Belarus-Analysen

Ausgabe 58 (23.12.2021) — DOI: 10.31205/BA.058.01, S. 7–11

Belarus vor dem Referendum 2022: Verfassungsreform und Protestbereitschaft

Von Fabian Burkhardt (Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg), Jan Matti Dollbaum (Universität Bremen)

Zusammenfassung
Infolge der Proteste gegen die offiziellen Ergebnisse der Präsidentschaftswahl von 2020 hat Aljaksandr Lukaschenka im Frühjahr 2021 die Pläne zu einer Verfassungsreform wieder aufgenommen. Ziel des Vorstoßes ist es, einerseits dem Wunsch nach Veränderung aus der Bevölkerung entgegenzukommen, ohne auf die Forderung nach Neuwahlen zu reagieren. Andererseits scheint er zu beabsichtigen, die Veränderung so zu gestalten, dass seine Macht im Präsidentenamt vorerst gefestigt wird. Ergebnisse einer Online-Umfrage legen nahe, dass die von Lukaschenka vorgeschlagenen Verfassungsänderungen wohl kaum ausreichen werden, um der breiten gesellschaftlichen Nachfrage nach Demokratisierung und Machtbeschränkung auch nur annähernd nachzukommen – aber auch, dass sich Unterstützer:innen und Gegner:innen Lukaschenkas nicht in jeder Hinsicht unversöhnlich gegenüberstehen.

Verfassungsreform in Belarus: Änderungen ohne echte Veränderung?

Nach einer der weltweit größten gewaltlosen Protestbewegungen nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen im Jahr 2020, die Aljaksandr Lukaschenka nach allen verfügbaren unabhängigen Informationen gegen Swjatlana Zichanouskaja verloren hat, scheint der belarusische Machthaber Ende 2021 die Lage mit eiserner Hand unter Kontrolle gebracht zu haben. Trotz dieser – aus Sicht des autoritären Regimes – stabilisierten innenpolitischen Lage führt Lukaschenka seit Frühjahr 2021 ein Verfahren zur Änderung der belarusischen Verfassung durch, das in ein Verfassungsreferendum Ende Februar 2022 münden soll. Obwohl der finale Entwurf der im Frühjahr 2021 von Lukaschenka eingesetzten Verfassungskommission bis dato noch nicht veröffentlicht wurde, lässt sich schon jetzt erkennen, dass die bisher diskutierten Änderungen den größten Eingriff in die Verfassung seit 1996 darstellen würden, da sie insbesondere auch den Posten des Präsidenten und andere zentrale Verfassungsorgane betreffen. Jenseits der Details geht es also um nichts weniger als die Fragen, ob erstens Lukaschenka einen kontrollierten Machtwechsel mithilfe der Verfassung – etwa nach dem Vorbild Nasarbajews in Kasachstan – vorbereitet und zweitens, ob die belarusische Bevölkerung diesen suggerierten Wandel annimmt und im Gegenzug auf die Forderung nach Neuwahlen verzichtet.

Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, haben wir im September 2021 eine Online-Umfrage mit 601 Teilnehmenden durchgeführt, die repräsentativ für die urbane Bevölkerung von Belarus mit Internetzugang ist. Schwerpunkte der Umfrage waren insbesondere die Proteste, das Vertrauen in Institutionen und die Verfassungsreform. Dabei gilt es zu beachten, dass trotz repräsentativer Abbildung soziodemografischer Merkmale bei Umfragen – und zumal in repressiven Kontexten wie Belarus – Verzerrungen und sozial erwünschtes Antwortverhalten nicht auszuschließen sind. Die Ergebnisse sind daher als Richtwerte, nicht als präzise Angaben zu verstehen. Bevor wir einige Ergebnisse der Umfrage vorstellen, gehen wir kurz auf den Inhalt der Reform und Lukaschenkas Verfassungskommission ein.

Der Verfassungsänderungsprozess und Verfassungsentwurf von Lukaschenka

Lukaschenkas Diskurs über eine Reform der Verfassung lässt sich mindestens bis zum Jahr 2014 zurückverfolgen; seit 2019 sind Verfassungsgericht und andere politische Organe mit der Ausarbeitung konkreter Änderungen befasst. Lukaschenka blieb dabei zu Inhalt und Ziel der Reformen immer intransparent und vage. Nach der Protestwelle gegen die gefälschten Präsidentschaftswahlen und staatliche Repressionen war die Verfassungsreform sein zentrales Angebot, um die Lage zu stabilisieren und um Zeit zu gewinnen. Denn die wichtigste Forderung seiner Herausforderin Zichanouskaja und des Koordinationsrats der Opposition, faire und freie Neuwahlen durchzuführen, lehnte er kategorisch ab. Am 15. März 2021 setzte Lukaschenka eine 34-köpfige Verfassungskommission ein, die alle zwei Wochen tagte und bis August 2021 einen Änderungsentwurf ausarbeiten sollte. Die Kommission ist Lukaschenka gänzlich loyal und ist mit staatlichen oder staatsnahen Akteuren besetzt worden, oppositionellen Kräften wurde kein Mitspracherecht gewährt. In der Rhetorik des Regimes wurde der Prozess als partizipativ dargestellt: So sammelten nach eigenen Angaben Abgeordnete des Parlaments und andere staatsnahe Organisationen Vorschläge für Verfassungsänderungen in der Bevölkerung, deren Anzahl und Inhalt sich aber nicht überprüfen lässt. Die Ausarbeitung des Lukaschenka-Entwurfs war jedoch weder inklusiv noch partizipativ, sondern wurde zentral von Lukaschenka und seiner Präsidialadministration organisiert.

Lukaschenka hat immer wieder die Veröffentlichung des finalen Verfassungsentwurfs verschoben. Dies mag einerseits damit zu tun haben, dass er selbst bis zuletzt noch keine klare Vorstellung davon hatte, wie genau die neue Machtstruktur in der Verfassung auszugestalten wäre, um ausreichend Veränderungen zu suggerieren, ohne tatsächlich Macht abzugeben. Andererseits hat das intransparente Vorgehen und das ständige Hinauszögern manipulativen Charakter. Sowohl Russland, die Opposition als auch innenpolitische Eliten werden im Dunkeln gehalten über die tatsächlichen Absichten. Eine derartige Überrumpelungstaktik hat Lukaschenka schon bei früheren Wahlen und Referenden »erfolgreich« eingesetzt. Zuletzt kündigte Lukaschenka Anfang Dezember 2021 an, dass der Entwurf noch vor Neujahr 2022 veröffentlicht werden würde.

Bisher gibt es neben vereinzelten Aussagen von Lukaschenka und Mitgliedern der Verfassungskommission sowie der Berichterstattung in der staatlichen Nachrichtenagentur Belta lediglich einen unvollständigen Entwurf, aus dem Rückschlüsse über mögliche Veränderungen gezogen werden können: Dieser wurde Mitte Juli vom sogenannten »Runden Tisch demokratischer Kräfte« von Jury Waskresenski, einem ehemaligem Mitstreiter von Wiktar Babaryka, der als Gegenleistung für erlassene Gefängnishaft zu Lukaschenka übergelaufen war und in der Verfassungskommission als scheinbarer Vertreter der »Opposition« agierte, veröffentlicht (https://ksds.by/wp-content/uploads/2021/06/predlozheniya_po_izmeneniyu_konstituczii.pdf). Bis dato besteht keine Sicherheit darüber, wie viele der in diesem Entwurf enthaltenen Änderungen tatsächlich Einzug in die finale Version finden werden. Im Großen und Ganzen deckt sich der Entwurf jedoch mit der lückenhaften Berichterstattung in staatlichen Medien. Lukaschenka selbst sprach davon, dass 77 der 147 Artikel der aktuellen Verfassung nicht verändert und 11 Artikel sowie ein Kapitel neu hinzukommen würden.

Demnach bleibt ein starker Präsident, der als Staatschef über den Gewalten steht und von nun an für die »Einheit und Konsolidierung des Belarusischen Volkes« sorgen soll, die zentrale Institution des Staates. Lukaschenka betonte wiederholt, dass er weder ein Machtvakuum noch eine »duale Macht« – also eine Konkurrenz zwischen dem Präsidenten und einer anderen erstarkten Institution wie der Regierung oder der All-Belarusischen Volksversammlung – zulassen würde. Gleichzeitig würde der Entwurf eine Amtszeitbeschränkung auf zweimal fünf Jahre einführen, die allerdings Lukaschenka – falls er bei der nächsten Wahl noch einmal anträte und die Regel erst ab dem Zeitpunkt der Wahl gelten würde – weitere zehn Jahre im Amt halten könnte. Der Premierminister und die Regierung bleiben weiterhin sowohl in Bezug auf Ernennung und Entlassung abhängig vom Präsidenten. Für bestimmte Amtshandlungen muss sich der Präsident in Zukunft die »vorläufige Zustimmung« von Parlament oder Regierung einholen, außerdem kann er keine Dekrete (eine Art Präsidialerlass) mehr erlassen, die Gesetzeskraft haben. Rhetorisch könnte Lukaschenka verbuchen, dass einzelne Kompetenzen an Regierung und Parlament abgetreten werden. Da diese aber weiterhin vom Präsidenten abhängig sein werden, bleiben diese Änderungen insgesamt unbedeutend.

Das Kernstück der Verfassungsänderung ist das neue Kapitel über die All-Belarusische Volksversammlung (ABV, Wsebelorusskoe Narodnoe Sobranie), die zur »höchsten Form der Volksvertretung« werden und aus Abgeordneten des Repräsentantenhaus und des Rates der Republik (den beiden Kammern des nationalen Parlaments) sowie aus Vertreter:innen der Kommunen aus allen Regionen bestehen soll. Die ABV soll nicht wie bisher seit 1996 alle fünf Jahre tagen, sondern vom ständigen Exekutivorgan der ABV – dem Präsidium –, vom Präsidenten, den Parlamentskammern oder auf Initiative von 150.000 Bürger:innen einberufen werden können. Laut Entwurf soll die ABV ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten einleiten und über die »Legitimität« von Präsidentschaftswahlen entscheiden können. Zudem sollen die Entscheidungen der ABV verpflichtend für alle Staatsorgane – somit auch für den Präsidenten – werden. Möglicherweise könnte sich Lukaschenka mit dem Vorsitz des Präsidiums der ABV einen Posten nach einem Rücktritt vom Amt des Präsidenten sichern, um von dort weiterhin erheblichen Einfluss auf einen handverlesenen Nachfolger auszuüben. Da bisher Lukaschenka allerdings keine Absicht erkennen lässt, vom Präsidentenamt zurückzutreten, ist die wahrscheinlichere Variante, dass Lukaschenka als Präsident und Vorsitzender des Sicherheitsrats mit dem zusätzlichen Vorsitz des ABV-Präsidiums noch mehr Macht an sich reißen wird.

Neben der Gewaltenteilung kommt der Außenpolitik besondere Bedeutung zu. So sieht der Entwurf vor, das Streben von Belarus nach außenpolitischer Neutralität aus der Verfassung zu löschen. Dies stärkt Vermutungen, dass die Verfassungsänderungen die Integration mit Russland vorantreiben sollen (https://newbelarus.vision/is_neutrality-possible-for-belarus/).

Alle anderen im Entwurf aufgeführten Änderungen dienen vorwiegend der »Maskerade«, um in einigen Bereichen Änderungen vorzutäuschen oder die Hauptstoßrichtungen der Reform zu verschleiern. Hierzu gehören etwa die Einführung eines oder einer Menschenrechtsbeauftragten, das Recht auf Verfassungsbeschwerden für Bürger:innen, ein eigener Artikel für die Zentrale Wahlkommission oder das Recht auf hochwertige medizinische Versorgung. Staatsideologisch geprägte Änderungen wie das Gedächtnis an die Heldentaten des belarusischen Volkes im Großen Vaterländischen Krieg, die Definition von Ehe als Union von Mann und Frau sowie die Pflicht für Bürger:innen zur sozialen Verantwortung, nützlicher Tätigkeit und Patriotismus sollen vor allem Lukaschenkas Unterstützer:innen und andere konservativ gestimmte Bürger:innen für die Reform gewinnen.

Umfrageergebnisse: Die Haltung der Bevölkerung zu den Verfassungsänderungen

Unsere Online-Umfrage vom September 2021 zeigt, dass etwa ein Drittel unserer Respondent:innen, die repräsentativ für die städtische Bevölkerung sind, eine Verfassungsänderung für notwendig halten, wobei Lukaschenka-Unterstützer:innen und alle anderen sich hier nicht unterscheiden (s. Grafik 1 auf S. 12). (Insgesamt gaben 15 % an, Lukaschenka zu unterstützen, 52 % unterstützten eine:n andere:n Kandidierende:n; 32 % machten keine Angabe). Allerdings sind jeweils etwa ein Drittel der Lukaschenka-Unterstützer:innen auch mit der derzeitigen Verfassung zufrieden oder haben gar keine Präferenzen. Etwa 30 % derer, die Lukaschenka nicht direkt unterstützen, könnten sich auch eine Rückkehr zur Verfassung von 1994 vorstellen, weniger als 20 % davon wünschen sich eine ganz neue Verfassung. Viel deutlichere Unterschiede zwischen diesen beiden Lagern gibt es, wenn die Reihenfolge von Wahlen und Verfassungsänderungen in Betracht gezogen werden (s. Grafik 2 auf S. 12): 75 % derer, die sich nicht als Lukaschenka-Unterstützer:innen identifizieren, stimmen der Strategie der Opposition zu, dass erst faire und freie Wahlen durchgeführt werden müssen, bevor eine Verfassungsreform stattfinden kann. Allein diese Zahlen legen eindeutig dar, dass ein großer Teil der belarusischen Bevölkerung der Verfassungsreform und dem Referendum große Skepsis entgegenbringen dürften. Unsere Umfrage hat zudem ergeben, dass 3,5 % der Befragten am Verfassungsänderungsprozess teilgenommen haben, etwa indem sie einen Änderungsvorschlag eingereicht haben. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass diese berücksichtigt wurden.

In Grafik 3/Tabelle 1 auf S. 13/14 haben wir einige Verfassungsänderungen, die laut Medienberichten von Lukaschenka vorgeschlagen wurden, aufgeführt und mit Änderungsvorschlägen des Teams von Zichanouskaja ergänzt. Hinsichtlich der Gewaltenteilung bestehen deutliche Mehrheiten für eine Amtszeitbeschränkung des Präsidenten sowie die Einschränkungen einiger seiner Kompetenzen. Das Verbot von präsidialen Dekreten mit Gesetzeskraft findet mehrheitlichen Zuspruch ebenso wie eine Umverteilung von Kompetenzen auf die Kommunen. Weniger eindeutig ist die Verteilung bei Änderungen, die auf einen Erhalt einer starken Institution des Präsidenten oder auf mehr Kompetenzen für die ABV abzielen.

Eine sehr deutliche Mehrheit der Befragten spricht sich auch dafür aus, dass der Staat Maßnahmen ergreift, um Belarusisch als Umgangssprache zu stärken. Bei Änderungsvorschlägen, bei denen es keine klare Mehrheit dafür oder dagegen bzw. eine große Anzahl derer gibt, die sich dazu neutral verhalten oder keine Meinung haben, lassen sich zwei Typen von Vorschlägen ausmachen: Zum einen solche, bei denen die Befragten stark polarisiert sind, etwa wenn nach Lukaschenka-Unterstützung oder Protestteilnahme unterschieden wird. Zum Beispiel betrifft dies die belarusische Flagge, wobei die weiß-rot-weißen Farben eindeutig mit dem Protest und die derzeitige rot-grüne Flagge klar mit dem Regime in Verbindung gebracht wird. Eine ähnliche Spaltung lässt sich in Bezug auf die außenpolitische Neutralität von Belarus feststellen, was darauf hindeutet, dass die Auseinandersetzung zwischen Protestbewegung bzw. Opposition und dem Regime im Hinblick auf den Konflikt zwischen EU und Russland eine geopolitische Ausprägung hat. Auch in Bezug auf die Todesstrafe lassen sich deutliche Unterschiede zwischen Protestbewegung (eher dagegen) und Lukaschenka-Unterstützer:innen (eher dafür) feststellen (wobei auch bei den Lukaschenka-Gegner:innen über 30 % an der Todesstrafe festhalten wollen). Ein weiterer Block von Änderungen sind solche, bei denen keine großen Unterschiede zwischen den politischen Lagern festzustellen sind. Dies betrifft etwa die Definition von Ehe als Union von Mann und Frau oder aber die Einführung eines Grabenwahlsystems.

Insgesamt wäre es also falsch zu erwarten, dass Verfassungsänderungen, die von Lukaschenka oder Zichanouskaja vorgeschlagen werden, automatisch Zustimmung bei den jeweiligen Unterstützer:innen oder automatisch Ablehnung bei den Gegner:innen finden.

Die Vorbereitungen für das Referendum laufen

Laut Lukaschenka soll das Referendum Ende Februar 2022 stattfinden, aber der belarusische Machthaber scheint sich bis zuletzt die Option offen halten zu wollen, das Referendum durch eine hausgemachte Krisensituation erneut zu verschieben. Dennoch gibt es derzeit einige handfeste Anzeichen, dass das Referendum tatsächlich Ende Februar stattfinden könnte. Hierzu gehört die Entlassung von Lidsija Jarmoschyna am 13. Dezember, die 25 Jahre im Amt der Wahlkommissionsvorsitzenden eine der tragenden Säulen des Regimes gewesen war. Der wohl eindeutigste Hinweis auf das Referendum sind staatlich sanktionierte Umfragen, die das öffentliche Meinungsbild beeinflussen sollen. So führte das Zentrum für sozial- und geisteswissenschaftliche Forschung an der Belarusischen Staatlichen Wirtschaftsuniversität im November 2021 eine nach eigenen Angaben repräsentative Umfrage mithilfe von Mobiltelefonen durch. Laut Iryna Laschuk erwarten 50 % der Befragten im Zuge der Verfassungsreform positive Veränderungen für die Lage im Land, 24 % erwarten keine Veränderungen. 63 % stimmen zu, dass Verfassungsänderungen notwendig sind. 62 % der Befragten unterstützen laut Laschuk die Durchführung eines Verfassungsreferendums.

Zwischen dem 15. November und dem 04. Dezember führte das Institut für Soziologie der Belarusischen Akademie der Wissenschaften in Kooperation mit dem Analysezentrum EcooM eine Face-to-Face-Umfrage mit 10.000 Respondent:innen durch. Auch hier äußerten sich mehr als 50 % der Befragten positiv über ein Verfassungsreferendum. Insbesondere die Hierarchie der präferierten Verfassungsänderungen lässt aufhorchen: Mit knapp 68 % steht die »Erhaltung sozialer Garantien« mit deutlichem Abstand an erster Stelle, gefolgt von der »Erhaltung von Sicherheitsgarantien« (39 %), der »Ausweitung von Bürgerrechten und -freiheiten« (28 %) sowie die Umverteilung von Kompetenzen zwischen den Staatsorganen (15 %). Wenig überraschend stehen eine »größere Rolle von Parteien im politischen Leben des Landes« (5 %) sowie eine »Liberalisierung der staatlichen Politik und des gesellschaftlichen Lebens wie in der EU« (5 %) an letzter Stelle.

Laut dem ehemaligen Leiter des Instituts für Soziologie der Belarusischen Akademie der Wissenschaften Henads Korschunau, der im Zuge der Protestwelle 2020 entlassen wurde und nun für das belarusische »Zentrum für neue Ideen« in Warschau arbeitet, bestehen große methodische Zweifel an den staatlichen sanktionierten Umfragen. Dies wird allein schon dadurch ersichtlich, dass angeblich 72 % der Befragten Aljaksandr Lukaschenka vertrauen, was sowohl den wahrscheinlichen Ergebnissen der letzten Wahlen als auch unabhängigen Umfragen deutlich widerspricht. Bei den staatlichen Umfragen handelt es sich also um ein manipulatives Instrument des Machthabers, um die Bevölkerung auf das kommende Referendum vorzubereiten. Mit dem Schwerpunkt auf Sozialpolitik und dem Feindbild der politischen Liberalisierung sollen der Bevölkerung Veränderungen suggeriert werden, ohne dass sich an der Staatsspitze oder in Bezug auf Wahlen substanzielle Änderungen ergeben.

Die Strategie der Opposition

Aus Sicht der Opposition usurpiert Lukaschenka schon seit dem Verfassungsstreich 1996 die Macht und hat sich seither über viele der zentralen Artikel seiner eigenen Verfassung hinweggesetzt und Recht gebrochen. Unabhängig vom Inhalt des Reformvorhabens von Lukaschenka und des intransparenten, nicht partizipativen und nicht inklusiven Prozesses lehnt somit die Opposition den Entwurf und das Referendum aus Prinzip ab. Unterschriften zu sammeln, um den eigenen Entwurf (https://kanstytucyja.online/index.php/teksty-konstitutsii/proekt-konstitutsii-ot-25-11-2021g) als Alternative bei der Wahlkommission zu registrieren, wurde von vornherein als aussichtslos verworfen. Am 19. November 2021 einigten sich die Koalition der »demokratischen Kräfte« auf eine gemeinsame, aktive Strategie, die insbesondere von der Bewegung »Tschestnye Ljudi« (»Ehrliche Leute«), der Plattform »Golos« (»Stimme«), der Wahlbeobachter:innenorganisation »Subr« (»Wisent«), dem Stab von Swjatlana Zichanouskaja, dem Koordinationsrat der Opposition und der Narodnoe Antikrisisnoe Uprawlenie (Volksantikrisenmanagement von Pawel Latuschka) getragen wurde. Anstatt das als illegitim erachtete Referendum zu boykottieren, sind die Oppositionsanhänger:innen dazu aufgerufen, den Wahlzettel ungültig zu machen, in dem sowohl »Ja« als auch »Nein« angekreuzt wird. Anschließend soll die Invalidierung der Wahlzettel über die Online-Plattform »Golos« (https://belarus2020.org/home), die von den »demokratischen Kräften« als Mittel zur direkten Demokratie genutzt wird, bestätigt werden. Derzeit hat »Golos« über 1,6 Millionen verifizierte Nutzer:innen. »Subr« plant, ähnlich wie schon bei den Präsidentschaftswahlen 2020 Nachrichten über Wahlfälschungen auf seiner Webseite zu sammeln und nach Wahlkommission zu visualisieren (https://zubr.in/campaign/2022-02-referendum). Ziel ist es somit, möglichst breite Ablehnung von Lukaschenkas Entwurf sichtbar zu machen und zugleich die Wahlen nicht durch die Abgabe gültiger Stimmen zu legitimieren.

Aus Sicht der vergleichenden Politikwissenschaft ist die aktive Teilnahme an manipulierten Wahlen und Referenda dem Boykott vorzuziehen, weil die Teilnahme zumindest der langfristigen Demokratisierung zuträglich ist. Dennoch ist diese Strategie nicht ohne Risiken: Repressionen drohen jenen, die ungültige Stimmzettel abgeben. Auch könnte Lukaschenka durch eine erneute Abschaltung des Internets versuchen, die Plattform »Golos« lahmzulegen. Der größte Unsicherheitsfaktor für die Oppositionsstrategie sind aber die Lukaschenka-Gegner:innen selbst: Sollten zu wenige »Golos« eine Nachricht schicken, so könnte der Eindruck entstehen, dass die Unterstützung der »demokratischen Kräfte« in der Bevölkerung gering ist und somit das Referendum ungewollt Legitimität erhalten. Schon jetzt gibt es innerhalb der Opposition Debatten, ob es nicht Zeit für einen Kompromiss mit Lukaschenka sei. Dennoch bleibt das Ungültigmachen der Wahlzettel die einzig gangbare Strategie, um einerseits eine Art Wahlbeobachtung durchzuführen und andererseits sichtbar zu machen, dass trotz der Repressionen des Regimes der Widerstand hoch bleibt.

Umfrageergebnisse zum Referendum und zu möglichen Protesten

Unsere Umfrage zeigt, dass eine deutliche Mehrheit von 77 % der Respondent:innen zustimmt, dass Verfassungsänderungen generell durch ein Referendum validiert werden sollten (s. Grafik 4 auf S. 15). Lukaschenka-Unterstützer:innen ist ein Referendum aber weit weniger wichtig als seinen Gegner:innen. Die Wahrnehmung des Ablaufs des Referendums wird darüber entscheiden, ob Lukaschenka durch scheinbare Partizipation zumindest teilweise prozedurale Legitimität für die Verfassungsänderungen generieren kann.

Wird es nach dem Referendum erneut zu Massenprotesten kommen? Unsere Umfrage zeigt, dass diejenigen, die sich an den Protesten 2020 beteiligt haben, keineswegs entmutigt sind: Auch nach einjähriger Repression stimmen fast 90 % der Aussage zu, dass »In Belarus große Veränderungen eintreten können, wenn die Menschen sich zusammenschließen«. Und auch eine weitere Umfrage, die wir im Dezember 2021 mit dem Aktivist:innen-Umfragekollektiv Narodnyj Opros (https://narodny-opros.net/) unter Anhänger:innen der Opposition durchgeführt haben, zeigt eine hohe Protestbereitschaft (s. Grafik 5 auf S. 15). Dies heißt jedoch noch nicht, dass die zu erwartenden Fälschungen beim Referendum mit Sicherheit zu einer erneuten Protestwelle führen werden. Die Risiken sind aufgrund der hohen Repressivität des Regimes enorm, und Mobilisierung hängt zu einem Großteil auch davon ab, wie viele Fehler das Regime selbst bei der Durchführung des Referendums begehen wird.

Ausblick

Unabhängig davon, ob es im Zusammenhang mit dem Referendum zu einer neuen Protest- und Repressionswelle kommen wird, bleibt festzuhalten, dass Lukaschenka darauf abzielt, kosmetische Veränderungen an der Verfassung umzusetzen, ohne die Zügel der Macht – also das Präsidentenamt – aus der Hand zu geben. Ebenso wenig ist zu erwarten, dass unmittelbar nach der Verfassungsreform vorgezogene Präsidentschaftswahlen stattfinden werden. Der Abgeordnete Aleh Haidukewitsch – eines der Sprachrohre des Regimes – schloss vorgezogene Wahlen selbst unter Sanktionsdruck des Westens aus und sprach von einer »Übergangsperiode« nach der Reform, in der die Gesetzgebung (etwa zu Wahlen und Parteien) an die geänderte Verfassung angepasst werden müsste. Am wahrscheinlichsten erscheint derzeit, dass zuerst die Kommunal- und Parlamentswahlen an einem gemeinsamen Wahltag 2024 angesetzt und dann im Anschluss 2025 Präsidentschaftswahlen abgehalten werden sollen. Lukaschenka hält sich mit der Verfassungsreform weiterhin viele Optionen offen, einschließlich einer »Wiederwahl« als Präsident oder einer kontrollierten Machtübergabe an einen Nachfolger. Auf Dauer wird weder die Verfassungsreform noch das Referendum die breite Nachfrage in der Bevölkerung nach Wandel, Partizipation an politischen Entscheidungen sowie nach Verbesserung des Lebensstandards befriedigen können.

Lesetipps / Bibliographie

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Analyse

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Von Stas Gorelik
Die regierungsfreundlichen Demonstrationen, Konzerte und Foren waren ein Teil der Antwort des Lukaschenka-Regimes auf die demokratischen Proteste von 2020. Wie sehr mag diese Mobilisierung von Anhängern hilfreich für den Diktator in Belarus gewesen sein, und wie sehr konnte Lukaschenka dadurch populärer erscheinen? Zur Beantwortung dieser Fragen wird in diesem Beitrag ein Online-Umfrageexperiment analysiert, das im Sommer 2020 in Belarus durchgeführt wurde. Die Antworten zeigen, dass diese Aktionen Lukaschenkas Position wohl kaum gestärkt haben dürften. Allerdings ist meine Studie exploratorischer Natur, und die Schlussfolgerungen bedeuten natürlich nicht, dass Demonstrationen für Autokrat*innen nicht auch erfolgreich sein können. (…)
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