Memorial im Nordkaukasus

Von Marit Cremer (Fachhochschule Potsdam und MEMORIAL Deutschland)

Die Anfänge im Kaukasus

Mit dem Zerfall der Sowjetunion brechen besonders an ihren Rändern kriegerische Konflikte aus. Am stärksten davon betroffen ist neben Zentralasien der Kaukasus. Bereits 1989 nimmt die spätere Mitbegründerin der Memorialorganisation »Migration und Recht«, Swetlana Gannuschkina, an einer ersten Beobachtermission in Berg-Karabach teil und begründet damit das Programm »Gorjatschie totschki« (»Hotspots«), das zum Dauerbrenner des 1991 gegründeten Menschenrechtszentrums Memorial werden sollte.

Memorial folgt dabei von Anfang an der Annahme, dass Frieden und Stabilität untrennbar mit der Achtung der Menschenrechte verbunden sind. Die Beobachtung und Dokumentation von Konflikten stellen die Grundlage seiner Arbeit dar. Umfassende Informationen über Menschenrechtsverletzungen werden bereitgestellt, Falschinformationen und Gerüchte entlarvt, um eskalierende Konflikte entschärfen und juristisch aufarbeiten zu können. Memorial berät und unterstützt Geschädigte vor nationalen Gerichten und gibt die Fälle bei unbefriedigender Entscheidung an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) weiter. Bis heute wurde die Russische Föderation in zahlreichen Fällen von der im Nordkaukasus weit verbreiteten Praxis von Entführungen, spurlosem Verschwindenlassen von Häftlingen, rechtswidrigem Freiheitsentzug, Folter und der Nichtuntersuchung von Straftaten vom EGMR für schuldig befunden und zu Entschädigungszahlungen verurteilt.

Beginnend mit der Aufarbeitung der Ereignisse während des ossetisch-inguschischen Konflikts 1993–1994 verlagert sich die Arbeit Memorials schwerpunktmäßig in den Nordkaukasus. In Dagestan, Inguschetien, Kabardino-Balkarien und Tschetschenien werden ständige Vertretungen und juristische Verbindungsbüros von Memorial aufgebaut, um der Straflosigkeit bei Menschenrechtsverletzungen in den bewaffneten Konflikten zu begegnen, die Gesellschaft über ihre Rechte auch während dieser Auseinandersetzungen und staatlicher Terrorismusbekämpfung zu informieren und nach Soft-Power-Strategien der Konfliktlösung zu suchen.

Tschetschenien und kein Ende

Als russländische Truppen 1994 in Tschetschenien einmarschieren und Grosnyj zum Jahresende bereits fast vollständig zerstört ist, machen es sich die Menschenrechtsbeobachter von Memorial zur Aufgabe, die verheerenden Verletzungen der Menschenrechte und des internationalen humanitären Rechts unter Einsatz ihres eigenen Lebens zu dokumentieren und an die Öffentlichkeit zu bringen.

Nachdem im Juni 1995 tschetschenische Unabhängigkeitskämpfer um Schamil Basajew das Krankenhaus in Budjonnowsk einnehmen und Hunderte Geiseln nehmen, um einen Waffenstillstand in Tschetschenien zu erzwingen, verhandeln der ehemalige politische Gefangene Sergej Kowaljow, der sieben Jahre Einzelhaft im sowjetischen Straflager Perm 36 überlebte und sein Mitstreiter von Memorial, Oleg Orlow, mit den Terroristen und bieten sich selbst zum Austausch für die Geiseln im Krankenhaus an.

Dokumentationen der Gewalt

Die »Chronik der Gewalt« (https://memohrc.org/ru/tags/hronika-nasiliya) wird als ein fortlaufenden Format der Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen im Nordkaukasus zu einer wichtigen frei zugänglichen Quelle. Sie und zahlreiche weitere regelmäßig publizierte Berichte und Bulletins (https://memohrc.org/ru/specials/byulleten-pravozashchitnogo-centra-memorial-situaciya-v-zone-konflikta-na-severnom-kavkaze) des Menschenrechtszentrums werden zu wertvollen Grundlagen von – oft verlorenen – Klagen vor russischen Gerichten und oft erfolgreichen Klagen vor dem EGMR in Straßburg gegen die Russische Föderation.

Ebenso wichtig für die Aufarbeitung der gewaltsamen Auseinandersetzungen im Nordkaukasus sind Veröffentlichungen, die namentliche Auskunft geben über getötete, vermisste oder in Gefangenschaft geratene russländische Soldaten.

Mit Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges 1999 intensiviert das Menschenrechtszentrum seine Arbeit im Nordkaukasus und richtet mehrere Büros in der Region ein, in denen ortsansässige Kolleg:innen Aussagen über Menschenrechtsverletzungen dokumentieren, nach Vermissten suchen, juristische Beratung oder Vertretung vermitteln und humanitäre Hilfe verteilen.

Die »Chronik der Gewalt« erlangt nun auch in europäischen Ländern Brisanz, wohin ab Anfang der 2000er Jahre immer mehr tschetschenische Familien fliehen. Auf Einladung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg trägt Swetlana Gannuschkina jährlich ihren Bericht über die Menschenrechtssituation in Tschetschenien vor und appelliert mit zunehmender Eindringlichkeit an die Behörden und Gerichte, Menschen aus Tschetschenien in Europa Asyl zu gewähren.

Zum »Klassiker« der Dokumentationen über Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien wird die in fünf Bänden erschienene Chronik »Hier wohnen Menschen« (»Sdes shiwut ljudi«). Der Titel bezieht sich auf eine Toraufschrift, mit der die von vielfachem Beschuss geplagten Bewohner:innen von Höfen auf ihre Anwesenheit aufmerksam machen wollen, um weiteren Beschuss zu verhindern.

Memorial International gründet im Jahr 2001 das Informationsportal »Kawkaskij usel« (Der Kaukasische Knoten, https://www.kavkaz-uzel.eu), das fortan auf seiner Website über Ereignisse aus dem Kaukasus berichtet und über seine englischsprachige Seite »Caucasian Knot« zu einer wichtigen Nachrichtenquelle auch über die Region hinaus wird.

Internationale Resonanz

Immer mehr Publikationen von Memorial über die »Konfliktzone Nordkaukasus« finden durch von zahlreichen internationalen Stiftungen und Programmen geförderten übersetzten Herausgaben ihren Weg in die europäische Öffentlichkeit. »Zu wissen, dass du noch lebst. Kinder aus Tschetschenien erzählen«, das von Irina Scherbakowa und Grigorij Schwedow 2004 unter dem Titel »Byt Tschetschenzem – mir i wojna glasami schkolnikow« (»Tschetschene sein – Frieden und Krieg gesehen mit den Augen von Schülern«) publiziert wird, erscheint zwei Jahre später mit Vorworten von Klaus Bednarz und Ralf Fücks im Berliner Aufbau Verlag. Zu den fliehenden Menschen aus Tschetschenien, die in Europa eine neue und weitgehend unbekannte Bevölkerungsgruppe darstellen, stellt Memorial fundierte Informationen, Analysen und Reportagen aus dem Kriegsalltag bereit. MEMORIAL Deutschland macht Tschetschenien zu einem seiner Forschungsschwerpunkte und veröffentlicht 2007 die erste grundständige Studie zu Tschetschenien und tschetschenischen Frauen in Deutschland (https://www.transcript-verlag.de/978-3-89942-630-4/fremdbestimmtes-leben/), der eine weitere zu Bewältigungsstrategien der tschetschenischen Diaspora in Deutschland folgt (https://www.campus.de/buecher-campus-verlag/wissenschaft/soziologie/angekommen_und_integriert-14257.html).

Schwerste Zeiten

Im Nordkaukasus wird für Memorial die Luft immer dünner. Der Leiter des Programms »Hotspots«, Oleg Orlow, sowie mehrere Journalisten werden im November 2007 in Inguschetien überfallen. Zur Katastrophe kommt es am 15. Juli 2009, als die Leiterin des Memorialbüros in Grosnyj, Natalja Estemirowa, vor ihrem Wohnhaus entführt und wenig später in der Nachbarrepublik Inguschetien ermordet aufgefunden wird. Mehrere Memorialmitarbeiter:innen verlassen vorübergehend Tschetschenien, das Büro bleibt für ein halbes Jahr geschlossen. Als Oleg Orlow den Präsidenten Tschetscheniens, Ramsan Kadyrow, öffentlich für den Mord verantwortlich macht, klagt dieser gegen ihn wegen angeblicher Verleumdung. Orlow, der im gleichen Jahr den Sacharow-Preis des Europäischen Parlaments für die Meinungsfreiheit erhält, wird 2011 von einem Moskauer Gericht zu einem Schmerzensgeld von umgerechnet etwa 460 € verurteilt.

Ein Lichtblick in den juristischen Auseinandersetzungen, die Memorial an verschiedenen Fronten führt und mit zunehmender Häufigkeit in Russland verliert, zeigt sich 2017, als der EGMR die Klage der »Mütter Beslans« positiv entscheidet und Russland der Verletzung des Rechts auf Leben bezichtigt wird.

Auch nach der offiziellen Verkündigung der Beendigung des seit 1999 andauernden zweiten Tschetschenienkriegs durch Ramsan Kadyrow im Jahr 2009 dokumentiert Memorial weiterhin massive Menschenrechtsverletzungen in der Kaukasusrepublik. Die weit verbreitete Perspektivlosigkeit zeigt sich besonders deutlich, als 2013 in der Republik gezielt Gerüchte über ein großzügiges deutsches Aufnahmekontingent für tschetschenische Geflüchtete gestreut wird und fast 15.000 Menschen Tschetschenien den Rücken kehren, um in Deutschland – überwiegend ohne Erfolg – Asyl zu beantragen. Swetlana Gannuschkina vermutet, dass diese Falschinformation das Ziel hatte, Europa mit einer »problematischen« Migrantengruppe zu destabilisieren, eine Strategie, die sich offenbar aktuell in Belarus wiederholt. Während Gannuschkina selbst kein Blatt vor den Mund nimmt und Kadyrows Tschetschenien gern als »kaukasisches Nordkorea« bezeichnet, gilt als feste Regel dennoch immer, die einheimischen Kontaktpersonen, mit denen Memorial im Nordkaukasus arbeitet, möglichst durch die Zusammenarbeit nicht zu gefährden. Es ist ein permanentes Abwägen, Riskieren, Ausprobieren, was man sagen, veröffentlichen und von den für Folter, Korruption, Verfolgung, Verschwindenlassen und viele weitere Menschenrechtsverletzungen verantwortlichen Funktionären und Beamten einfordern kann. Libchan Basajewa, die als Geflüchtete im zweiten Tschetschenienkrieg in Inguschetien für Memorial arbeitet, weist auf die Gefahr hin, die Grenze, die man auf keinen Fall überschreiten darf, nicht mehr wahrzunehmen. Natalja Estemirowa sei genau das passiert.

In Grosnyj wird Anfang des Jahres 2018 Estemirowas Nachfolger im Memorialbüro, Ojub Titijew, wegen einer nachweislich von Polizisten fabrizierten Straftat zu vier Jahren Haft verurteilt, von denen er anderthalb Jahre absitzt. Kurz nach seiner Festnahme brennt das Memorialbüro in Nasran (Inguschetien) ab. Memorial schließt sein Büro in Grosnyj, führt seine Arbeit jedoch vollumfänglich in Inguschetien und allen anderen nordkaukasischen Regionen weiter.

Der FSB in Inguschetien und die Klage gegen das Menschenrechtszentrum

Im September 2019 erstellt die Russländische Verbraucherschutzbehörde erste Protokolle gegen das Menschenrechtszentrum Memorial wegen Verstoßes gegen die Auflagen des so genannten »Agentengesetzes«. Initiator der Protokolle ist der FSB in Inguschetien. Alexandr Tscherkasow, der von der Staatsanwaltschaft als Leiter des Menschenrechtszentrums Memorial auch persönlich haftbar gemacht wird, sieht einen Zusammenhang zu den bisher fünfzehn erfolgreichen Gerichtsverfahren wegen Menschenrechtsverletzungen in Inguschetien vor dem EGMR. Ein weiteres Ärgernis aus Sicht Inguschetiens dürfte die juristische Unterstützung von 52 Personen durch Memorial sein, die im Frühjahr 2019 gegen die Änderung der Grenze zwischen Inguschetien und Tschetschenien protestierten und nun strafrechtlich verfolgt werden.

Ruhig bleiben und weitermachen!

Memorial hat über die drei Jahrzehnte im Nordkaukasus trotz hoher Risiken und beklagenswerter Verluste ein weit gefächertes Netzwerk mit stabilen Strukturen und Kontakten aufgebaut. Es hat den Samen gelegt für ein klares Verständnis von Menschenrechten und die Notwendigkeit ihrer Verteidigung überall – auch im von Traditionen und Repressionen beherrschten Nordkaukasus. Die Früchte der beharrlichen Forderung nach Einhaltung der Menschenrechte zeigen sich nicht nur vor dem EGMR, sondern auch bei einem wachsenden Teil der Bevölkerung und manchen Mitarbeitenden staatlicher Strukturen. Die Arbeit wird weitergeführt – so oder so.

Zum Weiterlesen

Analyse

Den Nordkaukasus vor Gericht bringen: Russische Nichtregierungsorganisationen und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte

Von Freek van der Vet
Russische NGOs sehen in ihrem Land angesichts der schleichenden Auswirkungen des Gesetzes über »ausländische Agenten« unsicheren Zeiten entgegen. Während die NGOs um ihre Existenz kämpfen wird ihre Arbeit dennoch fortgeführt. Insbesondere zwei NGOs bringen weiterhin im Namen von Opfern schwerer Gräueltaten, vor allem im Nordkaukasus, Beschwerden vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Sie unternehmen das nicht nur, um den Staat in die Pflicht zu nehmen, sondern auch um Druck auf die Behörden auszuüben, damit die Angehörigen die sterblichen Überreste der Opfer zurückerhalten.
Zum Artikel

Logo FSO
Logo DGO
Logo ZOIS
Logo DPI
Logo IAMO
Logo IOS