Stadt und Transnationalität in Zentralasien. Neuer und Alter Kosmopolitismus als Medium regionaler und globaler Volksdiplomatie

Von Magnus Marsden (University of Sussex), Vera Skvirskaja (Universität Kopenhagen)

Zusammenfassung
Das Leben in den Städten Zentralasiens hat in den vergangenen dreißig Jahren einen tiefgreifenden Wandel erfahren. Vor allem haben sich das Ausmaß und die Konstellationen kultureller und religiöser Vielfalt verändert. Häufig wird angenommen, dass der urbane Raum für gegenseitige Abhängigkeiten und komplexe Formen des Zusammenlebens nach dem Zerfall der Sowjetunion abgenommen hat. Als Grund gilt die Binnenmigration vom Land in die Städte bei gleichzeitiger Auswanderung ethnoreligiöser Minderheiten. Der Beitrag untersucht, wie vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen neue Formen der Vielfalt in den urbanen Zentren Zentralasiens entstanden sind. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, welche Auswirkungen die Diasporagemeinden ethnoreligiöser Minderheiten, die außerhalb der Region entstanden sind, für ihre Herkunftsstädte in Zentralasien haben.

Einleitung

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben Städte überall in Zentralasien einen tiefgreifenden Wandel erlebt. Die Veränderungen des urbanen Lebens haben sich nachhaltig auf die sozialen Identitäten und Beziehungen ihrer Bewohner:innen ausgewirkt. Die Folgen dieses Wandels werden nicht zuletzt daran sichtbar, wie die Menschen in der Region in ihrem Alltag oder zu besonderen Anlässen Fragen der Vielfalt verhandeln und über sie nachdenken.

Bis in die jüngere Vergangenheit hinein waren die urbanen Zentren Zentralasiens bedeutende Orte der religiösen, sprachlichen und kulturellen Vielfalt. Städte wie Buchara, Samarkand und Taschkent im heutigen Usbekistan oder Chudschand in Tadschikistan verfügen über eine lange Geschichte und waren wichtige Zentren islamischer Bildung und Gelehrsamkeit. Außerdem stellten sie für die ethnoreligiösen Minderheiten, die in den großen und kleinen Städten der Region lebten, kulturelle Mittelpunkte dar. In Zentralasien lebende Kaufleute aus Indien unterhielten zum Beispiel komplexe Handelsnetzwerke, welche die Region über große Entfernungen hinweg nicht nur mit Russland, sondern auch Süd- und Westasien verbanden. Ein anderes Beispiel ist die persischsprachige Minderheit der bucharischen Juden, die als Händler:innen, Handwerker:innen oder – wenn auch in geringerem Maße – als religiöse Gelehrte tätig waren.

Auch in neuerer Zeit zeichneten sich die urbanen Zentren und Kleinstädte Zentralasiens durch eine große ethnolinguistische und religiöse Vielfalt aus. Schon während der imperialen Expansion des Russischen Kaiserreiches im 19. Jahrhundert, vor allem aber während der Zeit der Sowjetunion, entwickelte sich in den Städten Zentralasiens eine neue Form des urbanen Zusammenlebens. Sie war das Ergebnis einer oft unter Zwang erfolgten Umsiedlung verschiedener Bevölkerungsgruppen aus unterschiedlichen Teilen der Sowjetunion nach Zentralasien. Während der Sowjetzeit waren Russen, Ukrainer, Krimtataren, Mescheten, Koreaner und Armenier ein sichtbarer Bestandteil des Alltagslebens in den Städten der Region. Vor allem in Großstädten wie Taschkent, Almaty, Duschanbe und Samarkand spielte diese moderne Form des urbanen Kosmopolitismus eine wichtige Rolle. Aber auch in den kleineren Städten, die im Zuge der industriellen Entwicklung der Sowjetunion entstanden waren, gab es religiös und kulturell vielfältige Bevölkerungen. Ein Beispiel dafür ist die nahe der nordtadschikischen Großstadt Chudschand gelegene Siedlung Tschoruch, die früher ein wichtiger Industriestandort war und Arbeiter:innen aus den unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen anzog, die sich vor Ort in gemeinsamen Arbeitskollektiven wiederfanden.

Häufig wird angenommen, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion aus mehreren Gründen zu einer Art »Entkosmopolitisierung« der zentralasiatischen Städte geführt habe. Dafür wird zum einen die Auswanderung von Minderheiten aus den Städten verantwortlich gemacht. Diese Minderheiten waren entweder schon seit langem in Zentralasien verwurzelt und wesentlicher Bestandteil urbaner Sozialgefüge (wie zum Beispiel die bucharischen Juden), oder nahmen während der Herrschaft des Russischen Reiches und vor allem in der Sowjetzeit eine bedeutende Rolle im städtischen Leben der Region ein (zum Beispiel Russ:innen und Armenier:innen). Als mit dem Zerfall der Sowjetunion fünf unabhängige Staaten mit einer mehrheitlich muslimischen Bevölkerung entstanden, wanderten viele Angehörige dieser Minderheiten nach Russland oder in andere Länder, wie die USA und Israel, aus. Vor allem in Tadschikistan beschleunigte sich diese Entwicklung mit dem Beginn des Bürgerkrieges ab 1992. Schließlich wird in der vermehrten Binnenmigration vom Land in die Städte eine zweite Ursache der »Entkosmopolitisierung« urbaner Räume ausgemacht. Durch den Zuzug von ländlichen Binnenmigrant:innen, die sich häufig der ethnolinguistischen und religiösen Mehrheitsbevölkerung des jeweiligen Nationalstaates zugehörig fühlen, hat sich der Charakter des urbanen Lebens in den zentralasiatischen Städten in großem Maße verändert.

Ziel dieses Beitrages ist, eine Analyse zu präsentieren, die über das übliche Bild hinausgeht, demzufolge die urbanen Zentren der zentralasiatischen Region in den vergangenen dreißig Jahren von einem unaufhaltsamen Prozess der Entkosmopolitisierung geprägt seien. Stattdessen soll die Aufmerksamkeit auf neue Konstellationen von Identität und Differenz sowie neu entstehende Formen urbanen Lebens, die jene Konstellationen mitprägen, gelenkt werden.

Migration vom Land in die Städte

Zentralasien hat eine beispiellose Binnenmigrationswelle vom Land in die Städte erlebt, die nachhaltige Auswirkungen auf das urbane Leben hatte. Mit dem Zusammenbruch des kollektiven Agrarsystems kollabierte auch das sowjetisch geprägte Landleben, das auf diesem basierte. Viele Dorfbewohner:innen zog es daraufhin in die Städte, wo sie nach Ausbildungsmöglichkeiten und Arbeit suchten. Diese Migrant:innen vom Land haben den Charakter der Städte gleich in mehrerer Hinsicht verändert. Zum Beispiel haben sie Gewohnheiten und Praktiken mitgebracht, die von den alteingesessenen Stadtbewohner:innen als »bäuerlich« betrachtet wurden, wie den Gebrauch von Holzöfen unter freiem Himmel oder die Aufzucht von Tieren zur Milch- oder Fleischgewinnung. Während es unter alteingesessenen Stadtbewohner:innen häufig als Statussymbol und Zeichen guter Bildung galt, Russisch zu sprechen, breiteten sich durch den Zuzug der Migrant:innen vom Land regionale Sprachen und Dialekte in den Städten aus. Heute entscheiden sich die Kinder dieser Migrant:innen häufig dafür, Englisch statt Russisch zu lernen. In manchen Städten gelten mittlerweile beide Sprachen in gleichem Maße als fremd. Die Bedeutung des Englischen wächst dabei nicht nur für die Tourismusbranche und das Gastgewerbe, sondern wird auch für die verschiedenen Bereiche des IT-Sektors immer wichtiger. Migrant:innen vom Land hatten auch einen maßgeblichen Anteil daran, dass sich konservativere soziale und religiöse Praktiken in den Städten ausbreiteten, vor allem solche, die körperliches Benehmen oder das Verhalten von Frauen betreffen. Unter alteingesessenen Stadtbewohner:innen löste der Zuzug vom Land deshalb immense moralische Bedenken aus.

Die Migrant:innen wiederum haben die für ihre Gemeinden gesteigerte Bedeutung des »Urbanen« untereinander oft verschieden wahrgenommen, je nach kontextspezifischer Art der Migration. So ist die Unterscheidung zwischen ländlichen und städtischen Migrant:innen aus der Perspektive der Migrant:innen selbst oftmals deutlich komplexer. Obwohl sie in abgelegenen Gegenden des Landes leben, hatten die Pamiris aus der tadschikischen Region Berg-Badachschan zum Beispiel schon zu Sowjetzeiten den Ruf, modern und gebildet zu sein. Ihre politisch sensible Region an der sowjetischen Grenze mit Afghanistan und China wurde direkt aus Moskau mit Gütern und Lebensmitteln beliefert. Regelmäßige Reisen aus den Dörfern und Kleinstädten Berg-Badachschans nach Duschanbe und Chudschand führten dazu, dass sich die Pamiris urbane Umgangsformen aneigneten und die Stadt zu ihrer vertrauten Umgebung wurde. Pamiris identifizieren sich mit dem ismailitischen Islam, eine Glaubensrichtung, die historisch durch die sunnitische Mehrheitsbevölkerung der Region marginalisiert wurde. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wuchs unter den in Duschanbe lebenden Pamiris die Sorge über eine wachsende Vormachtstellung sunnitischer Tadschik:innen, die aus den Heimatregionen der herrschenden Elite des Landes in die Stadt kamen. Aus Sicht der Pamiris waren die Zugezogenen in religiösen Fragen deutlich konservativer eingestellt als die alteingesessenen Bewohner:innen Duschanbes, weshalb sie Angst vor den Folgen hatten, die diese Binnenmigration für die in der Stadt lebenden Ismailit:innen haben könnte. Für gewöhnlich warfen die Pamiris den Migrant:innen aus der Region Chatlon im Süden Tadschikistans nicht nur vor, ländliche Sitten an Orte zu bringen, die bisher durch moderne, kosmopolitische Umgangsformen geprägt waren, sondern betrachteten sie auch als Quelle religiöser Konflikte und Spaltung. Aufgrund ihrer Erfahrungen als Betroffene von ethnolinguistisch und religiös motivierter Gewalt während des Bürgerkrieges in den 1990er-Jahren stellt diese anhaltende Entwicklung für Pamiris einen erheblichen Grund zur Sorge dar. Viele von ihnen entschieden sich daher in andere urbane Räume wie die nordtadschikische Stadt Chudschand und deren Satellitenstädte umzuziehen, die ihrer Ansicht nach mehr vom »Internationalismus« der Sowjetzeit bewahrt hatten als Duschanbe. Angesichts dieser unterschiedlichen Erfahrungen, die verschiedene migrantische Gruppen vom Land in der Stadt machen, erscheint die simple Dichotomie von Ländlichkeit und Urbanität fragwürdig. Stattdessen wird deutlich, wie wichtig es ist, verschiedene – neuere wie ältere – Konstellationen von Gemeinsamkeit und Differenz in ihrer Unterschiedlichkeit anzuerkennen.

Die Rolle von ethnoreligiösen Minderheiten für Handel und Diplomatie

Sowohl die transnationale und innerstaatliche Migration als auch die Auswanderung ethnoreligiöser Minderheiten hatten tiefgreifende Auswirkungen auf die kulturelle und religiöse Zusammensetzung der Städte Zentralasiens. Jedoch kam es nicht erst seit dem Ende der Sowjetunion zur Emigration ethnoreligiöser Minderheiten. Die Eingliederung der Khanate und anderer politischer Gemeinwesen Zentralasiens in die imperiale und wirtschaftliche Struktur des Russischen Reiches führte zur Abwanderung von bestimmten Gruppen aus der Region, wie den Hindus, die als Vermittler und Financiers des Handels zwischen Russland und Britisch-Indien tätig waren. Die Revolution der Bolschewiki von 1917 hatte schließlich die Emigration vieler wohlhabender bucharisch-jüdischer Familien zur Folge, vor allem Kaufleute und Industrielle aus Städten wie Buchara und Samarkand, die über Iran, Afghanistan und Indien nach Palästina oder Europa, einschließlich Großbritannien, flohen. Andere Angehörige der bucharisch-jüdischen Gemeinde verließen die Sowjetunion in den 1970er- und 1980er-Jahren – also noch vor der großen Auswanderungswelle, die auf den Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 folgte – um nach Israel oder in die USA zu gehen. Diese vielschichtigen, bis heute anhaltenden Migrationsprozesse beeinflussen sowohl moderne Städte wie Duschanbe und Taschkent als auch die historischen Zentren des jüdischen Lebens in Zentralasien, wie Buchara, Samarkand oder Chudschand. Einst blühende bucharisch-jüdische Gemeinden schrumpften durch die massenhafte Auswanderung von Gemeindemitgliedern auf ein Bruchstück ihrer einstigen Größe zusammen. Synagogen mussten geschlossen und jüdische Friedhöfe in die Obhut örtlicher Muslime gegeben werden, oftmals ehemalige Nachbar:innen oder gute Bekannte der Gemeinde. Das Geld für die Renovierung und Instandhaltung jüdischer Friedhöfe stammt in der Regel von der Diaspora. Verbliebene Vertreter:innen jüdischer Gemeinden organisieren zu diesem Zweck Spendenaktionen, die sich in der Regel auf die jeweilige Stadt beschränken. Auch Lokalverwaltungen und staatliche Behörden stellen ein gewisses Maß an Ressourcen für solche Denkmalschutzprojekte zur Verfügung.

Betrachtet man Migrationsprozesse ethnoreligiöser Minderheiten aus den Städten Zentralasiens jedoch nur durch die Brille der »Entkosmopolitisierung«, also die Abnahme kultureller und religiöser Vielfalt, dann geraten andere wichtige Entwicklungen aus dem Blick. So kamen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion auch neue Gruppen in die Region, die den urbanen Raum seitdem maßgeblich mitprägen. Einige dieser Gruppen »ausländischer Händler:innen«, zu denen unter anderem Afghanen, Uiguren, Türken und Menschen aus Südasien gehören, weisen eine Geschichte historischer Verbindungen mit den Städten Zentralasiens auf. Mit dem Ende des Staatssozialismus wurden viele wirtschaftliche Nischen von Menschen neubesetzt, die vor allem aus benachbarten Regionen wie Afghanistan oder dem chinesischen Xinjiang stammen, die während der Sowjetzeit von Zentralasien abgeschnitten waren. Obwohl es sich bei ihnen um muslimische Bevölkerungsgruppen handelt, sind sie strukturell mit den ethnoreligiösen Händlergruppen, die in Zentralasien traditionell eine wichtige Rolle gespielt hatten, vergleichbar, da sie ähnliche wirtschaftliche Nischen besetzen und ähnlich wie diese historischen Minderheiten als »Mittelsmänner« zwischen der Region und dem Rest der Welt fungieren.

Zum Beispiel spielten Afghan:innen in den 1990er- und 2000er-Jahren eine wichtige Rolle bei der Umwandlung der planwirtschaftlichen Strukturen Zentralasiens in neue, marktorientierte Unternehmen. Nachdem sie vor dem Bürgerkrieg in Afghanistan nach Usbekistan, Tadschikistan und Kasachstan geflohen waren, etablierten sich afghanische Händler:innen unter widrigen Umständen als Schlüsselfiguren im Import- und Exportgeschäft und im Währungstausch. Von Almaty bis Duschanbe und Taschkent beteiligten sie sich außerdem am Aufbau von Einzel- und Großhandelsmärkten an den Rändern der Städte, die mittlerweile zu einem festen Bestandteil des wirtschaftlichen Lebens in der Region geworden sind. Neue Bevölkerungsgruppen wie sie haben auch die sozialen Dynamiken in den Städten beeinflusst. Sie brachten neue Kleidungsstile, Küchen und Freizeitaktivitäten mit. Außerdem stellten sie Verbindungen zu urbanen Räumen außerhalb der Region her, nicht nur in der unmittelbaren Nachbarschaft, sondern auch in ganz Asien (vor allem China, der Golfregion, Pakistan und Indien). Sie brachten auch Wissen über verschiedene Handels- und Geschäftsmethoden mit, zu deren Verbreitung sie beitrugen, indem sie Einheimische in ihren Geschäften oder Lagerhäusern anstellten oder Partnerschaften mit lokalen Händler:innen eingingen. Von besonderer Bedeutung für Zentralasien ist auch die Tatsache, dass viele der Händler:innen aus Afghanistan, deren Karrieren in der Region begannen, diese inzwischen wieder verlassen haben und nach Europa oder Nordamerika gegangen sind, wo sie Unternehmen führen und einflussreiche Kulturvereinigungen leiten. In der Regel bewahren sie und ihre Familien aber ihre Verbundenheit mit Zentralasien und kehren zum Beispiel als Tourist:innen zurück, um die Kulturerbestätten der Region zu besuchen. Durch die Machtübernahme der Taliban hat dieser Tourismus noch mehr an Bedeutung gewonnen, da es für viele Afghan:innen in der Diaspora schwierig geworden ist, in ihr Heimatland zu reisen. Mit ihren in Europa oder Nordamerika gegründeten Kulturvereinigungen versuchen sie auch, sich als Vermittler:innen zwischen den Ländern, in denen sie leben, und zentralasiatischen Regierungen und Wirtschaftsverbänden zu etablieren.

In den vergangenen Jahren kamen auch vermehrt Arbeiter:innen aus China in die zentralasiatischen Städte. In Tadschikistan sind chinesische Arbeitskräfte zum Beispiel im Bau- und Gesundheitssektor tätig oder betreiben Restaurants. Ihr Einfluss auf die Städte der Region unterscheidet sich spürbar vom Einfluss weiter verstreut lebender Händlergruppen, da ihre Aktivitäten unmittelbar mit der wirtschaftlichen Präsenz Chinas verknüpft sind und sie sich auch kulturell stärker von der lokalen Bevölkerung unterscheiden.

Die Emigration ethnoreligiöser Minderheiten aus den Städten Zentralasiens nur durch die Brille der »Entkosmopolitisierung« zu betrachten ist auch deshalb nicht hilfreich, da die Diasporagemeinden ihre historische Identität auch in ihrem neuen Lebensumfeld auf unterschiedliche Weise bewahren und mit den urbanen Zentren Zentralasiens, denen sie sich noch immer verbunden fühlen, in Beziehung setzen. In New York haben bucharisch-jüdische Migrant:innen aus Taschkent, Duschanbe, Chudschand, Buchara und Samarkand zum Beispiel eine lebendige Nachbarschaft mit zahlreichen Synagogen, Restaurants und Kulturvereinigungen aufgebaut, die für die Entstehung einer bucharischen Diasporaidentität eine wichtige Rolle spielen. Die bucharische Diaspora arbeitet aber auch aktiv mit muslimischen und christlichen Migrant:innen aus Usbekistan, Tadschikistan und anderen Teilen der früheren Sowjetunion zusammen. In New York kommt es immer wieder vor, dass muslimische Migrant:innen aus der ehemaligen Sowjetunion auf die ein oder andere Weise in die bucharisch-jüdische Gemeinde integriert werden, indem sie zum Beispiel in Supermärkten, auf Baustellen oder als Köch:innen und Kellner:innen in koscheren Restaurants arbeiten.

Bucharisch-jüdische Migrant:innen haben dabei nicht nur einen entscheidenden Beitrag zur Bewahrung des jüdischen Erbes in Zentralasien geleistet (insbesondere was den Erhalt von Synagogen und Friedhöfen angeht): je mehr sie in Europa, Israel oder Nordamerika Fuß fassten, desto stärker taten sie sich auch als kompetente kulturelle Vermittler:innen zwischen den diplomatischen Vertretungen der usbekischen Regierung und der US-Regierung sowie amerikanischen Wirtschaftsverbänden hervor. Jüdische Menschen bucharischer Herkunft haben sich immer stärker um Sichtbarkeit im Kontext usbekischer Volksdiplomatie bemüht. Ihr Erfolg in diesem Bereich wird vor allem darauf zurückgeführt, dass sie mit der russischen Sprache, den Sitten und Ritualen der lokalen muslimischen Gemeinden und den Dynamiken des sozialen und politischen Lebens in ihrem Herkunftsland vertraut sind. Seit den frühen 1990er-Jahren besuchen Menschen bucharisch-jüdischer Herkunft ihre Herkunftsstädte in Zentralasien auch immer häufiger als Tourist:innen, um das kulturelle Erbe der Region zu erleben oder in nostalgischen Erinnerungen zu schwelgen. Oft reisen sie mit Unternehmen, die selbst von Angehörigen der bucharischen Diaspora geführt werden.

Fazit

In den Diskursen über eine Entkosmopolitisierung des städtischen Lebens in Zentralasien werden die wichtige Rolle der ethnolinguistischen Minderheiten und ihre möglichen Zukunftsperspektiven häufig übersehen. Nicht nur im vergangenen Jahrzehnt, sondern auch schon davor haben sich die Muster des interreligiösen und kulturellen Zusammenlebens in Zentralasien stark gewandelt. Zum Beispiel verfügt keine Stadt der Region mehr über eine lebhafte bucharisch-jüdische Gemeinde. Bis zum russischen Überfall auf die Ukraine und der russischen Teilmobilisierung im September 2022, die eine neue Migrationswelle von Russland nach Zentralasien ausgelöst hat, ist die ethnische und religiöse Homogenität der Städte überall in der Region gestiegen. Grund dafür war eine Mischung aus Migrationsbewegungen vom Land in die Städte und der gleichzeitigen Auswanderung historischer Minderheiten. Die komplexen Formen des Zusammenlebens in den zentralasiatischen Städten und deren kosmopolitischer Charakter sind jedoch ständig im Wandel und manifestieren sich in sehr unterschiedlichen urbanen Kontexten. Zum einen weist die Identität der Migrant:innen vom Land, die in den Städten Zentralasiens eine neue Heimat gefunden haben, eine erstaunliche Diversität auf. Zum anderen nehmen zentralasiatische Diasporagemeinden eine immer aktivere Vermittler:innenrolle zwischen den Staaten, in denen sie leben, und ihren Herkunftsländern in Zentralasien ein.

Aus dem Englischen von Armin Wolking

Lesetipps / Bibliographie

  • Caroline Humphrey and Vera Skvirskaja (eds.), Post-Cosmopolitan Cities: Explorations of Urban Coexistence. New York: Berghahn Books, 2012.
  • Magnus Marsden, Beyond the Silk Roads: Mobility, Commerce and Geopolitics across Eurasia. Cambridge: Cambridge University Press, 2021.

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