Niederlage

Von Jens Siegert (Moskau)

Auch über ein Jahr nach Beginn der russischen Invasion der Ukraine verblüfft immer noch der enorme Kontrast zwischen dem Schock, den Putin damit international ausgelöst hat, und dem trägen Weiter-so in Russland selbst. Trotz des Krieges, trotz der schrecklichen Zerstörungen in der Ukraine, trotz der riesigen Zahl ermordeter ukrainischer Zivilisten und Soldaten, trotz der wohl inzwischen mehr als 100.000 getöteten russischen Soldaten geht das Leben der meisten Menschen in Russland weiter, als gebe es den Krieg nicht. Sie tun (im Alltag) schlicht so, als ginge sie das alles nicht wirklich etwas an. Die politischen Eliten wiederum versichern sich gegenseitig und allen anderen, es laufe alles, wie Präsident Wladimir Putin gerne sagt, nach Plan. Putins unbeirrte Orientierung auf einen (wie er tut unvermeidlichen) Sieg gibt weiter die einzige in Russland und für Russland vorstellbare politische Option vor.

Zwar haben die militärischen Erfolge der Ukraine im vergangenen Herbst, die zähe Verteidigung von Bachmut und anderen Städten an der Frontlinie und die zunehmenden Angriffe (von wem auch immer) auf russisches Territorium die allgemeine Stimmung etwas verdüstert, aber, soweit zu sehen, kaum jemanden zum Umdenken gebracht. Lange zeigten die Umfragen des unabhängigen Lewada-Zentrums eine erstaunliche Kontinuität: Die Zustimmung der Bevölkerung zum Angriff auf die Ukraine blieb unverändert hoch. Mehr als die Hälfte der Befragten, so Lewadas Grandseigneur Lew Gudkow, war noch Anfang des Jahres der Meinung, die sogenannte spezielle Militäroperation sei im Großen und Ganzen ein Erfolg und Russland werde letztendlich siegen. Niederlage? Ausgeschlossen!

Doch nun scheint sich das zu ändern. In den vergangenen Monaten ist in privaten Gesprächen wie in den Medien immer häufiger davon die Rede, Russland könne möglicherweise nicht siegen. Ein wichtiges Anzeichen dafür ist auch die veränderte Begründung des Kremls für den Krieg. Es geht inzwischen nicht mehr um eine angebliche Entnazifizierung der Ukraine (obwohl die offiziell niemand abgesagt hat), sondern man stehe, so von Putin herab bis zu den eifrigen Fernsehpropagandist/innen, in einem Krieg gegen den (ganzen) Westen, in dem die Ukraine nur ein Instrument, eine Marionette und kein eigenständiger Akteur sei, und in dem es um nichts weniger als das Überleben Russlands (als Staat) gehe.

In den inzwischen auch im Westen berühmt-berüchtigten allabendlichen Fernsehshows wetteifern und wettgeifern Moderator/innen und Expert/innen mit ihren ständigen obszönen Drohungen (besonders nach militärischen Fehlschlägen oder neuen Waffenlieferungen an die Ukraine aus dem Westen), man solle und könne nun endlich ernst machen (mit dem Krieg). Der ehemalige Präsidentendarsteller und aktive Twitterer Medwedjew droht mit schöner Regelmäßigkeit, russische (Nuklear-)Raketen könnten in vier Minuten Berlin und in sechs Minuten London erreichen. Das soll wohl dem Westen (und vielleicht auch der Ukraine) Angst machen, sorgt aber nicht ganz zufällig auch für eine wachsende apokalyptische Stimmung in Russland selbst; übrigens vor allem unter Putin-Unterstützer/innen, denn für die wenigen anderen ist die Apokalypse mit Krieg und verschärfter Diktatur längst da. Auch die öffentlichen Anschuldigungen des Kriegsunternehmers Prigoschin und des Tschetschenen Kadyrow, unterstützt von einem Heer ultranationalistischer, sogenannter Z-Blogger (nach dem Siegeszeichen Z auf russischen Panzern und (seltener) in russischen Straßen), die russische Armee sei unfähig, schlecht und korrupt geführt, tragen zur finsteren Stimmung bei.

Nun sollte man das alles nicht mit zufälligem und um sich greifendem Defätismus verwechseln. Zumindest teilweise ist das bewusste und durchaus erfolgreiche Propaganda. Denn dieser Alarmismus trägt, zumindest vorerst, mehr zur Konsolidierung des Putinschen politischen Systems als dass er es stört. Auch Lew Gudkow vom Lewada-Zentrum beobachtet eine zunehmende Zustimmung zum Krieg. Momentan, unter dem Druck dieser Erzählung vom (durch den Westen) angeblich tödlich bedrohten russischen Staat, so sagte er mir unlängst in einem Gespräch, finde so etwas wie eine zusätzliche Polarisierung der russischen Gesellschaft statt. Es gebe immer weniger Menschen mit neutraler oder unentschiedener Meinung zum Krieg, dafür mehr überzeugte Gegner/innen und noch mehr Befürworter/innen. Das sei klare Folge der zunehmend als schlecht bis katastrophal empfundenen militärischen Lage und der langsamen Erkenntnis, dass eine Niederlage in den Bereich des für möglich Gehaltenen rückt.

Hier greift zudem Putins Rekurs auf den Zweiten Weltkrieg oder besser den Großen Vaterländischen Krieg, immer noch eines der am stärksten emotional aufgeladenen Argumente in Russland: Auch heute gehe es wieder um Leben und Tod, und zwar nicht nur von Menschen, sondern des Landes insgesamt. Entsprechend wird eine (ja eigentlich unmögliche Niederlage) von den Propagandist/innen in den schrecklichsten Farben ausgemalt: die Zerstückelung und Besetzung des Landes durch die angeblichen Faschisten, vergewaltigte Frauen, ermordete und entführte Kinder, kurz eine Katastrophe. Das wirkt: Solange das Vaterland in Gefahr ist, so glauben viele Menschen, auch vom Krieg gegen die Ukraine nicht völlig überzeugte, muss interner Streit warten. Es dürfte übrigens kein Zufall sein, dass diese Propaganda-Horrorschilderungen im russischen Fernsehen spiegelbildliche Erzählungen der Gräueltaten russischer Soldaten in der Ukraine sind. Freud rotiert im Grab.

Diese Katastrophenszenarien nun verdecken alle möglichen Vorstellungen davon, wie eine Niederlage anders, also für Menschen und Staat überlebbar aussehen könnte. Solange jede Niederlage als Untergang empfunden wird, wirken die Durchhalteappelle der Führung. Gäbe es da einen Weg heraus? Ich sehe zwei. Der eine führte über eine (auch moralisch) totale Niederlage. Die wünschen sich zwar besonders verständlicherweise in der Ukraine viele und im Westen manche, sie ist aber, trotz aller russischen militärischen Schwäche sehr, sehr unwahrscheinlich. Eine andere Möglichkeit wäre, wie es der Soziologe Grigorij Judin auf Twitter formuliert hat, zu versuchen, die Idee der Niederlage von der Furcht vor einer Katastrophe zu entkoppeln. Dazu müsste die Niederlage zu allererst zu Putins Niederlage werden.

Wie das gehen soll, weiß gegenwärtig kaum jemand zu sagen. Dazu müsste sich in Russland etwas bewegen, das gegenwärtig wie zementiert erscheint. Das wird aber kaum passieren, solange alle Russinnen und Russen unterschiedslos für den Krieg in Haftung genommen werden oder sie zumindest glauben, dass das so ist. Das wissen natürlich auch Putins Fernsehclaqueure wie RT-Chefin Simonjan, weshalb sie gerne warnt: Sollte Russland verlieren, blühe [der Internationale Strafgerichtshof in] Den Haag selbst den Straßenreinigern hinter dem Kreml. Ähnlich vielen im Westen, hätte auch der Kreml nur allzu gern, dass dieser Krieg eben nicht nur Putins, sondern Russlands Krieg ist.

Die Alternative dazu wäre nun natürlich nicht, all die Menschen in Russland, die den Krieg unterstützen oder sich zumindest nicht gegen ihn wenden, von ihrer Verantwortung frei zu sprechen. Sie alle haben bereits Schuld auf sich geladen und tun das mit jedem weiteren Tag Krieg weiter. Aber es gibt eben nicht unterschiedslos gleiche Verantwortung und Schuld für alle. Wer befiehlt zu töten, zu rauben und zu vergewaltigen, wer tötet, raubt und vergewaltigt, ist anders verantwortlich als diejenigen, die wegschauen, egal nun ob aus Angst, Gleichgültigkeit, stillschweigender Zustimmung oder einem Gefühl von Ohnmacht.

In diesem Zusammenhang ist interessant, dass des deutschen Philosophen Karl Jaspers 1946 erschienenes kleines Büchlein Die Schuldfrage dieser Tage in Russland neu herausgegeben wurde und sich reger Nachfrage erfreut, wie Andrei Kolesnikov vom jüngst in Berlin neu gegründeten Carnegie Russia Eurasia Center beobachtet hat. Darin unterscheidet Jaspers vier Stufen von Schuld von Deutschen nach Nationalsozialismus und Holocaust: eine kriminelle Schuld der direkten Täterinnen und Täter, eine politische Schuld der Verantwortungsträger, eine moralische Schuld der Mitläufer und eine metaphysische Schuld aller, die sich als Deutsche, als zu Deutschland gehörig betrachten.

Eine solche differenzierte Verantwortung könnte, im Gegensatz zu unterschiedsloser Verurteilung eine Brücke aus der gegenwärtig ziemlich geschlossenen Wagenburg schlagen. Voraussetzung ist aber, dass möglichst viele Menschen in Russland diese Brücke auch betreten wollen. Danach sieht es momentan nicht aus. Aber Verantwortung muss man aktiv übernehmen. Sie ist immer tätig.

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