Emigration von Wissenschaftler:innen aus Russland:
 Kollektive und individuelle Strategien

Von Alexander Kalgin (Berlin)

Zusammenfassung
Nach dem 24. Februar 2022 mussten viele Russ:innen, die dem Krieg kritisch gegenüberstanden, aus dem Land fliehen, wobei ihnen oft die Mittel für den Beginn eines neuen Lebens im Ausland fehlten. Diese Emigrant:innen hatten den Status von »nicht vollwertigen Flüchtenden«, da sie nicht vor Krieg oder unmittelbar drohender physischer Gewalt flohen, sondern vor bevorstehenden Repressionen durch »das Regime«. Unter diesen Migrant:innen war ein beträchtlicher Anteil Wissenschaftler:innen. Diese Analyse untersucht die kollektiven und individuellen Strategien bei der Migration von Wissenschaftler:innen, und versucht, die Kriterien für einen erfolgreichen institutionellen Standortwechsel russischer Forschungsteams zu konzeptualisieren.

Wie viele russische Wissenschaftler:innen sind emigriert?

Nach dem Beginn von Russlands großangelegter Invasion in die Ukraine haben viele russische Bürger:innen das Land verlassen, weil sie politische Repressionen fürchteten oder der im September 2022 angekündigten »Teilmobilmachung« entgehen wollten. Die Schätzungen zur Anzahl der Emigrierten schwanken stark und variieren zwischen einer und zwei Millionen.

Dem Dekan der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Staatlichen Moskauer Lomonossow-Universität Alexander Ausan zufolge (https://www.youtube.com/watch?v=-L48DKhPC7U) sind die meisten Migrant:innen sehr gut gebildete Bürger:innen aus den Städten, vor allem aus Moskau und St. Petersburg.

Unter ihnen befinden sich viele Wissenschaftler:innen, wobei Schätzungen über deren Zahl auseinandergehen. Margarita Sawadskaja und ihre Mitautor:innen haben gezeigt, dass unter den 2.500 von ihnen befragten Migrant:innen 13,5 Prozent Wissenschaftler:innen waren (https://drive.google.com/file/d/1SIUzyVbCLgEbgl_iJGPB15MEqTPsIRzg/view). Solche Zahlen sind allerdings nicht zu verallgemeinern, da unklar ist, ob und wie diese Umfrageergebnisse verzerrt sind. Der Koordinator von »Scholars Without Borders« Alexander Abaschkin schätzt die Zahl der emigrierten Wissenschaftler:innen konservativ auf 8.000 bis 12.000 (https://tinyurl.com/38k4cp48). Einer Schätzung der »Higher School auf Economics« (HSE) zufolge gibt es insgesamt rund 650.000 Wissenschaftler in Russland (https://tinyurl.com/mr3w3v25).

Alexander Abaschkin stützt seine Angaben auf eine Umfrage unter 2.500 russischen Wissenschaftler:innen, die kurz nach Ausbruch des Krieges durchgeführt wurde. Ein weiterer Beleg ist die Weiterverbreitung von Telegram-Kanälen und Online-Communities, die von emigrierten russischen Wissenschaftler:innen oder für sie eingerichtet wurden. Diese Gemeinschaften entstanden kurz nach dem Februar 2022 und sind seitdem gewachsen.

Angesichts des Umstandes, dass die Schätzungen weit auseinandergehen und es wenig empirische Belege gibt, möchte ich hier die Einschätzung des Soziologen und ehemaligen Dekans der Soziologischen Fakultät der Moskauer Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, Dr. Wiktor Wachschtajn, zitieren (https://tinyurl.com/38k4cp48). Er meint, dass aktuell jede Schätzung, die vorgelegt wird, gleichermaßen unzuverlässig sei, da es keinen soliden Weg gebe, sie valide zu machen: »Die Wirklichkeit schlägt nicht zurück«, und es gibt auch keinen verlässlichen Weg, zwischen diesen Schätzungen zu entscheiden. Wachschtajn ist im Bereich der Soziologie einer der bekanntesten öffentlichen Intellektuellen in Russland. Er wurde von der Regierung auf die Liste der »ausländischen Agenten« gesetzt und ist 2021 emigriert. Eines kann allerdings sicher gesagt werden: Die Zahl der emigrierten Wissenschaftler:innen ist erheblich und liegt in den Zehntausenden.

Zwei Emigrationsstrategien

In der vorliegenden Analyse beschreibe ich die Migrationsstrategien russischer Wissenschaftler:innen nach dem Beginn des großangelegten Einmarsches in die Ukraine. Diese Strategien sind auf einem Kontinuum angesiedelt: Von der individuellen Migration über die Unterstützung durch Kolleg:innen in Russland oder den neuen Gastländern bis hin zu kollektiven und institutionellen Standortwechseln.

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Unter den von mir Befragten überwogen individuelle Strategien. 17 der 21 Befragten waren als Einzelperson ausgereist. Und auch die vier übrigen können höchstens als gemischte Fälle betrachtet werden, da sie nur eine gewisse Phase der Emigration als Mitglieder einer Gruppe durchliefen und später ihren Weg als individuelle Wissenschaftler:innen fortsetzten. Ungeachtet dieses Hangs zur individuellen Emigration waren einige der Befragten sehr kenntnisreich, was die Potenziale und Grenzen kollektiver Migration anbelangt. Sie hatten vor ihrer Emigration in Forschungsteams gearbeitet und sind dann in engem Kontakt mit den ehemaligen Teammitgliedern geblieben.

Aus diesen qualitativ erhobenen Daten lassen sich zwar keine allgemeingültigen Schlüsse ziehen, doch stimmen diese Beobachtungen mit Wiktor Wachschtajns Aussage überein, dass individuelle Strategien überwiegen. Die von mir Befragten wurden über die Telegram-Kanäle emigrierter russischer Wissenschaftler:innen rekrutiert. Anschließend wurde die Stichprobe nach dem Schneeballprinzip erweitert, weswegen sich unweigerlich eine gewisse Verzerrung ergibt: Ich habe nur Menschen interviewt, die mit mir sprechen wollten, und zehn der 21 Befragten waren Soziolog:innen, was eine Verzerrung durch die Struktur meines eigenen Netzwerks darstellt.

Es hat in der Vergangenheit Beispiele kollektiver Emigration von Wissenschaftler:innen gegeben. Wiktor Wachschtajn hat zur Illustration zwei Beispiele kollektiver Emigration angeführt: Erstens die Auswanderung russischer Philosoph:innen und anderer Wissenschaftler:innen aus der Sowjetunion, die 1922 ins Exil gingen, und von denen einige 1923 in Berlin das »Russische Wissenschaftliche Institut« gründeten (https://tinyurl.com/57suy6k7). Und zweitens die Flucht der Frankfurter Schule 1933 aus Nazi-Deutschland, die bei der Columbia-Universität in den Vereinigten Staaten Asyl fand.

Individuelle Migration: Glück, Beharrlichkeit und Networking

Die von mir Befragten hatten unterschiedliche Strategien und Motivationen. Ich möchte hier vier extreme Beispiele anführen. Einige hatten auf dem offenen Arbeitsmarkt eine Stelle gefunden, andere bauten auf ihre etablierte Netzwerke. Bei jenen, die es über den offenen Arbeitsmarkt versuchten, schwankten die Erfahrungen zwischen reinem Glück und sturer Beharrlichkeit.

Eine:r der Befragten sagte, der eigene Ansatz sei es, »wie ein Weberscher Protestant« von früh bis spät zu arbeiten und so viele Bewerbungen wie möglich zu schreiben:

»Meine Reise in die westliche akademische Welt begann mit 56 Absagen auf meine Bewerbungen… Ich schreibe nicht, um zu gewinnen. Ich schreibe, um eine Chance und noch mehr Chancen zu bekommen… Ich tue das, weil meine Motivation nicht innerer Natur ist, sie kommt von außen. Ich meine, ich kann nicht zurück [nach Russland]«.

Zwei andere Befragten machte eine drastisch abweichende Erfahrung:

»Ich habe mich kurz nach Kriegsbeginn zur Emigration entschlossen. Ich entdeckte die erste freie Stelle, die für meinen Bereich relevant war und schrieb in zwei Stunden eine Bewerbung mit Motivationsschreiben usw., und sie haben mich eingeladen.«

»Mein Bereich ist recht eng begrenzt; ich habe nach einer freien Stelle gesucht, fand eine für meinen Bereich relevante und bereitete rund 20 Stunden lang die Bewerbung vor, mit Korrekturlesen usw., und zwei Wochen später luden sie mich zum Vorstellungsgespräch ein und gaben mir die Stelle.«

Die entgegengesetzte Strategie war, sich bei der Suche auf seine Netzwerke zu stützen. Eine:r der Befragten ließ den freien Markt gänzlich beiseite und fand über Networking eine Stelle in einem Team:

»Am Ende aber wurde ich einfach bei einem Bier in einer Bar vorgestellt. Ich lernte einen Universitätsprofessor kennen, der sagte, er würde zu einem Thema arbeiten, das auch mich interessierte. Er stellte mich jemand anderem von der Universität vor, dessen Freund sich ebenfalls mit dem Thema beschäftigte. Also, wir lernten uns kennen und merkten, dass es interessant wäre, etwas zusammen zu bearbeiten. Wir hatten gerade begonnen, den Antrag auszuarbeiten. Das dauerte alles sehr lange. Wir redeten und bereiteten den Antrag vor. Wir lernten uns im Juli kennen. Und ich wusste nicht, ob ich ihn bis November schaffen würde. Als ich den Antrag stellte, war nicht klar, ob ich das Geld kriegen würde oder nicht. Schließlich bekam ich zwar nicht das Stipendium, aber ein Freund dieses Professors bekam eine umfangreiche Förderung für ein ähnliches Thema, und sie schafften es, vom großen Kuchen ein Stückchen für mich herauszuschneiden«.

Kollektiver Standortwechsel: Mangelndes Vertrauen und Kompatibilität

Einige der Befragten hatten in Russland leitende Positionen innegehabt und waren sogar Expert:innen, wenn es um den Umzug wissenschaftlicher Institutionen geht. Entweder hatten sie bereits versucht, mit ihren Forschungsgruppen umzuziehen, oder sie wussten, welche Hindernisse es bei einem solchen Standortwechsel gab.

Eine:r der Befragten war sehr pragmatisch und sah viel Potenzial in einem kollektiven Umzug:

»Emigrieren verursacht enormen Stress und kostet zudem Geld. Wenn du allein auswanderst, hast du großen Stress. Wenn du diese Person mitsamt Familie umziehen lässt, ist der Stress geringer. Je größer die Gruppe ist, die umzieht, desto weniger Stress gibt es. In diesem Sinne spart ein kollektiver Umzug Kosten.«

Andere fanden diese Option höchst problematisch:

»[Die aufnehmende Institution] müsste eine Universität sein, die bereit wäre, eine Stelle zum Beispiel für eine:n derzeitigen Laborleiter:in und die Mitarbeiter:innen einzurichten und ihnen dann einen Blankoscheck geben. Es scheint aber, dass dies für westliche akademische Einrichtungen, in den USA, in Kanada, Deutschland, Großbritannien und sogar in Australien keine realistische Situation ist, weil es immerhin ein Blankoscheck für Unbekannte wäre. Wir [Russ:innen] sind für sie immer noch exotisch und sonderbar, selbst jene, die keine schlechten Wissenschaftler:innen sind und eine gute Publikationsliste vorweisen können. Ich kann mir keine westliche Universität vorstellen, die ein solches Risiko eingehen würde. In Osteuropa zum Beispiel kann ich mir so eine Uni vorstellen. Ich meine im Baltikum, in Polen, in Tschechien vielleicht, aber da gibt es andere Probleme. Da gibt es politische Probleme.«

Einem anderen Befragten zufolge sei es zwar besser, nach Europa zu gehen, doch würde für ihn auch in Frage kommen, in ein nichteuropäisches Land zu ziehen:

»Das kommt auf den Grad der Verzweiflung an.«

Interpretation

Die Migration von Wissenschaftler:innen ist wie jede Migration ein Schritt entlang einer Reihe sozialer Dimensionen. Neben einem physischen Standortwechsel ist es auch ein sozialer, bildungsmäßiger und kultureller Ortswechsel. Im Falle von Wissenschaftler:innen kommen zwei weitere Parameter hinzu: Die Lage eines Landes im Zentrum oder aber an der Peripherie des akademischen Spektrums sowie die Binnenstruktur des wissenschaftlichen Arbeitsmarktes im Aufnahmeland und im Herkunftsland.

Eine sehr wichtige Unterscheidung ist die zwischen Märkten und Netzwerken. Ein reines Marktprinzip bedeutet, dass Anstellungen aufgrund von Leistungsnachweisen und über offene Ausschreibungen vorgenommen werden, zu denen – zumindest im Prinzip – alle qualifizierten Bewerber:innen Zugang haben. Im Idealfall werden die Kandidat:innen geprüft und der oder die beste eingestellt. Das Prinzip Netzwerk bedeutet im Extremfall, dass Einstellungen über Patronage und Vetternwirtschaft erfolgen. Man wird eingestellt, weil man die richtigen Leute kennt. In Wirklichkeit sind wissenschaftlichen Arbeitsmarktes eine Mischung aus beidem.

Im Fall von individueller Migration gibt es kein Problem bzw. keine Inkompatibilität. Der oder die Migrant:in wird entweder über ein offenes Marktverfahren oder durch Verbindungen in relevanten Netzwerken eingestellt und tritt einem Team bei, das auf einem der beiden Prinzipien beruht. Bei einem kollektiven Standortwechsel hingegen ist die Lage problematisch. Ein bestehendes Team aus einem akademischen Raum in einen anderen wandern zu lassen, ist wie eine Organtransplantation: Das Organ wird abgestoßen, wenn das Gewebe des Organs nicht zum Gewebe des Organismus passt. Auf gleiche Weise ergeben sich bei einer Verpflanzung eines Teams, das über Netzwerke entstand, in eine Umgebung, in der das Marktprinzip überwiegt, beträchtliche Hindernisse.

Eine weitere wichtige Unterscheidung ist die zwischen Zentrum und Peripherie im globalen akademischen Raum. Gemäß diesem Konzept stellt die westliche Welt in der globalen Wissenschaft das Zentrum dar, während die übrigen Länder sich an der Peripherie befinden. Das Zentrum verfügt über den Einfluss, die Ressourcen und die Initiative, während die Peripherie vom Zentrum dominiert wird.

Wir können festhalten, dass eine kollektive Migration von Wissenschaftler:innen wahrscheinlich ist, wenn das Gastland im Vergleich zum Heimatland gleich weit oder weiter vom globalen akademischen Zentrum entfernt ist. Das gewährleistet, dass das zuwandernde Team ein Plus an Attraktivität für die empfangende Institution bedeutet. Zweitens ist eine solche kollektive Migration wahrscheinlicher, wenn der akademische Raum des Gastlandes (oder zumindest die Gastuniversität) nach dem gleichen Prinzip organisiert ist wie der akademische Raum des Heimatlandes. Im Falle Russlands wäre das eher das Netzwerk- als das Marktprinzip.

Wenn der akademische Raum des Gastlandes überwiegend nach dem Marktprinzip organisiert ist, könnte es schwierig sein, die Einrichtung einer ganzen akademischen Einheit zu rechtfertigen, wenn offene Ausschreibungsverfahren umgangen werden. Emigrierte Wissenschaftler:innen stünden mit örtlichen hochqualifizierten Bewerber:innen im Wettbewerb um die Stellen. Das könnte überwunden werden, wenn die aufnehmenden Institutionen nicht streng reguliert sind und es sich leisten können, dem:r Leiter:in der Einheit einen Blankoscheck zu geben, damit er oder sie seine oder ihre Kolleg:innen mitbringt. Darüber hinaus spielt mangelndes Vertrauen eine Rolle. Wissenschaftler:innen aus dem Zentrum könnten denen misstrauen, die von der Peripherie kommen, da deren Fähigkeiten nicht leicht zu überprüfen und mit denen aus dem Zentrum zu vergleichen sind.

All dies zusammengenommen macht es höchst unwahrscheinlich, dass eine kollektive Migration aus Russland in den westlichen akademischen Raum möglich ist. Gegensätzlich dazu erscheint Migration in Länder, die vom akademischen Zentrum weiter entfernt sind, plausibel. Denn in diesem Falle würde der Umzug einer akademischen Einheit der aufnehmenden Institution und dem Gastland zugutekommen. Hierbei findet aber auch ein gewisses Maß an kollektiver Abwertung statt. Diese Abwertung geht allerdings auch mit neuen Möglichkeiten in Bezug auf Sicherheit und eine Fortsetzung der akademischen Arbeit jenseits der russischen Zensur einher.

Während meiner Feldforschung für dieses Projekt entdeckte ich zwei Einheiten dieser Art, eine auf dem Balkan und eine im Kaukasus. Beide wurden von russischen Universitäten ins Leben gerufen und planten einen Umzug in eine andere Institution. Beide Fälle erfüllen die oben genannten Kriterien: die aufnehmenden Länder waren weiter vom akademischen Zentrum entfernt als Russland, und ihre akademischen Räume funktionieren eher über Netzwerke als über offene Marktverfahren.

Wie von einer:m der oben genannten Befragten erwähnt, ist das politische Klima in den Gastländern in Bezug auf Russ:innen ein drittes Kriterium. Nicht alle Länder würden eine Zweigstelle einer russischen Universität begrüßen.

Die mangelnde Kompatibilität der konstituierenden akademischen Prinzipien wird subjektiv als mangelndes Vertrauen wahrgenommen, und es ist schwierig zu belegen, dass man das Vertrauen und die Ressourcen der Gastinstitution verdient. Einheimische Wissenschaftler:innen, die durch die akademische Hierarchie ihres Landes aufgestiegen sind (z. B. US-amerikanische Professor:innen, die in den USA eine Daueranstellung erhalten), verfügen dadurch über erhebliche Freiheiten in ihrer akademischen Tätigkeit. Vergleichbare Freiheiten Wissenschaftler:innen aus einem peripheren und heterogenen wissenschaftlichen Umfeld zuzugestehen, stellt sich dabei als extrem schwierig heraus.

Somit ist nicht nur die relative Position zweier Länder auf dem Zentrum-Peripherie-Spektrum von essenzieller Bedeutung, sondern auch die Kompatibilität der konstituierenden Prinzipien der beiden akademischen Räume. Hinzu kommt das politische Klima in Bezug auf Russland.

Also wären größere Erfolgschancen zu erwarten, wenn ein kollektiver Umzug aus Russland in Länder erfolgt, die erstens an der wissenschaftlichen Peripherie liegen, zweitens deren akademische Räume eher durch Netzwerke als durch einen Markt mit Wettbewerb organisiert sind, und drittens wo die Haltung zu Russland neutral oder positiv ist. Diese Annahmen werden durch meine Beobachtung bestätigt: Zwei russische wissenschaftliche Einheiten wurden auf dem Balkan und im Kaukasus errichtet.

Politiker:innen in Zentralasien, Lateinamerika und Osteuropa könnten dies als Gelegenheit betrachten, Forschungsgruppen anzulocken, indem günstige Bedingungen für einen kollektiven Umzug geschaffen werden. Auf diese Weise könnten sie sicherstellen, dass die aufnehmenden Institutionen in ihren Ländern erheblich profitieren und Wissenschaftstalente für sich gewinnen.

Was den akademischen Raum im Westen anbelangt, so ist eine kollektive Migration in Länder wie Deutschland oder die Vereinigten Staaten unwahrscheinlich, wenn keine speziellen Vorkehrungen getroffen werden. Es müssten besondere Bedingungen geschaffen werden, um einen kollektiven Umzug zu ermöglichen. Derzeit bestehende Förderungen bieten nur individuelle Gelegenheiten für einen Umzug von »Überfliegern«, die bereit sind, sich dem Wettbewerb im westlichen akademischen Raum zu stellen. Der Wechsel von ganzen Teams könnte gleichwohl für die aufnehmenden Institution von Mehrwert sein, da ein akademisches Team eine funktionierende Einheit ist, die nicht erst neu zusammengestellt werden muss. Somit könnte man den Ländern des Westens empfehlen, dass langfristige Förderprogramme aufgelegt werden, um Positionen für ganze Teams zu schaffen. Letztendlich geht es um den Unterschied zwischen dem Ansatz, »Rosinen zu picken«, also Individuen anzustellen, die qualifiziert genug sind und wahrscheinlich ohne zusätzliche Unterstützung migrieren könnten, und einem Ansatz, der sich an akademischer Solidarität gepaart mit dem Vertrauen in den Wert sozialer Bindungen orientiert.

Fazit

Bei der Migration von Wissenschaftler:innen dominieren individuelle Strategien. »Überflieger« migrieren individuell. Einzelmigrant:innen helfen einander: Frühere Vorgesetzte unterstützen ihre Promovierten dabei, einen Platz in westlichen Programmen zu finden. Es gibt ein Spektrum von Strategien, das von durchweg individuell bis zu kollektiver und institutionalisierter Migration reicht.

Kollektive Migration ist aufgrund von institutionellen Barrieren schwierig. Die subjektive Wahrnehmung ist, dass im Westen erstens der Wettbewerb sehr heftig ist, zweitens man sich an transparente Einstellungsverfahren halten muss und nicht einfach jemanden einstellen kann, den man kennt, und drittens Russ:innen als sonderbar und exotisch wahrgenommen werden, und Entscheidungsträger:innen nicht bereit sind, ihnen die Freiheit und einen Blankoscheck auszustellen, um ihre Forschung zu betreiben (selbst wenn jemand eine gute Publikationsliste hat). Ein Umzug in nichtwestliche Kontexte ist möglich, wird aber hinsichtlich akademischer Karrieremöglichkeiten als Herabstufung wahrgenommen.

Bei der Interpretation der von mir in der Feldforschung erhobenen Daten habe ich eine Konzeptualisierung eines kollektiven Umzugs durch das Prisma der Gegenüberstellung von Märkten und Netzwerken vorgenommen. Im russischen akademischen Raum dominieren Netzwerke; er ist oft von Patron–Klient–Beziehungen durchsetzt. Der westliche akademische Raum hingegen ist vorwiegend nach leistungsbezogenen Marktprinzipien organisiert. Das ist natürlich eine Vereinfachung, doch ist diese Typisierung hilfreich, um den Kern des Problems zu illustrieren: Wenn ein Forschungsteam, das in einer bestimmten Umgebung aufgebaut wurde, versucht in einen neuen akademischen Raum zu ziehen.

Hier ist die Metapher der Organtransplantation hilfreich. Die Unterschiede bei den konstituierenden Prinzipien führen zu einer Inkompatibilität zwischen Organ und aufnehmendem Organismus. Dies wird von den Befragten subjektiv als mangelndes Vertrauen bei westlichen Kolleg:innen und als Ungewissheit hinsichtlich eines kollektiven Wechsels in den westlichen akademischen Raum dargestellt, was auf die unterschiedlichen Anforderungen auf dem betreffenden Arbeitsmarkt für Wissenschafter:innen zurückzuführen sei.

Mit einem Blick durch dieses Prisma lassen sich Politikempfehlungen für Forschungsteams formulieren, die in Länder mit ähnlich strukturierten akademischen Räumen an der Peripherie der globalen Wissenschaft umziehen wollen: 1) Länder, die auf dem Zentrum-Peripherie-Spektrum gleichweit oder weiter als Russland entfernt liegen, 2) Länder, deren wissenschaftlicher Raum hinsichtlich einer Einstellung über Netzwerke und Patronage toleranter ist, 3) Länder, in denen das allgemeine politische Klima in Bezug auf Russland relativ positiv ist.

Aufnehmende Länder, die bereit sind, Wege für eine kollektive Migration zu gewährleisten, könnten von der Ankunft ganzer Gruppen von Wissenschaftler:innen profitieren. Viele der »Überflieger« sind bereits gegangen, doch viele andere wären zu einer Emigration als Teil einer größeren Gruppe bereit, wenn es die Gelegenheit hierfür gibt.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

Anmerkung: Diese Analyse basiert auf den Ergebnissen eines Projekts, das vom Exzellenzcluster SCRIPTS an der Freien Universität Berlin finanziert wurde.

Lesetipps / Bibliographie

  • Borgato, Maria Teresa; Christine Phili: In Foreign Lands: The Migration of Scientists for Political Or Economic Reasons, Basel/Berlin: Birkhäuser/Springer International Publishing 2022.
  • Luczaj, Kamil: Conceptualising the academic periphery: the case of Eastern European academic systems, in: Globalisation, Societies and Education, (18), 2020, Nr. 5, S. 511–527.
  • Risse, Thomas; Wiebke Wemheuer-Vogelaar; Frank Havemann: IR Theory and the Core–Periphery Structure of Global IR: Lessons from Citation Analysis, in: International Studies Review, 24.2022, Nr. 3, viac029.
  • Sokolov, Michail et al.: Kak stanowjatsja professorami: akademitscheskije karjery, rynki i wlast w pjati stranach (»Wie man Professor:in wird: Akademische Karrieren, Märkte und Macht in fünf Ländern«), Moskau: Nowoje Literaturnoje Obosrenije 2015.
  • Sokolow, Michail; Kirill Titajew: Provinzialnaja i tusemnaja nauka (Provinzielle und indigene Wissenschaft), in: Antropologitscheskij Forum (Forum für Anthropologie und Kultur), Nr. 19, 2013, S. 239–275; https://anthropologie.kunstkamera.ru/files/pdf/019/sokolov_titaev.pdf.
  • Wachschtajn, Wiktor: Peresborka akademitscheskich soobschtschestw: »myslitelnyje kollektiwy« i sozialnyje swjasi (Die Neuzusammensetzung wissenschaftlicher Gemeinschaften; »gedankliche Kollektive« und soziale Beziehungen), Beitrag auf der Konferenz »Rossijskaja sozialno-gumanitarnaja nauka posle 24 fewralja 2022 goda: Problemy raswitija i nowyje naprawlenija issledowanij« (Russlands Sozial- und Geisteswissenschaften nach dem 24. Februar 2022: Entwicklungsprobleme und neue Tendenzen in der Forschung), 16.–21. Januar 2023, https://youtu.be/dxNgca42oU0.

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