Die Wiedereingliederung des Donbas nach dem Krieg: eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung

Von Dmitri Stratievski (Osteuropa-Zentrum Berlin)

Zusammenfassung
Einer der wichtigsten Sprüche der Maidan-Proteste 2013–2014 lautete: »Schid i Sachid rasom!« (»Ost und West sind zusammen!«). Dieses Motto bleibt aktuell. Nach Beendigung des Krieges wird die Reintegration des jahrelang von Russland besetzten Donbas’ und seiner Menschen zu einer Herausforderungen für die gesamte Ukraine werden. Die Wiedereingliederung ist jedoch nicht nur als Zukunftsaufgabe für morgen zu verstehen. Sie muss bereits heute in ihrer ganzen Breite konzipiert, in der Gesellschaft ausdiskutiert, auf Regierungsebene beschlossen und kommuniziert werden, vor allem gegenüber den Menschen in den besetzten Gebieten.

Re-Integrationsprozess notwendig, aber problematisch

Die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine ist das erklärte Ziel der ukrainischen Regierung. Auch die Gesellschaft spricht sich klar dafür aus: In einer repräsentativen Umfrage von Mitte Februar 2023 waren nur 9 Prozent der Bevölkerung zu territorialen Konzessionen bereit. 2022 haben die ukrainischen Streitkräfte mehr als die Hälfte der seit Februar 2022 von Russland besetzten Gebiete befreit. Bilder von jubelnden Menschen in Cherson oder Balaklija lassen keinen Zweifel daran, dass dort der Frieden weitgehend ohne besondere staatliche Reintegrationskonzepte einkehrt. Komplizierter ist die Situation in weiten Teilen des Donbas – den selbsternannten »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk – die inzwischen neun lange Jahre außerhalb der ukrainischen Hoheit liegen. Im Kriegskontext operiert Kyjiw ausschließlich in militärischen Denkmustern. Diese Logik ist nachvollziehbar. Wie wird jedoch das Zusammenleben aller Ukrainer:innen in einem gemeinsamen Haus funktionieren, nachdem die russischen Truppen eines Tages komplett aus dem Donbas vertrieben werden und die ukrainische Fahne wieder über den Verwaltungsgebäuden in Donezk und Luhansk wehen wird?

Die Reintegration von geschätzt 3,5 Millionen Menschen, die seit fast einem Jahrzehnt in einem nicht anerkannten und de-facto von Moskau kontrollierten Niemandsland unter russischem medialen, kulturellen und rechtlichen Einfluss leben, wird nicht automatisch passieren. Die – strategisch durchaus nachvollziehbare – Devise »Erst der Sieg auf dem Schlachtfeld und dann die Versöhnung« verbirgt zahlreiche unkalkulierbare Risiken und Probleme, die im Nachhinein schwer reparabel sind. Eine ernsthafte Debatte ist daher schon jetzt nötig, wird aktuell aber kaum geführt. Die Ukraine braucht eine ausgearbeitete, vielschichtige Strategie, die die Interessen aller Menschen in der Ukraine mitberücksichtigt und den Bürger:innen im äußersten Osten des Landes kommuniziert wird. Wie schwierig dies sein wird, zeigt die Entwicklung der letzten Jahre. Im Oktober 2019 protestierten die Menschen in mehreren ukrainischen Städten gegen das Gesetz über den Sonderstatus des Donbas’. Allein in Kyjiw versammelten sich damals mehr als 10.000 Menschen auf dem Unabhängigkeitsplatz, darunter Freiwillige aus dem Osten der Ukraine, um das Vorhaben lautstark zu kritisieren. Nicht alle Gruppen in der Gesellschaft werden die Maßnahmen begrüßen, so dass hier eine intensive Überzeugungsarbeit notwendig ist.

Die ukrainische Exekutive und Legislative verfügen bereits über entsprechende Institutionen. Die Vorbereitung der Wiedereingliederung kann im Ministerium für Reintegration der vorübergehend besetzten Territorien der Ukraine in Kooperation mit dem Justizministerium erfolgen. Im ukrainischen Parlament ist mit dem Ausschuss für Menschenrechte, De-Okkupation und Re-Integration der vorübergehend besetzten Territorien der Ukraine, für nationale Minderheiten und interethnische Beziehungen ebenfalls ein zuständiges Gremium vorhanden. Das Wiedereingliederungskonzept sollte folgende (integrations-)politische, juristische, identitätsstiftende und wirtschaftliche Maßnahmen beinhalten.

Informationspolitische Maßnahmen

Anfang 2016 haben die Machthabenden in der »Volksrepublik« Donezk (DNR) den Kabelanbietern per Dekret befohlen, die letzten ukrainischen Sender abzustellen. Selbst Sport-, Kultur- und Kindersender aus der freien Ukraine galten ab sofort als »extremistisch«. Ein ähnliches Vorgehen gab es in der »Volksrepublik« Luhansk (LNR). Seitdem haben die Menschen im besetzten Donbas nur eingeschränkte Möglichkeiten, Informationen aus der Rest-Ukraine zu erhalten. Das russische Fernsehen ist hingegen omnipräsent. Über den Kabelanschluss waren 2020 in Donezk 34 Sender zu empfangen, davon 29 aus Russland und fünf örtliche, die in ihrer Ausrichtung keine Unterschiede zu den russischen Sendern aufweisen. In der Region gibt es eine relativ hohe Anzahl von Internetanschlüssen. So haben zumindest die Großstadtbewohner:innen theoretisch einen Zugang zur ukrainischen Berichterstattung über YouTube, Messenger- und Streamingdienste, einschließlich »Freedom« (ein 2022 gestartetes russischsprachiges Projekt mehrerer ukrainischer Fernsehanstalten für ein russisches Zielpublikum), sowie zu russischsprachigen Angeboten von westlichen Medien oder Portalen von regimekritischen Exil-Russ:innen.

In der Praxis sind diese Quellen auf die Bedürfnisse der Menschen im Donbas wenig zugeschnitten. Sie betrachten das Kriegsgeschehen im Ganzen. Lokale Themen und Sorgen aus Makijiwka, Tschernuchino und Jenakijewo finden im aktuellen Informationsfluss keine besondere Beachtung. Ein ukrainischer, staatlich finanzierter Sender »Voice of Donbas« auf YouTube könnte viele »kleine« Fragen der Menschen beantworten, örtliche Probleme mithilfe lokaler Sympathisant:innen aufgreifen und das Meinungsmonopol des Kremls in der Region durchbrechen, selbst wenn es bis zur Befreiung keine Vertretung vor Ort geben wird.

Beide »Volksrepubliken« funktionieren wie ein geschlossenes Gebilde mit recht beschränkten Kontakten zur Außenwelt bis auf Russland. Diese Gesellschaften sind aber nicht homogen. Eine neue Generation, 2014 noch im Kindesalter, ist inzwischen weitgehend isoliert groß geworden und hat wenig Verbundenheit mit der Ukraine. Sie kennen das Vorkriegsleben sehr wenig und haben durch das Bildungswesen erzeugte Feindbilder im Kopf, die nicht einfach abzubauen sind. Ältere erinnern sich hingegen an die Zeiten, als Donezk zu den wohlhabendsten Städten zählte – nicht nur der Ukraine, sondern der großen Sowjetunion. Trotz dieser Heterogenität gibt es Unzufriedene in jeder Altersgruppe. Sie wollen sich mit dem gegenwärtigen Stand nicht mehr abfinden, kennen jedoch keine Alternative. Eine Stimme aus der freien Ukraine, die verschiedene Zielgruppen anspricht, Vorteile der Westannäherung aus verschiedenen (vor allem ökonomischen) Perspektiven erläutert und einen ehrlichen Dialog über die Zukunft des Donbas in der vereinigten Ukraine auf Augenhöhe führt, wird in der Region dringend gebraucht. Prominente Persönlichkeiten, die diese Teile der Ukraine nach 2014 notgedrungen verlassen haben, können dabei als vor Ort verankerte Multiplikator:innen agieren und nicht zuletzt die Inhalte des Reintegrationsvorhabens vermitteln. Während für die Jüngeren in den Städten Social Media zu bespielen wären, wäre für die Älteren und die ländliche Bevölkerung ein konventionelles Radioangebot auf Kurzwellen geeignet.

Gesetzlichen Rahmen klar festlegen und Gleichstellung garantieren

Auch diejenigen in den »Volksrepubliken«, die nicht kollaborationswillig sind und sich eine bessere Zukunft wünschen, verbinden mit der Befreiung durch ukrainische Truppen spürbare Ängste. Gleichbehandlung in vielen Bereichen wie Arbeit, Ausbildung, Renten, Bildung, Eigentum, Gewerbe und Einzelhandel – vieles bleibt für die potenziell Betroffenen offen. Die Rechte aller Ukrainer:innen sind zwar in der Verfassung garantiert, eine außerordentliche Situation bedarf aber einer zusätzlichen rechtlichen Grundlage. Daher ist ein Gesetz über die Wiedereingliederung der ukrainischen Staatsbürger:innen aus den befreiten Teilen der Ukraine erforderlich, in dem die Gleichberechtigung aller Menschen aus dem gesamten Land festgeschrieben wird, eine breite Palette von sozialpolitischen Fragen unmissverständlich geklärt wird und jede Verfolgung oder Benachteiligung von Unschuldigen ausgeschlossen wird. Der Gesetzentwurf muss Gegenstand der öffentlichen Debatte in der Ukraine werden und von der Mehrheit der Menschen auf beiden Seiten der gegenwärtigen Frontlinie mitgetragen werden.

Ein großer Stolperstein auf dem Weg zur Umsetzung der Aussöhnungsstrategie im Donbas bildet das Thema Kollaboration, auch wenn der Anspruch eines souveränen Staates auf die strafrechtliche Verfolgung von Kollaborateur:innen und Kriegsverbrecher:innen nicht infrage zu stellen ist. Das Völkerrecht bietet keine klare Deutung des Begriffes »Kollaboration«, im Gegensatz beispielsweise zum Begriff des »Angriffskriegs«. Der juristische Spielraum obliegt in diesem Fall dem nationalen Recht. Nur eine einzige Kategorie von Verdächtigen (Ärzt:innen) genießt einen besonderen Schutz im Sinne des humanitären Völkerrechts. Im Frühjahr 2022 hat die Werchowna Rada die Gesetzte 5143 und 5144 verabschiedet. Darin wurden der Paragraf 111.1 »Kollaboration« des StGB der Ukraine verschärft und der neue Paragraf 111.2 »Beihilfe dem Agressorstaat« eingeführt. Zusammenfassend werden darin die Nichtanerkennung des Angriffskriegs gegen die Ukraine, die Organisation von Propagandaveranstaltungen zugunsten der Besatzungsmacht, das Innehaben von Ämtern in Verantwortungspositionen im Dienst der Besatzer und weitere Delikte unter Strafe gestellt. Die Ausübung »kleinerer« weisungsgebundener Funktionen in der Besatzungsverwaltung wird mit einem Berufsverbot für 10–15 Jahre, mit oder ohne Beschlagnahmung des persönlichen Eigentums, belegt.

Laut ukrainischen Medien erkannte die Regierung im Sommer 2022 einige Ungenauigkeiten in der Gesetzgebung. Nicht zuletzt wegen der Kritik von Menschenrechtler:innen wurde eine Arbeitsgruppe im Reintegrationsministerium gebildet, die die Kollaborationsbekämpfungsgesetze präzisieren und novellieren sollte. Das Ergebnis ist der Öffentlichkeit bisher nicht bekannt. Auch die jüngsten Ermittlungen gegen Kollaborateure in den befreiten Gegenden um Charkiw zeigen einen Nachholbedarf. Muss jede Sachbearbeiterin im Veterinär- oder Grünflächenamt in Luhansk oder jeder Vorarbeiter einer »staatlichen« Eisenbahngesellschaft in Donezk ab sofort eine Strafe fürchten? Werden alle Schul- und Hochschullehrer:innen sanktioniert – auch solche die nicht-ideologisierte Fächer unterrichtet haben – oder betrifft es ausschließlich Propagandist:innen und die leitende Ebene wie Direktor:innen und Rektor:innen?

Solche sensiblen Fragen müssen im Vorfeld geklärt werden, eventuell unter Berücksichtigung der ost- und mittelosteuropäischen Erfahrungen nach 1990. Ein Beispiel der Behandlung von Mitläufer:innen eines Unrechtregimes nach einer demokratischen Wende bietet das wiedervereinigte Deutschland, wo es nur für bestimmte Gruppen der ehemaligen sozialistischen Elite Berufseinschränkungen gab. Im Fokus standen Geheimdienst-Mitarbeitende, Parteifunktionäre und andere Personen, die an der Unterdrückung der Andersdenkenden unmittelbar beteiligt waren. Größere Gruppen von DDR-Staatsbediensteten waren davon nicht betroffen. Ähnliche Gesetze traten 1991 in der (damals noch) Tschechoslowakei, 1993 in Lettland, 1994 in Ungarn und 1997 in Polen in Kraft. Menschenrechtsorganisationen berichteten zudem über Zwangsrekrutierungen in unterschiedlichen Berufsbereichen im besetzten Donbas. Daher wäre die Einschätzung des individuellen Handlungsspielraums jeder Person im Rahmen einer juristisch unanfechtbaren Einzelprüfung nötig. Auch braucht es eine klare Linie hinsichtlich der Inhaber:innen russischer Pässe, die seit 2019 Hunderttausende erhalten haben. Dazu gab es 2022 widersprüchliche Äußerungen aus der ukrainischen Politik.

Aufwertung der kriegszerstörten Region

Lange Zeit galt der Donbas als das industrielle Herz der Ukraine. Die Arbeit im Bergbau, in der Chemieindustrie oder in der Metallverarbeitung, ob staatlich oder privat betrieben, wurde vergleichsweise gut entlohnt. Kohle und Metall waren ukrainische Exportschlager. Der Bergmann besaß ein noch aus der Sowjetära vererbtes hohes Statussymbol und war Inbegriff eines Menschen, der mit seiner schweren und gefährlichen Arbeit einen wichtigen Beitrag zur Stärkung des wirtschaftlichen Rückgrats des Landes leistet. Dieser Mythos schlägt sich bis heute in der Alltagskultur des Donbas’ nieder und ist gerade in Donezk und Luhansk stärker präsent als in den benachbarten, ebenfalls durch die sowjetische Schwerindustrie geprägten Gebieten Charkiw, Dnipro oder Saporischschja. Die »Donbas-Identität« ist ein unabdingbarer Teil der regionalen Mentalität und steht keineswegs im Widerspruch zur gesamtukrainischen Identität, weil die besondere Wertschätzung der Arbeitenden und ihrer »Leistung für alle« das ukrainische Wir-Gefühl eher fördern. Parallel dazu wirkte vor 2014 die prächtige Millionenmetropole Donezk, Sitz mehrerer Großkonzerne und Heimatstadt vieler politischer Eliten, als das zweite Einflusszentrum des Landes neben der Hauptstadt Kyjiw.

Wirtschaftlich hatte die Region bereits nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion schwer zu kämpfen und bereits von ihrem einstigen Glanz eingebüßt, da viele große Betriebe unter marktwirtschaftlichen Bedingungen nicht rentabel waren. Nach der Orangen Revolution von 2004 färbte sich das Porträt der Donbas-Bewohner:innen ins Negative. Das galt besonders für Janukowytschs Präsidentenamtszeit von 2010–2014. Unter der Vorherrschaft seiner »Partei der Regionen«, die tatsächlich im Osten der Ukraine überproportional stark unterstützt wurde, galten die »Donezker«, ein abwertender Sammelbegriff, in Teilen der ukrainischen Gesellschaft als demokratiefeindliche und russlandaffine Sowjetnostalgiker:innen. Der Kriegsausbruch 2014 hat diese Stigmatisierung noch verschärft. Es kamen weitere pauschale Stereotype hinzu. Jetzt kämpfen die einberufenen Männer aus den »Volksrepubliken« auf Seiten der russischen Armee. Das besetzte Gebiet im Donbas ist in den Augen vieler Ukrainer:innen zum Sammelbecken von Mördern und deren Komplizen geworden. »Donezker« gelten als Feinde. Solche Gefühle, Begleiterscheinungen des Krieges, sind erklärlich. Allerdings besteht eine wichtige Aufgabe des ukrainischen Staates darin, diese Vorurteile gegenüber allen Menschen im Donbas sukzessiv zu mildern und abzubauen. Die lokale Bevölkerung im Donbas muss davon überzeugt werden, dass ihre Leistungen für die gesamte Ukraine vor 2014 nicht in Vergessenheit geraten sind. In der vereinigten Ukraine soll der Donbas keine depressive Randprovinz bleiben, sondern den alten Glanz zurückerhalten.

Wiederaufbau und ökonomische Anreize

Dabei wird dem Wiederaufbau eine zentrale Rolle zukommen, denn kein Gebiet in der Ukraine ist durch den Krieg so stark beschädigt worden wie der Donbas, wo ganze Städte wie Bachmut oder Mariupol von der russischen Armee praktisch dem Boden gleich gemacht wurden. Wohnungen, Straßen, Industrie, Infrastruktur – alles muss neu- bzw. wiederaufgebaut werden. Das ist einerseits eine gewaltige Herausforderung, andererseits eine historische Chance, die Region zu modernisieren und als integralen Teil der Ukraine zu einer neuen Wirtschafts-, Wissenschafts- und Kulturhochburg zu entwickeln.

In diesem Kontext ist ein ehrlicher Dialog mit den Menschen im Donbas notwendig. Denn viele Großbetriebe aus der Vergangenheit sind zum erheblichen Teil unrentabel und produktionstechnisch und ökologisch nicht mehr zeitgemäß – ein bloßer Wiederaufbau der zerstörten Anlagen und Werke macht vielfach keinen Sinn. Der Region droht somit eine neue Massenarbeitslosigkeit. Es braucht umfassende Fortbildungs- und Umschulungsangebote für die Menschen, die sich der veränderten Lage anpassen werden müssen. Es gibt durchaus Parallelen zum Ruhrgebiet (Industrie- und Bergbauregion, schwere Kriegszerstörungen, Kohlekrise), das sich bis heute in einem umfassenden und tiefgreifenden Strukturwandelprozess befindet. Allein in Duisburg hat rund die Hälfte aller Beschäftigten in der Kohle- und Stahlindustrie ihren Arbeitsplatz verloren. Das große sozialpolitische Problem wurde durch Umschulungsprogramme und neue wirtschaftliche Perspektiven für das Ruhrgebiet gelöst. Der Strukturwandel ist ein langfristiger Prozess, der eher in Jahrzehnten als in Jahren gedacht werden muss, doch auch der Donbas kann diese Transformation erfolgreich schaffen.

Wirtschaftliche und finanzielle Aspekte spielen im Reintegrationsprozess eine wichtige Rolle. Krieg, Misswirtschaft und Abwanderung der arbeitsfähigen Bevölkerung haben die vormals wohlhabenden Gegenden um Donezk und Luhansk verarmen lassen. Korruption, Kriminalität und Willkürherrschaft prägen Politik und Wirtschaft und behindern die Entwicklung von Einzelhandel, Gewerbe und mittelständischen Unternehmen. Durch die Schließung von Bergwerken und Großbetrieben und »Restrukturierungen« gerieten viele Menschen in Arbeitslosigkeit, und die mangelnden Zukunftsaussichten, jahrelangen Kampfhandlungen und fehlenden Sicherheiten führten bei vielen zu Frustration und Apathie.

In dieser äußerst schwierigen Situation könnte ein »Wiederaufbau Ost« den Menschen im Donbas eine neue Perspektive und die Aussicht auf eine Verbesserung ihres Lebensstandards bieten. Selbstverständlich können die Menschen im befreiten Donbas nicht »besser« gestellt werden als ihre Landsleute aus anderen Landesteilen. Ein gezieltes Förderprogramm für den Donbas würde jedoch einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung des Wir-Gefühls und der Zugehörigkeit zur ukrainischen politischen Nation leisten. Denkbar sind Zuschüsse für die Renovierung von beschädigten Häusern, niedrig verzinste oder zinslose Kredite für Freiberufler:innen und für den Mittelstand, vereinfachte Zulassung und Lizenzierung, staatliche Unterstützung bei der Arbeits- und Ausbildungssuche. Momentan ist jedoch keine Rede davon. Das im März erlassene Gesetz 7198 über staatliche Entschädigungszahlungen für nach dem 24. Februar 2022 infolge des russischen Angriffs stark beschädigten oder komplett zerstörten privaten Wohnraum schließt jegliche Leistungen für Eigentümer:innen der Wohnimmobilien, die sich »zum Zeitpunkt der Verhängung des Kriegsrechts im vorübergehend besetzen Gebiet befanden«, explizit aus. Somit wären laut aktueller Gesetzeslage die in den seit 2014 besetzten Teilen des Donbas lebenden Menschen nach der Befreiung ihrer Region nicht antragsberechtigt.

Ukrainische Kultur retten

Die Kulturpolitik wird beim Konzipieren von strategischen Plänen nicht selten stiefmütterlich behandelt und nur am Rande thematisiert. Die ukrainische Kultur, in den vergangenen Jahren in den »Volksrepubliken« komplett zurückgedrängt und teilweise verboten, braucht künftig eine umfassende Unterstützung des ukrainischen Staates. Der Donbas, vormals eine Wiege der ukrainischen Literatur, Geburtsort von Mychajlo Petrenko, Wolodymyr Sosjura und Wassyl Stus, wartet auf seine kulturelle Renaissance. Ohne finanzielle Sicherheiten werden sich die Kulturschaffenden nicht (wieder) etablieren. Reine Geldspritzen reichen für ein Comeback ukrainischer Kunst und Kultur nicht aus. Dafür benötigt man auch anziehende Beispiele mit hohem Wirkungsgrad. Einflussreiche Persönlichkeiten der Gegenwart aus diversen Bereichen wie Literatur, Sport, Musik und Kunst sowie Internet-Prominenz, wünschenswert in der Region verwurzelt, sollten dafür geworben werden.

Versöhnung großschreiben

Das Zusammenwachsen einer politischen ukrainischen Nation, einschließlich der jetzt noch besetzten Teile des Donbas, ist nur als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu verstehen. Dieser Prozess ist keine Einbahnstraße. Er erfordert sowohl große und systematische Anstrengungen von allen Parteien sowie die Bereitschaft aller, sich von gewohnten Klischees und verfestigen Vorstellungen zu lösen. Die ukrainische Armee wird den Weg zur Wiedervereinigung bereiten. Das Militär kann aber den Kampf um die »Herzen und Seelen« der Menschen nicht gewinnen. Daher muss der Aussöhnung höchste Priorität zugeordnet werden.

Die Re-Integration wird ein Pionierprojekt, da die neueste europäische Geschichte kein vergleichbares Vorhaben kennt. Dementsprechend gibt es kein Patentrezept. Viele Hindernisse und Herausforderungen sind zu überwinden. Generell gilt: die Türen des ukrainischen Hauses sind für alle Menschen aus dem Donbas offen, die die friedliche Zukunft einer demokratischen und unabhängigen Ukraine mitgestalten wollen. Ohne eine detaillierte und vielfältige Roadmap zur Schaffung eines gemeinsamen poltischen, wirtschaftlichen und soziokulturellen Raumes von Lwiw bis Donezk wird es schwierig, dauerhaften Frieden in der Ukraine zu sichern und regierungsfähige Machtstrukturen im Donbas zu etablieren, die auf breite Akzeptanz in der Bevölkerung stoßen.

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Analyse

Etablierungsformen russischer Herrschaft in den besetzten Gebieten der Ukraine: Wege und Gesichter der Okkupation

Von Yana Lysenko
Russlands Besetzung ukrainischer Territorien ab 2014 lief in Wellen und unterschiedlich ab: Durch den Überraschungsmoment und die militärische Überlegenheit wurde die Krim rasch annektiert und integriert. Die selbsternannten »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk wurden jahrelang de facto vom Kreml kontrolliert, jedoch erst im Oktober 2022 de jure angegliedert. Bei den 2022 neu besetzten Gebiete wiederum zeigt sich eine dritte Variante. Der vorliegende Text beleuchtet die unterschiedlichen Etablierungsformen und -stadien der russischen Herrschaft in den besetzten ukrainischen Gebieten und diskutiert, was das für die Akzeptanz der Besatzungsregime bedeutet.
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