Sicherheit seit der Unabhängigkeit des Landes.

Die Januar-Proteste und der Aufstieg des unabhängigen Tokajew

Im Januar 2022 kam es in Kasachstan landesweit zu Massendemonstrationen, die heute als Qandy Qantar (kasachisch für »blutiger Januar«) bezeichnet werden. Ein Anstieg der Preise für Treibstoff ließ bestehenden gesellschaftlichen Unmut in massive Unruhen umschlagen. Die Protestierenden verlangten soziale und wirtschaftliche Veränderungen, ein Ende der systemischen Ungleichheit nach drei Jahrzehnten autoritärer Politik unter Nasarbajew sowie einen tatsächlichen Machtwechsel. Schließlich, und letztlich am folgenreichsten, überschnitten sich die Proteste der Bevölkerung mit den Auseinandersetzungen innerhalb der Eliten. Der engste Kreis um den ersten Präsidenten hatte die profitabelsten Unternehmen des Landes unter sich monopolisiert und den Staatshaushalt dazu missbraucht, das Netzwerk von verbandelten Unternehmen zu erweitern. Die Bedürfnisse der Bevölkerung wurden dabei vollkommen ignoriert. Die wirtschaftlichen und regionalen Disparitäten waren über die Jahrzehnte immer weiter gewachsen und explodierten, nachdem die Existenz vieler Menschen durch die Coronapandemie zunichte gemacht wurde und sie gezwungen waren, Kredite aufzunehmen, bei Banken in der Regel kontrolliert vom engsten Kreis des ersten Präsidenten.

Als die Proteste vor allem in Almaty außer Kontrolle gerieten verhängte Tokajew den Ausnahmezustand. Der Präsident bat die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), ein von Moskau dominiertes Militärbündnis, um Unterstützung, offiziell »zur Abwehr äußerer terroristischer Gefahren.« Während dieser Sicherheitskrise erfuhr Kasachstan umgehend Unterstützung, wodurch Russland gewissermaßen die Bereitschaft zum Schutz seiner Klientelstaaten signalisierte. Die Entsendung der Truppen war kurz und wirksam, da diese tatsächlich zur Stabilisierung vor Ort beitrugen. Der OVKS-Einsatz konnte jedoch nicht die Frage lösen, inwieweit Tokajew langfristig in der Lage sein würde, die nationale Krise zu bewältigen und eine eigene, unabhängige politische Legitimität aufzubauen.

Mit dem Januar-Aufstand ist Nasarbajews Herrschaft endgültig zusammengebrochen, das autoritäre Regime besteht jedoch weiter. Tokajew setzt seitdem die gleichen Legitimierungsinstrumente ein, die bereits sein Vorgänger verwendet hat: Diskurs über Stabilität und eine repressive Praxis. Der Rückgriff auf militärische Maßnahmen während des Qandy Qantar – durch interne wie auch externe Sicherheitskräfte –, um die Unruhen in den Griff zu bekommen, war unmissverständliches Anzeichen dafür, dass es Tokajew an echtem politischem Rückhalt fehlt. Ungeachtet der Beteuerungen von Behörden, dass friedliche Protestierende unbehelligt bleiben, wurden die Unruhen als Vorwand genutzt, um gegen die politische Opposition und zivilgesellschaftliche Aktivisten vorzugehen. Anschauliche Beispiele hierfür sind die strafrechtliche Verfolgung von Schanbolat Mamai, einem Oppositionsführer der nicht registrierten Demokratischen Partei Kasachstans, sowie von Anhängern der Partei Demokratische Wahl Kasachstans und der Bewegung Kösche Partiasy (»Straßenpartei«).

Was nach außen gerichtete Schauveranstaltungen anbelangt, so richtete Astana 2022 den sieb­ten Kongress der Anführer der Welt- und traditionellen Religionen aus, ein von Nasarbajew initiiertes Projekt »zur Stärkung des Weltfriedens.« Zugleich verkündete Tokajew eine Revision des Wirtschaftsprogrammes unter dem Schlagwort Schana Kasachstan (dt.: »Neues Kasachstan«), um sich von der belasteten Vergangenheit mit seinem Vorgänger zu distanzieren. Tokajew Ziel ist, den Personenkult um den ersten Präsidenten Kasachstans zu demontieren und die eigene Herrschaft durch Verfassungsänderungen zu stärken. Als Zeichen seiner Entschlossenheit, dem Personenkult um Nasarbajew ein Ende zu setzen, wurde die Hauptstadt im September 2022 symbolträchtig von Nur-Sultan in Astana rückbenannt.

Der offizielle Diskurs verspricht Demokratisierung und die Stärkung des parlamentarischen Systems, doch es harrt an der Umsetzung. Tokajew setzt das ihm zur Verfügung stehende Repertoire der Instrumente autokratischer Legitimierung wirksam ein, der Tatsache ungeachtet, dass er sich gleichzeitig gegen den Architekten seines Regimes richtet.

Vorgezogene Präsidentschaftswahl 2022 und Tokajews Konsolidierung

Um seine autoritäre Herrschaft abzusichern, ließ Tokajew am 20. November 2022 vorgezogene Präsidentschaftswahlen abhalten, bei denen es jedoch wieder keinen echten Wettbewerb gab. Wahlbeobachter:innen der OSZE stimmten darin überein, dass die Wahlen nicht als frei und fair bezeichnet werden können. Zum selben Schluss war man bereits 2019 gekommen. Die Vorbereitung zur Wahl war geprägt von verhaltenen Wahlkämpfen weitgehend unbekannter Kandidat:innen und mangelndem Raum für kritische Stimmen. Eine Vielzahl von Mängeln bei der Stimmauszählung haben die Transparenz und Glaubwürdigkeit des Wahlverfahrens untergraben. 81 Prozent der Stimmen sichern Tokajew für die kommenden sieben Jahre die Herrschaft seines Regimes ab und demonstrieren gleichzeitig seine Resilienz, mit der er die größte nationale Krise seit der Unabhängigkeit überstanden hat. Vor der Wahl war die Dauer der Amtszeit des Präsidenten per Verfassungsänderung von fünf auf einmalig sieben Jahre verlängert worden. In seiner Rede zur Wiederamtseinführung betonte Tokajew seine Ambitionen, einen gerechten Staat aufzubauen, der Anreize für Unternehmertum bietet und Vertrauen in eine verantwortliche Regierung schafft. Er verkündete den Grundsatz »Es gibt keinen Bedarf an Macht, wenn sie keine Gerechtigkeit bringt«. Die versprochene demokratische Wiedergeburt bleibt jedoch fraglich, solange ein etablierter Technokrat an der Macht ist, der offensichtlich händeringend versucht, sich an die neuen Umstände anzupassen.

Die Muster autoritärer Legitimation unter Kassym-Dschomart Tokajew ähneln denen seines Vorgängers, der seine Herrschaft ebenfalls über das Streben nach wirtschaftlicher Entwicklung und, zumindest teilweise, demokratischer Modernisierung gerechtfertigt hatte. Präsidentschaftswahlen in modernen Autokratien sind Spektakel, symbolische Demonstration von oben, dass die herrschende Elite sozialen Bedürfnissen und potenziell progressiven Forderungen Aufmerksamkeit schenkt. Es ist eine Politik des Anscheins, in die alle eingebunden werden sollen, an die aber nur wenige wirklich glauben. Nach dem Qantar ist die Basis für sozialen Zusammenhalt in Kasachstan schwach. Alles wird davon abhängen, wie sehr das Regime in der Lage ist, Worten Taten folgen zu lassen. Es bleibt abzuwarten, welche Teile des Programms »Neues Kasachstan« tatsächlich umgesetzt werden. Tokajew stützt seine neue Legitimität auf zwei schwache Fundamente, auf Putins militärische Unterstützung während der Proteste und auf eine Demontage des Personenkults um seinen ehemaligen Patron. Die Zukunft von Tokajews Reformen ist ungewiss, da sie eine dramatische Transformation der politischen Szenerie erforderlich machen, an deren Ende der unvermeidbare Machtverlust stehen könnte.

Aus dem Englischen von Hartmut Schröder

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