Vorwärts Russland! Die Botschaft des Präsidenten an die Föderalversammlung

Von Hans-Henning Schröder (Berlin)

Zusammenfassung
Putins Bericht zur Lage der Nation – die »Botschaft an die Föderalversammlung« – ist ein bemerkenswertes Dokument. Erstmals nimmt ein russischer Präsident das nationale Narrativ vom »Großen Russland« auf und macht es zur Grundlage offizieller Politik. In der Substanz enthielt sie wenig Neues, viele wichtige Themen fehlten ganz. Doch sie war durchsetzt von Bezügen auf die 1000jährige russische Geschichte, auf Patriotismus und nationale Werte. Beamte und Unternehmer, die russisches Kapital ins Ausland schaffen, figurieren als Feindbilder, »deoffshorisazija« – Beendigung der off shore-Geschäfte – wird zum Schlagwort. Putin bedient damit eine nationalkonservative Mehrheit und versucht damit das schwindende Vertrauen der Bevölkerung zurückzugewinnen. Diese Politik ist deshalb problematisch, weil Teile der Gesellschaft ausgegrenzt und Konflikte innerhalb der Eliten angeheizt werden.

2012 – ein kritisches Jahr

Der Präsident hat sich Zeit gelassen. Die alljährliche »Botschaft an die Föderalversammlung« präsentierte er den versammelten Vertretern von Föderationsrat und Staatsduma erst am Verfassungstag, dem 12. Dezember. Das späte Datum war wohl den Umständen geschuldet: Im März gewählt, wurde der Präsident Anfang Mai in sein Amt eingeführt. Im Herbst quälte ihn eine rätselhafte Unpässlichkeit, die ihn an Auslandsreisen hinderte und wohl auch größere zeremonielle Auftritte nicht wünschenswert erscheinen ließ. Zudem war die politische Situation das Jahr über durchaus kompliziert. Die Unzufriedenheit in Teilen der Bevölkerung, die zu den Demonstrationen des Winters 2011/12 geführt hatte, ist nicht abgeklungen, und innerhalb der Führungselite gibt es offenbar Unstimmigkeiten und Konflikte. Insofern ist es verständlich, dass der Präsident den Termin für seine erste große programmatische Rede in der neuen Amtszeit möglichst weit hinausschob.

Dabei ist die wirtschaftliche Situation nicht ungünstig. Die internationalen Energiepreise blieben hoch – der Spot-Preis für ein Barrel der Marke »Brent« betrug Anfang November 2012 zwischen 105 und 109 US-Dollar –, und sorgten für ein anhaltendes Wirtschaftswachstum. Die jährliche Zunahme des Bruttoinlandsproduktes lag 2010–2012 mit über 4 % zwar unter den gewünschten Raten, doch weit über den Werten westeuropäischer Industrieländer. Auch die Industrieproduktion stieg, allerdings lag der Zuwachs für das erste Halbjahr 2012 mit 3,2 % deutlich unter den Vorjahreswerten. Da die Arbeitslosenrate zwischen 2010 und 2012 von 7,2 % auf 5,4 % sank, und die Durchschnittslöhne 2011 und 2012 deutlich höher lagen als vor der Finanzkrise 2008/9, sind die sozioökonomischen Rahmendaten nicht ungünstig.

Die günstige Wirtschaftsentwicklung genügte aber offenbar nicht, um den allmählichen Vertrauensschwund aufzuhalten, der seit 2008/09 im Gange ist. Betrachtet man die Umfragewerte des Lewada-Zentrums (vgl. Grafik 4 auf S. 21), dann sieht man, dass die Vertrauenswerte für Putin seit 2008 und die Medwedews seit September 2009 fortgesetzt zurückgehen. Waren die Werte im Kontext der Wahlen 2003/2004 und 2007/2008 immer nach oben geschnellt, so zeitigten die Medienkampagnen im Umfeld der Wahlen 2011/2012 nur geringe Wirkung. Die »Marke Putin« ist in der russischen Öffentlichkeit zwar immer noch ohne echte Konkurrenz, doch verliert sie zunehmend an Anziehungskraft. Der Bevölkerung steckt die Angst vor Preisanstieg in den Knochen, sie macht die Führung dafür verantwortlich, weil die nicht ausreichend für soziale Sicherungen sorge, und ein wachsender Anteil der Befragten nimmt sie als egoistisch und korrupt wahr (vgl. Grafik 8 auf S. 23).

Repressive Stabilisierung statt Reform

Putins neues Team hat offenbar kein Rezept gefunden, um kurzfristig eine Wende herbeizuführen. Sergej Iwanow und Wjatscheslaw Wolodin, die an der Spitze der Präsidialadministration standen, versuchten nicht, die protestierenden Mittelschichten politisch zu integrieren, wie Medwedew es noch im Januar 2012 mit seiner Wahlrechtsreform angestrebt hatte. Das Anderthalbparteiensystem wurde nicht reformiert, auf die Gründung einer liberalen Partei, die kritische Mittelschichten hätte ansprechen können, wurde verzichtet. Der Administration gelang es auch nicht, sich auf die Schnelle im russischen Internet und den sozialen Medien gegen die Regimekritiker durchzusetzen. Sie zieht es offenbar vor, durch rasch zusammengeschusterte Gesetze die Möglichkeit zu schaffen, repressiv gegen Kritiker vorzugehen, sei es durch eine Änderung des Kinderschutzgesetzes, die es erlaubt, missliebige Webseiten lahmzulegen, sei es durch Regelungen, mit deren Hilfe kritische Nichtregierungsorganisationen als »ausländische Agenten« gebrandmarkt werden können. Führer der Straßenopposition werden mit Prozessen überzogen. Der Auftritt der Punkband »Pussy Riot« in der Moskauer Erlöserkathedrale, der von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wird, bot Gelegenheit, eine konservative Öffentlichkeit gegen Protestler und Andersdenkende zu mobilisieren. Die Regionalwahlen am 14. Oktober zeigten lediglich die Fähigkeit der Partei »Einiges Russland«, Gouverneurswahlen erfolgreich zu manipulieren und politische Konkurrenz bereits im Vorfeld der Wahl auszuschalten. All dies sicherte zwar die Stabilität des Regimes, führte aber nicht zu einem Vertrauensgewinn in der Gesellschaft.

Die schleichende Vertrauenskrise zwischen »Macht« und »Volk« ist aber nicht das einzige Problem der neuen Administration. Es ist erkennbar, dass es auch innerhalb der Eliten Irritationen gibt. Die personellen Umbesetzungen in der politischen Führungsspitze, bei der die wichtigsten Minister Putins in die Präsidialadministration wechselten, während die Posten im Kabinett Medwedew meist von Personen der zweiten Reihe besetzt wurden, veränderten auch die Kräfteverhältnisse innerhalb der Machtelite. Es zeichnet sich ab, dass der Zugriff auf die Ressourcen nun teilweise neu verteilt werden muss. So wechselte der einflussreiche Stellvertretende Ministerpräsident Igor Setschin in die Staatswirtschaft und übernahm die Leitung des Ölkonzerns Rosneft, den er durch Übernahme des Unternehmens TNK-BP und eine Partnerschaft mit BP neu aufstellte. Eine Gruppe russischer Oligarchen um Michail Fridman, die versucht hatte, TNK-BP unter Kontrolle zu bringen, zog den Kürzeren.

Zeitgleich begann eine Kampagne gegen Beamte, Politiker und Geschäftsleute, die Vermögenswerte ins Ausland geschafft haben. Der oil trader Gennadij Timtschenko, ehemaliger KGB-Offizier, inzwischen finnischer Staatsbürger und in der Schweiz ansässig, verlor zeitweise seine russischen Lieferkontrakte. Putin, hieß es gerüchteweise, habe ihn angewiesen, sein Kapital nach Russland zurückzuführen. Eine Gesetzesinitiative, die aus der Fraktion »Einiges Russland« heraus lanciert wurde und die Abgeordneten und Beamten verbieten soll, Konten und Immobilien im Ausland zu besitzen, zielt in dieselbe Richtung. Die Korruptionsskandale der letzten Monate – im Verteidigungsministerium, bei Rostelekom, bei GLONASS (dem russischen Satellitennavigationssystem), im Landwirtschaftsbereich und im Wohnungsbau – taten ein Übriges, um die Eliten zu verunsichern. Ob es hier um bloße Klan-Konflikte geht, oder ob das System der Selbstbereicherung ernsthaft in Frage gestellt wird, ist nur schwer zu beurteilen.

Symptomatisch für die Verunsicherung innerhalb von Wirtschaftseliten und politischer Klasse ist der Umgang mit der unbestätigten Information, Putin habe eine Rückenverletzung. Dieses Gerücht wurde von der Umgebung Putins hartnäckig dementiert und von den Medien genauso hartnäckig mit immer neuen Bildern und Meldungen genährt. In einem stabilen Machtsystem wäre die Meldung, dass die Führungsfigur vorübergehend nicht reist und möglicherweise krank ist, ohne Bedeutung. Erst wenn es ungeklärte Machtverhältnisse zwischen den Elitengruppen gibt, wird aus dem möglichen Sportunfall des Präsidenten, der der wichtigste Vermittler in Elitenkonflikten ist, ein politisches Problem.

Putins »Botschaft« – das Narrativ von der geistigen Wende

In dieser Situation musste die »Botschaft an die Föderalversammlung der Russischen Föderation« besondere Bedeutung haben. Sie gab dem Präsidenten Gelegenheit, sich als politische Führungsfigur darzustellen und ein Narrativ zu präsentieren, mit dessen Hilfe das Vertrauen zwischen »Volk« und »Macht« wiederhergestellt wird. Eben dies hat Wladimir Putin am Verfassungstag im Dezember 2012 versucht.

Ganz bewusst verzichtete er darauf, ein Programm konkreter politischer Maßnahmen zu entwerfen. Er verwies dazu auf die programmatischen Artikel, die er Anfang 2012 als Präsidentschaftskandidat publiziert hatte, und auf seine ersten Erlasse im Mai, in denen er die nächsten sozial- und wirtschaftspolitischen Schritte skizziert hatte. Er ging auch nicht auf sicherheits- und außenpolitische Fragen ein. Weder die Raketenabwehr, noch das Verhältnis zu NATO, EU oder den Nachbarn in Asien stand auf der Tagesordnung. In den Mittepunkt seiner Ausführungen stellte der Präsident das souveräne, starke Russland, das sich seiner 1000jährigen Geschichte wohl bewusst ist, und aus der Tradition und den traditionellen russischen Werten seine Stärke und seine moralische Orientierung bezieht.

Für einen russischen Präsidenten sind das in der Tat neue Töne. Hatte Dmitrij Medwedew 2009 das Konzept der Modernisierung in den Mittelpunkt seiner Ausführungen gestellt und die Fehler und Fehlentwicklungen der Vergangenheit thematisiert, so beschwor Putin 2012 die »einzigartige, ununterbrochene tausendjährige Geschichte, auf die gestützt wir innere Stärke und den Sinn nationaler Entwicklung gewinnen«. Aus solchen Formulierungen wird deutlich, dass die Putin-Administration eine Wende vollzogen hat und sich dem nationalen Lager annähert. Denn das Narrativ an sich ist nicht neu, man findet es seit langem in den Diskussionen der nationalen Intelligenz, die an den Diskurs der Slawophilen des 19. Jahrhunderts anknüpft und sich gegen eine »Überfremdung« durch »westliche« Ideen wehrt.

Dass dieser rückwärtsgewandte Diskurs nun Eingang in das politische Programm des Präsidenten findet, ist bedenklich, kommt allerdings nicht überraschend. Schon die Personalpolitik des Präsidentschaftskandidaten Putin, der einen Vertreter nationalen Denkens wie Goworuchin in sein Wahlkampfteam holte, die Präsidialadministration Sergej Iwanow unterstellte, und eine so zweifelhafte Figur wie den Rechtspopulisten Dmitrij Rogosin mit wichtigen Regierungsämtern betraute, wies in diese Richtung. Auch die Fokussierung der außenpolitischen Anstrengungen auf die Integration des »Eurasischen Raumes« und die Vernachlässigung der Beziehungen zur EU und den USA gehört in diesen Kontext. In der »Botschaft« wird diese Politik nun ideologisch unterbaut. Offenbar sehen Putin und seine Redenschreiber in der Rechtswendung, im Ausspielen der nationalen Karte eine Chance, das Vertrauen der Bevölkerungsmehrheit wiederzugewinnen.

Pragmatismus mit leichtem Rechtsdrall

Neben der Erzählung von nationaler Größe ging Putin aber auch auf reale Probleme russischer Politik ein. Er sprach die Frage der Demographie an, deren Lösung er in Aussicht stellte, er thematisierte die Mängel im Gesundheitswesen, gegen die der Präsident entschieden vorgehen will. Er bemängelte die Schwächen im Bildungswesen und die Unterbezahlung der Staatsangestellten in diesem und anderen Bereichen des sozialen Sektors. Die empfohlenen Lösungen entstammen wieder der Gedankenwelt russischer Traditionalisten. So soll aus den Staatsangestellten jene »provinzielle Mittelklasse« werden, die früher »in allen Phasen die berufliche und moralische Stütze Russlands« war. Bildung soll verbessert werden, indem man starke, talentierte Lehrer einstellt und sich auf den Reichtum der russischen Kultur bezieht. In der Frage der Migration und der interethnischen Beziehungen plädierte Putin einerseits für eine Rückbesinnung auf den Vielvölkerstaat Russland und kritisierte scharf nationalistische Strömungen, deren Vertreter interethnischen Hass schüren. Andererseits will er aber die Einreise von GUS-Bürgern nach Russland erschweren, indem von ihnen nun ein Auslandspass verlangt werden soll statt des Inlandspasses (der in etwa unserem Personalausweis entspricht).

Der Präsident äußerte sich auch zur Fortentwicklung des politischen Systems und kündigte die neuerliche Änderung des Wahlsystems an. In Zukunft sollen wie früher wieder Listenwahl und Direktwahl kombiniert werden, und Parteienblöcke zugelassen sein. Jenseits dieser technischen Fragen bekannte Putin sich explizit zu Demokratie als Prinzip und lehnte jegliche Form von Totalitarismus entschieden ab. Allerdings soll die Demokratie eine russische Demokratie sein, in der die Standards vom russischen Volk selber und nicht von außen gesetzt werden. Eine Person, die Geld aus dem Ausland erhält und fremde Interessen vertritt, könne, so Putin, kein Politiker der Russischen Föderation sein. Dies war eine deutliche Anspielung auf das Gesetz über Nichtregierungsorganisationen, nach dem sich diese als »ausländischer Agenten« registrieren lassen müssen, wenn sie Geld aus dem Ausland erhalten und politisch tätig sind. Im selben Atemzug formulierte der Präsident auch seine Absage an die Straßenproteste: den politischen Dialog werde man nur mit Kräften führen, die sich »zivilisiert« verhalten. Die Führung, das kann man diesen Aussagen entnehmen, wird also innenpolitisch den Kurs beibehalten, und alle Mittel anwenden, um mögliche Oppositionsakteure ins Abseits zu drängen und kalt zu stellen.

Auch wirtschaftspolitisch knüpfte die »Botschaft« an bekannte Konzepte an. Der Präsident forderte, Russland aus der Abhängigkeit von den Rohstoffmärkten herauszulösen, und die Industrie zu restrukturieren: Die Entwicklung neuer Technologie und der Ausbau kleiner und mittlerer Unternehmen als Schlüsselaufgaben der Wirtschaftspolitik – das verspricht wenig Neues. Fortschritte strebt die Führung durch eine Verbesserung des Geschäftsklimas, die Steigerung der Qualität der Führung in den Regionen, eine Reform des Steuersystems, die Dezentralisierung der Wirtschaft, den Ausgleich regionaler Ungleichgewichte und die Bereitstellung von Mitteln für den Rüstungsbereich. Über den Rüstungsbereich soll auch eine Beschleunigung der Hochtechnologieentwicklung erreicht werden. All dies ist wenig originell und verspricht keinen wirklichen Durchbruch in der Wirtschaftsentwicklung.

Allerdings sprach Putin auch die Entwicklungshem­mnisse an – niedrige Effizienz des Staatsapparats, Korruption, Mängel der Rechtsprechung – und sicherte Abhilfe zu. Dabei stellte er – wieder ganz im Sinne der geistig-moralischen Wende – die moralische Autorität des Staates heraus als Grundbedingung für die erfolgreiche Entwicklung in Russland. Als Feindbilder erschienen in diesem Kontext Unternehmer und andere Eliten, die sich durch Korruption bereicherten und obendrein mangelnden Patriotismus zeigten, indem sie ihre Vermögenswerte ins Ausland schafften. Putin bat um Unterstützung für den Vorschlag, die Möglichkeiten von Beamten und Politikern zu beschneiden, im Ausland Konten, Wertpapiere und Aktien anzulegen. Er kritisierte auch die Tendenz russischer Unternehmer, ihre Geschäfte off shore – d. h. außerhalb der Reichweite russischer Gesetze in Steueroasen – abzuwickeln. Der Präsident kündigte ein System von Maßnahmen zur »deoffshorisazija« – zur Beseitigung oder Einschränkung der Möglichkeiten off shore-Geschäfte zu machen. Mit dieser Kritik an den Unternehmern und Beamten nahm die »Botschaft« die massive Kritik auf, die in der Öffentlichkeit am Verhalten der Vertreter der Machtelite geübt wird. Die »Macht«, so Putin, dürfe keine isolierte Kaste, sondern müsse transparent und zugänglich sein. Nur dann entstehe die feste moralische Basis für die Behauptung »von Ordnung und Freiheit, Sittlichkeit und Bürgersolidarität, Wahrheit und Ehrlichkeit, für ein national orientiertes Bewusstsein«.

Spiel mit dem Feuer

Putins »Botschaft an die Föderalversammlung« ist ein bemerkenswertes Dokument. Erstmals nimmt ein russischer Präsident das nationale Narrativ auf und macht es zur Grundlage offizieller Politik. Putin bedient bewusst eine konservative Mehrheit, weniger durch die sozial- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die er ankündigt, sondern durch die Ideologie, in die er die gesamte Politik einbindet. Da scheint ein versponnenes, rückwärtsgewandtes, slawophiles Weltbild durch, in dessen Mittelpunkt ein starkes, auf die eigene Vergangenheit konzentriertes Russland steht und in dem die Außenwelt allenfalls eine negative Rolle spielt. Putins Vorschlag, die Tradition der von Peter I. gegründeten Garderegimenter, des Preobrashenskij- und des Semjonowskij-Regiments, wiederzubeleben, illustriert diesen Zugang. Die Schaffung einer modern ausgerüsteten, schlagkräftigen Berufsarmee, die den Konflikten der Zukunft gewachsen ist, wird durch diesen Schritt nicht befördert, doch man bedient nostalgische Erinnerung und beruft sich auf frühere Größe.

Eine solche Politik hofft darauf, dass man über das nationale Narrativ eine Bevölkerungsmehrheit einbinden kann. Allerdings braucht dieses Weltbild auch Feindbilder – die Außenwelt und deren Agenten im eigenen Land. Und hier wird Putins geistig-moralische Wende gefährlich. Denn sie setzt darauf, die Mehrheit durch Ausgrenzung einer Minderheit zu integrieren. Das ist ein Spiel mit dem Feuer, denn damit ist eine Spaltung der Gesellschaft angelegt. Auch für die Machtelite ist diese Politik unbequem. Das nationale Narrativ wendet sich gegen ihr »Geschäftsmodell« – Bereicherung auf Kosten des Staates und der Allgemeinheit. Eine Rückholung russischen Kapitals ins eigene Land – die deoffshorisazija – widerspricht den Interessen großer Teile der Eliten. Wenn also das nationale Narrativ Leitlinie praktischer Politik wird, dann stehen Russland massive Konflikte innerhalb der Eliten bevor.

Mag sein, dass das der Grund ist, dass Dmitrij Medwedew, seit September 2011 eigentlich ein politischer Leichnam, wieder in die Öffentlichkeit tritt. In drei großen Interviews – eins mit dem französischen »Figaro« (26.11.2012), ein zweites mit der russischen Tageszeitung »Kommersant« (28.11.2012) und das dritte mit fünf russischen Fernsehsendern (7.12.2012) – folgte er zwar im großen und ganzen der politischen Linie Putins, setzte aber deutlich liberale Akzente und ließ durchscheinen, er könne sich auch eine weitere Amtszeit als Präsident vorstellen. Vor dem Hintergrund von Putins nationalgestimmter Rede, die sich an eine nationalkonservative Bevölkerungsmehrheit wendet, könnte man Medwedews plötzliche politische Auferstehung als abgekartete Sache interpretieren. Der Ministerpräsident wäre dann die Figur in der Führung, die das liberale Spektrum bedient. Das ist allerdings ein gefährliches Spiel. Putin beschwört Geister, die nur schwer wieder loszuwerden sind, und Medwedew besitzt nicht die Statur, um ein politisches Gegengewicht zu bilden.

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