Nicht Befürworter:innen und nicht Gegner:innen: Wie verändert sich bei der Bevölkerung in Russland mit der Zeit die Wahrnehmung des Krieges in der Ukraine?

Von Svetlana Erpyleva (PS Lab/Forschungsstelle Osteuropa, Bremen), Oleg Zhuravlev (PS Lab/Scuola Normale Superiore, Florenz)

Zusammenfassung
Auf der Grundlage von qualitativen Längsschnittdaten (Interviews mit Russ:innen aus dem Frühjahr und Herbst 2022) befassen sich die Verfasser:innen mit der Frage, wie sich die Wahrnehmung des Krieges durch gewöhnliche Russ:innen, die nicht eindeutige Gegner:innen des russischen Einmarschs in die Ukraine sind, im Laufe der Zeit verändert. Einerseits ändert sich die Wahrnehmung des Krieges nicht radikal (aus Befürworter:innen werden nicht Gegner:innen und umgekehrt). Andererseits ist die Wahrnehmung nicht stabil und im Wandel begriffen. Diese beiden auf den ersten Blick widersprüchlichen Tendenzen sind Bestandteile ein und desselben Phänomens, nämlich einer »erzwungenen« und raschen Politisierung eines zuvor apolitischen Teils der russischen Gesellschaft.

Einleitung

Der Einmarsch Russlands in die Ukraine war entgegen den Erwartungen vieler Anhänger:innen nicht nach wenigen Wochen oder Monaten abgeschlossen. Und gleichzeitig ist weniger klar und bekannt, was in Russland vor sich geht. Es gibt dort keine öffentliche Diskussion über den Krieg. Das Unvermögen und die Misserfolge der russischen Armee, die Sanktionen des Westens, die verworrenen Erklärungen der Regierung, warum Russland diesen Krieg führt, sowie die Repressionen, die neu entstandene Gruppe der »wütenden Patrioten«, die Polarisierung der Ansichten zum Krieg, all dies verändert die Gesellschaft wie auch die einzelnen Menschen. Uns interessierte in erster Linie, wie sich angesichts des sich über viele Monate hinziehenden Konflikts die Wahrnehmung des Krieges durch gewöhnliche Russ:innen verändert, die nicht eindeutige Gegner:innen des russischen Einmarsches in die Ukraine sind.

Das Public Sociology Laboratorium (PS Lab) hat (zusammen mit weiteren Kolleg:innen) eine Studie durchgeführt, die aus zwei Teilen bestand. Von Ende Februar bis Anfang Juni 2022 wurden 213 qualitative soziologische Interviews geführt, und zwar mit Gegner:innen des Krieges, dessen Befürworter:innen und jenen, die in ihrer Einschätzung schwanken. Von Oktober bis Dezember 2022 wurden 88 Interviews mit »Nichtgegner:innen« durchgeführt (nun konzentrierten wir uns auf die Erforschung der Unterstützung für und die Abwendung vom Krieg, und nicht auf den Widerstand gegen ihn). Mit 40 der Befragten hatten wir bereits im Frühjahr gesprochen.

Wie sich der Blick auf den Krieg (nicht) verändert: 50 shades of perception

Aufgrund der Ergebnisse der Frühjahrsinterviews hatten wir die Befragten in Befürworter:innen des Krieges, dessen Gegner:innen und jene unterteilt, die bei ihrer Einstellung zum Krieg zweifeln. Im Herbst führten wir erneut Interviews mit jenen, die wir als Befürworter:innen und Zweifler:innen eingestuft hatten. Ein Vergleich des ersten und zweiten Interviews derselben Personen ist ein effizientes Instrument, um festzustellen, welche Veränderungen es mit der Zeit bei der Wahrnehmung des Krieges gegeben hat.

Der Vergleich ergab, dass die Einschätzung des Krieges, nachdem sie sich im ersten Kriegsmonat einigermaßen »stabilisiert« hatte, mit einigen wenigen Ausnahmen nicht grundlegend veränderte. Anders gesagt: Während sich der bewaffnete Konflikt hinzog, wurden dessen Befürworter:innen dennoch nicht zu Gegner:innen und umgekehrt. Gleichwohl konnte sich das Maß oder die »Schattierung« der Unterstützung des Geschehens, des Ausweichens oder der Aversion dagegen verändern, und zwar nicht in eine bestimmte Richtung, sondern in ganz unterschiedliche.

Befürworter:innen mit Kritik

Unter den überzeugten Befürworter:innen der »Spezialoperation« gibt es solche, die den Verlauf der Kriegshandlungen positiv bewerten und in ihrer Haltung fester werden. Allerdings äußern sich viele von ihnen in den Herbstinterviews zu einer Reihe von Aspekten der »Spezialoperation« kritisch. Ihnen missfällt, dass sich der Krieg in die Länge zieht, das Durcheinander in der Armee, die mangelnde Entschlossenheit des russischen Vorgehens und das Chaos bei der Durchführung der Teilmobilmachung vom September 2022.

So unterstützt einer der von uns Befragten, ein russischer Nationalist, den Krieg, weil er der Ansicht ist, dass angestammte russische Gebiete (also die Ostukraine) zu Russland »zurückkehren« müssten. Beim ersten Interview im März war der Ton positiv. Er äußerte seine Freude über den Beginn der »Spezialoperation«, meint, dass das notwendig war, und sieht die Folgen positiv. Im zweiten Interview spricht er kaum noch davon, warum der Krieg vonnöten war, und auch nicht von den Folgen. Stattdessen legt er den Akzent auf die Notwendigkeit, den Krieg zu beenden (selbstverständlich mit einem Sieg Russlands). Der Ton des zweiten Interviews ist pessimistisch, mit einer merklichen Spur Fatalismus.

Hier ist es wichtig zu betonen, dass die Befürworter:innen mit Kritik den Krieg gleichwohl weiter unterstützen, und darüber hinaus überzeugte Befürworter:innen des Krieges sind. so träumt der befragte russische Nationalist, der seine ständige Aufregung und Niedergeschlagenheit wegen des Krieges eingesteht, trotzdem von einem entschlosseneren Vorgehen Russlands an der Front. Und von einer Beendigung des Krieges durch einen Sieg Russlands. Ein entschlosseneres Vorgehen Russlands, das ist es, was niedergeschlagene (aber überzeugte) Befürworter:innen mit ihrer Kritik erwarten.

Befürworter:innen mit Zweifeln

Die Wahrnehmung des Krieges bei nicht überzeugten Befürworter:innen und jenen, die wir nach dem Frühjahr als »Zweifelnde« eingestuft hatten, verschob sich in Richtung einer stärkeren Unterstützung. Diese Befragten sprechen ungeachtet einer gewissen Ermüdung durch die »Spezialoperation« davon, dass es erzwungenermaßen eine Fortsetzung geben muss (»wenn man es schon begonnen hat, muss man es auch fortführen«). Gleichwohl sind sie keine echten Befürworter:innen des Krieges. Sie äußern weiterhin eine Unsicherheit hinsichtlich der Ursachen und Ziele des Krieges, machen sich Sorgen wegen der Folgen, usw.

Ein Interview mit einer Studentin einer der angesehenen Moskauer Hochschulen illustriert diese Tendenz sehr gut. Beim Frühlingsinterview hatte die junge Frau bewusst eine neutrale Haltung eingenommen. Sie sagte, dass sie von Menschen mit unterschiedlichen Ansichten umgeben sei. Ihr gefiel die entstehende Spaltung der Gesellschaft nicht, und sie wollte nicht, dass sich die Menschen wegen eines fernen Krieges streiten und ihre Beziehungen kappen. Im zweiten Interview im Herbst rückte sie von ihrer früheren Neutralität ab. Dieser Wandel erfolgte unter dem Einfluss von Freunden, die den Krieg unterstützen (die gegen den Krieg eingestellten waren ausgewandert). Sie habe das Gefühl, dass sie auf der Seite der »Verbliebenen« sein müsse, deshalb neigt sie dazu, den Krieg zu befürworten.

Gleichwohl ist diese Befragte nicht als Befürworterin des Krieges zu bezeichnen. Zum einen ist sie bei ihrem Wandel von einer Neutralität hin zu einer Unterstützung mit ihren veränderten Einschätzungen unzufrieden. Sie würde gern ihre Neutralität beibehalten und es ist für sie fürchterlich, dass dies immer schwieriger wird: »Ich habe keine Angst vor NATO-Panzern in Moskau, weil ich daran nicht glaube. Aber [ich habe Angst] davor, dass sie kommen und fragen: ›Für wen hast du gespendet?‹, ›Liest du Meduza?‹ [ein unabhängiges russischsprachiges Onlinemedium, Anm. d. Red.], ›Hältst du es mit uns oder mit denen?‹ Diese Situation ist nicht hinnehmbar und schrecklich für mich«, sagt sie. Zum zweiten gefällt ihr der Krieg weiterhin nicht. Sie hätte es lieber gehabt, dass »er nicht begonnen« hätte, und sie sieht potenziell kein positives Ende dieses Konfliktes.

Gegner:innen mit Zweifeln

Einige der Befragten, die bereits im Frühjahr wegen des Krieges negative Gefühle hegten, trotzdem aber davon absahen, eine bestimmte Einschätzung des Krieges zu äußern, nahmen den Krieg im Herbst zwar noch negativer wahr, waren aber auch nicht zu eindeutigen Gegner:innen geworden.

Das lässt sich gut am Beispiel des Interviews mit einem dreißigjährigen Befragten erkennen, der im Frühjahr noch im Büro einer US-amerikanischen Firma gearbeitet hatte. Im ersten Interview hatte er sich negativ zu dem tödlichen Krieg geäußert. Dabei schreibt er keiner der beiden Seiten die Schuld zu, weil er meint, dass bei den einfachen Leuten die Informiertheit zum Geschehen »verschwindend gering« sei, und eine Bewertung der Ereignisse einen Zugang auch zu geheimen Informationen erfordert.

Der Tonfall im zweiten Interview dann ist sehr viel depressiver als im ersten: Im Laufe des halben Jahres seit dem ersten Interview hat der Befragte seine Arbeit verloren (die Firma wechselte ihren Standort), eine neue gefunden und war dann gezwungen, dort zu kündigen, weil er sich nach Verkündung der Teilmobilmachung auf Druck seiner Freundin und seiner Mutter zur Auswanderung entschloss. Die Entscheidung fiel ihm nicht leicht. Er fühlt sich immer noch als »Ausweichler«, als jemand, der vor Schwierigkeiten wegläuft.

Doch war er auch im Herbst, trotz der deutlich negativeren Haltung zum Krieg, noch nicht als eindeutiger Gegner des Krieges zu bezeichnen. Auch wenn ihn die Erklärungen für den Einmarsch in die Ukraine nicht überzeugen, die die russische Regierung vorbringt, hält er es für möglich, dass es Gründe für den Einmarsch geben könnte: »Vielleicht gibt es bei all dem irgendwelche positiven Seiten. Vielleicht haben sie da wirklich jemanden befreit, vielleicht wurde da wirklich jemand unterdrückt«, überlegt er ohne Überzeugung. Also haben die Ereignisse des halben Jahres seit Beginn des Krieges dazu geführt, dass dieser Befragte eine noch negativere Haltung zur »Spezialoperation« hat. Dennoch ist er sogar im Herbst 2022, nachdem er zweimal seine Arbeit verlor und nun voll Ungewissheit in einem fremden Land lebt, noch kein eindeutiger Gegner des Krieges.

Die Wahrnehmung verändert sich in beide Richtungen

Oben im Beitrag wurde gezeigt, wie sich die Haltung zum Krieg in die eine oder andere Richtung ändert, in Richtung einer Kritik oder einer Unterstützung. Doch ändert sich die Wahrnehmung des Krieges nicht immer nur in einer Richtung. Personen, die der Politik fernstehen, können sich sehr wohl über einige Aspekte des Krieges entrüstet zeigen, gleichzeitig aber andere Aspekte der »Spezialoperation« unterstützen. Ihre Ansichten können sich somit gewissermaßen in beide Richtungen ändern.

Das Interview mit einer dreißigjährigen Einzelunternehmerin aus Moskau illustriert diese Tendenz wohl am markantesten. Bereits im März 2022 hatte sie im ersten Interview den Krieg verteidigt und sich gleichzeitig einer Bewertung enthalten. Ihr war »weh um Russland«, gegen das die westliche Welt zu Felde ziehe, aus dem sich die modernen Firmen und Marken zurückgezogen haben, obwohl Russland sich nach Ansicht der Befragten verhalten habe wie andere mächtige geopolitische Akteure auch. Ihr gefällt, dass Russland auf die Bedrohung durch den Westen reagiert und zeigt, dass man auf Moskau Rücksicht nehmen muss. Gleichzeitig sagt ihr die persönliche Erfahrung, dass die Argumente zur Rechtfertigung des Krieges, die sie im Fernsehen hört, keine Grundlage haben. Ihr scheint, dass der Krieg negative Folgen haben wird, und dass der Krieg im Allgemeinen sinnlos ist und die Russ:innen ihn nicht brauchen. Als sie diese Empfindungen mitteilte, kam sie zu dem Schluss, dass eigentlich niemand die Wahrheit kenne, und es daher sinnlos sei, den Krieg zu bewerten und in ihm Partei zu ergreifen.

Es hätte sein können, dass diese Befragte sich nach einem halben Jahr stärker der einen oder anderen Seite zuneigt. Das geschah aber nicht, mehr noch: Verstärkt hatten sich sowohl ihre Haltung zu den einen Aspekten der »Spezialoperation«, wie auch ihr Mitgefühl und ihre Unterstützung bei anderen Aspekten. Sie beginnt das Interview im Herbst mit den Worten, dass ihr jetzt nicht mehr alles egal sei. Jetzt wolle sie, dass Russland entschiedener vorgehe und auf die jüngsten Drohungen der Ukraine eine Antwort gibt: »Ich weiß, dass sie die Krimbrücke in die Luft gejagt haben. […] Wir müssen antworten, sonst lacht noch die ganze Welt darüber, dass dieses riesige Russland an einem so zähen Krieg beteiligt ist und gegen die kleine Ukraine verliert«. Ihr Weh um Russland hat sich ebenfalls verstärkt. Ihr scheint, dass ihr Land »ungerechterweise beleidigt wird«, und sie sagt: »ich bin jetzt patriotischer, was ich vorher niemals war

Gleichzeitig hat sich der Krieg nach der verkündeten Teilmobilmachung heftig auf ihr Unternehmen ausgewirkt: Sie hat sowohl einen Geschäftspartner wie auch einen Teil ihrer Kunden verloren. Es verwundert da kaum, dass sie sich negativ, ja sogar aggressiv zur Pflicht äußert, in den Krieg zu ziehen:

»Denk nur, die [Männer, die vor der Mobilmachung ins Ausland flohen] sind erwachsene Männer, die Kinder haben. Da kann sich einer nicht mal am Reck hochziehen und soll jetzt mit dem Gewehr irgendwo hin und sein Leben riskieren? Für wen? Wofür? Ich habe überhaupt nicht diesen Patriotismus. Überhaupt ist das, denke ich, völliger Schwachsinn. Warum soll jemand im 21. Jahrhundert für, weiß der Teufel, wen [im Krieg] kämpfen? Wenn mich eine Mobilmachung erwarten würde, wäre ich selbstverständlich nach drei Minuten weg«.

Im Zuge der starken »Politisierung« des Alltags, also dem Umstand, dass der ferne Krieg auf ganz unterschiedliche Weise in das Leben der Befragten eingreift (wie auch in das der anderen apolitischen Menschen, die sich vom Geschehen abwenden), wurde es schwieriger für sie, ihre Neutralität aufrechtzuhalten, die sie im Frühjahr 2022 zwar nicht immer erfolgreich, aber doch zu bewahren versuchte. Der Krieg widert sie immer stärker an, weil dieser sich auf ihre Angehörigen und auf ihr Unternehmen auswirkt. Sie denkt aber gleichzeitig auch immer mehr über die aus ihrer Sicht unbegründet heftige Reaktion der Welt auf das Vorgehen Russlands nach. Sie macht sich immer mehr um ihr Land Sorgen, und wünscht ihm, dass es stark ist, auch um den Preis eines militärischen Vorgehens in der Ukraine. Sie ist weder eine Gegnerin des Krieges noch eine Befürworterin, ja nicht einmal eine Zweiflerin. Sie ist ein politikferner Mensch, der gegen seinen Willen von der neuen zunehmend politisierten Realität erfasst wurde und jetzt genötigt ist, sich dazu zu äußern.

Ausnahmen, die die Regle bestätigen: Wenn die Ansichten sich ändern

Nur einige der im Herbst Befragten erzählten uns von erheblichen Veränderungen in ihrer Haltung zum Krieg. Nichtsdestotrotz ergibt eine eingehende Analyse der – dem Anschein nach – Ausnahmefälle, dass auch diese die oben beschriebenen Tendenzen gewissermaßen bestätigen.

Eines dieser Interviews ist das Gespräch mit einer fünfzigjährigen Frau aus dem Leningrader Gebiet. Sie berichtet, dass sie ihre Ansicht zum Krieg nicht nur einmal, sondern mehrere Male geändert hat. Die Befragte hatte sich nie für Politik interessiert, und ihre ersten Reaktionen auf die Nachricht vom Kriegsbeginn waren Schock und Aversion. Doch unterstreicht diese Befragte – anders als viele Befürworterinnen des Krieges – die im Februar und März ähnliche Gefühle empfanden, dass sie »von Anfang an kategorisch dagegen war«. Praktisch ihre gesamte Umgebung unterstützte jedoch den Krieg. Ihre Bekannten erklärten ihr, so die Befragte, dass der Krieg notwendig sei, und versuchten, sie mit kriegsfreundlichen Medienquellen vertraut zu machen. Daraufhin »gab sie auf« und wechselte auf die Seite der Bekannten in ihrer Umgebung.

Nach einiger Zeit kamen ihr erneut Zweifel an der von ihr selbst geschaffenen Erklärung des Geschehens. Sie ist traurig wegen der gefallenen Soldaten, vor allem der russischen, und sie fragt sich, ob die verschwommenen, intransparenten Ziele der »Spezialoperation« diese Opfer Wert sind. Unser Interview fand genau in dieser Phase der Zweifel statt. Am Ende des Interviews sagte sie, dass ihrer Ansicht nach jetzt der Krieg schneller beendet werden müsse. Dennoch ist diese Frau nicht zu einer eindeutigen Gegnerin des Krieges geworden, und sie wird es wohl auch nie werden.

Dieses Interview ist allerdings ein Beispiel dafür, wie wandelbar die Wahrnehmung des Krieges sein kann, wenn es keinen festen Boden gibt, wenn dahinter keine »politische Position« steht. Auch wenn nur bei einer kleinen Zahl der von uns Befragten die Wahrnehmung derart stark schwankte, sind diese Fälle dennoch auf gewisse Weise typisch: In einer Gesellschaft, in der Politik (und umso mehr Geopolitik) für die überwiegende Mehrheit nicht Teil des Lebens ist, kann es keine »feste Haltung« zu plötzlich ausgebrochenen geopolitischen Konflikten geben. Daher sind das Fehlen radikaler Veränderungen bei der Wahrnehmung des Krieges (wenn aus überzeugten Befürworter:innen des Krieges überzeugte Gegner:innen werden und umgekehrt) und eine »Instabilität« und Wechselhaftigkeit der Wahrnehmung (in gewissen Grenzen) zwei Seiten einer Medaille.

Warum geschieht das so? Mechanismen für eine veränderte Wahrnehmung des Krieges

Durch eine Analyse der Herbstinterviews, insbesondere durch einen Vergleich mit den ersten Interviews, können wir einige Annahmen formulieren, warum die von uns Befragten ihre Ansichten zum Krieg (nicht) ändern.

Eine der Ursachen dafür, dass die Ansichten zum Krieg so wandelbar sind, ist die Polarisierung in der Gesellschaft hinsichtlich der Bewertung des Krieges in den verschiedenen Bevölkerungsschichten. Diese Polarisierung ist in der Frage zugespitzt: Sind Sie für oder gegen die »Spezialoperation«?

Das Interview mit einer der Befragten, nämlich der oben zitierten Studentin, macht diesen Mechanismus sehr deutlich. Diese Befragte hatte im Frühjahr keine klare Haltung zum Krieg gehabt, mit der Zeit jedoch – das wird aus dem zweiten Interview im Herbst deutlich – bewegte sie sich hin zu einer stärkeren Unterstützung für den Krieg. Sie wird als junge Frau von Welt, die an einer angesehenen Moskauer Hochschule studiert, unweigerlich in politische Diskussionen verwickelt. Und da sie noch jung und apolitisch ist, besteht eine große Abhängigkeit von den Ansichten der Menschen, die sie umgeben. Diese Abhängigkeit offenbart den Mechanismus, wie die Polarisierung sich auf die Wahrnehmung des Krieges auswirkt. Im ersten Interview sagte sie, dass sie vom Beginn des Krieges durch einen Chat erfahren habe, in dem ihre »Bekannten über Politik reden«. Diese Formulierung ist vielsagend: In ihrem Bekanntenkreis wird über Politik geredet, aber sie sagt nicht »wir reden«. Sie delegiert die Rolle des Subjekts, das Politik erörtert, an ihre »Bekannten«, und gibt damit ihre Haltung preis, dass sie sich an diesen Überlegungen orientiert. Sie spricht in beiden Interviews davon, dass sie »Leute zu Hause besuchen«, die unterschiedliche Bewertungen der »Spezialoperation« verfechten.

Da sie in ihrer Umgebung eine Polarisierung der Meinungen erlebt, ist sie für diese Polarisierung stark anfällig. Sie sagte: »Jetzt habe ich Angst, dass ich mich zwischen Leuten entscheiden muss«. Sie befindet sich im Strudel der Polarisierung und neigt immer mehr zu einer Befürwortung des Krieges, da dies die am stärksten verbreitete, dominierende Ansicht ist.

Hier ist wichtig anzumerken, dass bei dieser Befragten die Bewegung in Richtung einer Befürwortung des Krieges nicht nur auf die Polarisierung zurückzuführen ist, sondern auch auf ihre gesicherte wirtschaftliche und soziale Stellung in der russischen Gesellschaft. Mehr noch: Der Krieg und die damit verbundenen Veränderungen haben diese Stellung nicht beeinträchtigt, die Befragte ist weiterhin wohlhabend, erfolgreich und privilegiert, und hat somit etwas zu verlieren. Möglicherweise hat sie sich angesichts der Polarisierung auch deshalb dafür entschieden, die aktuelle Politik der russischen Regierung zu befürworten, unter anderem in Bezug auf die Ukraine.

Der Faktor persönlicher Erfolg lässt sich auch durch ein anderes Interview illustrieren, das mit einem jungen Mann, der sich in seiner Befürwortung des Krieges verfestigt hat. Er unterstützt nun stärker die russische Armee und Führung; seine Haltung gegenüber der Ukraine und den Ukrainer:innen wurde aggressiver, gar unerbittlich. Bei einem Vergleich der beiden Interviews wird deutlich, dass im zweiten Interview zu der Haltung, seine Stellung (und die seiner Umgebung) in der Gesellschaft zu verteidigen, zusätzlich die Notwendigkeit kommt, das Land gegen den Westen zu verteidigen.

In der Zeit zwischen den beiden Interviews hat es der Befragte geschafft, die ungeliebte Arbeit loszuwerden und eine attraktive Stelle mit Bezug zu einem Bereich anzunehmen, der früher sein Hobby war (Musik). Die Erfahrung, aufzusteigen und beruflich erfolgreich zu sein, steigert seine Gewissheit, dass sich Russland infolge des Krieges wirtschaftlich in der richtigen Richtung bewegt und die Produktion im Lande angekurbelt wird. Und vor allem spricht der Befragte mit Überzeugung davon, dass sich seine Stellung in der Gesellschaft verbessert.

Wir sehen also, dass die Polarisierung der Meinungen in der Gesellschaft und persönlicher Erfolg, der die Stellung in der Gesellschaft festigt, sich zusammengenommen darauf auswirken können, wie sich die Wahrnehmung des Krieges verändert. Weitere Faktoren, die diese Veränderungen beeinflussen, harren noch einer Erforschung.

Übersetzung aus dem Russischen Hartmut Schröder

Näheres zur Methodik und den Daten unserer Studie ist auf der Internetseite des Public Sociology Laboratory zu finden: http://publicsociology.tilda.ws/ukreng.

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Kommentar

Würde Putin vom eigenen Volk für eine Invasion in die Ukraine abgestraft werden?

Von Henry E. Hale
Viele glauben jetzt, dass Russland eine weitere, großangelegte Invasion in die Ukraine unternehmen wird, was den Krieg, der seit 2014 (weitgehend unbeachtet von den Schlagzeilen im Westen) im Osten der Ukraine wütet, dramatisch ausdehnen würde. Die Staats- und Regierungschefs im Westen wollen sicherstellen, dass der russische Präsident Putin einen hohen Preis zu zahlen haben wird, falls es zu einer Invasion kommt. Jüngste Studien kommen zu dem Schluss, dass auch das Volk in Russland Putin zur Rechenschaft ziehen würde, allerdings ist weniger klar, wann oder wie.
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