Tschüss, Russki Mir?! – Russlands neues Konzept der »strategischen Zurückhaltung« im postsowjetischen Raum

Von Wladimir Frolow (Republic)

Einleitung von Dekoder

Ende September ist der Krieg um Bergkarabach zwischen Aserbaidshan und Armenien wieder neu entflammt, zahlreiche Zivilisten und Soldaten sind dabei ums Leben gekommen. Nun kam die überraschende Wende: Beide Seiten einigten sich in der Nacht zum Dienstag unter Vermittlung Russlands auf ein gemeinsames Abkommen.

Darin spiegelt sich die militärische Übermacht Aserbaidshans wider, die sich in den vergangenen Wochen deutlich zeigte: So sieht das Dokument etwa vor, dass Armenien sich teilweise aus Bergkarabach zurückzieht. Russland schickt knapp 2000 Soldaten, um den Frieden zu sichern – für zunächst fünf Jahre. Nachrichten, dass auch Aserbaidshans Verbündeter, die Türkei, Truppen entsende, dementierte der Kreml. Während die Menschen auf Aserbaidshans Straßen einen Sieg feiern, kam es in Armenien zu heftigen Protesten. Armeniens Präsident Nikol Paschinjan bezeichnete das Abkommen als »unaussprechlich schmerzhaft für mich selbst und für unser Volk«.

Was die Rolle Russlands, traditionelle Schutzmacht Armeniens, angeht, sind sich Beobachter allerdings uneins: Auch wenn die Türkei an dem Abkommen nicht beteiligt ist – den Einfluss in der Region muss Russland künftig mit Aserbaidshans wichtigstem Verbündeten teilen. Steht Russland mit Armenien also auf der Verliererseite? Der russische Außenpolitikexperte Wladimir Frolow erklärte dem Nachrichtenportal Rambler, der Deal sei gut für Putin – unter der Voraussetzung, dass Russland nicht für Armenien in den Krieg ziehen will. Letzteres versteht Frolow als Ausdruck einer strategischen Wende in der russischen Außenpolitik – die er schon länger beobachtet und Ende Oktober auf Republic am Beispiel von Bergkarabach und Belarus beschrieb: Demnach verabschiedet sich Moskau von der Dominanz im postsowjetischen Raum ganz bewusst – schlicht, weil der Preis für Russland zu hoch ist.

Dominanz im postsowjetischen Raum als Luxus

Ohne viel Aufhebens zu machen, hat Russland seine Politik im postsowjetischen Raum geändert. Eine »Eurasische Union«, eine »Zone privilegierter Interessen«, der »Russki Mir«, die regionale Dominanz, die Verteidigung einer Pufferzone vor den »NATO-Panzern und -Raketen« und die einzigartige Rolle als »Garant für Sicherheit und Souveränität« für die postsowjetischen Staaten gegen äußere Einmischungen – diese großen Träume sind von der aktuellen Agenda des Kreml verschwunden.

Solch grandiose Ideen existieren zwar in den Talkshows der Staatssender, aber diejenigen, die die russische Politik in den Regionen machen, bedienen sich viel realistischerer Narrative. Denn es herrscht die Meinung, dass der Traum von der russischen Dominanz im postsowjetischen Raum zwar eine gute Sache ist, aber der Preis für seine Verwirklichung viel zu hoch; de facto kann er nur in Ausnahmeszenarien realisiert werden – im Falle, dass existenzielle Staatsinteressen bedroht sind. In den meisten Fällen aber, und insbesondere dort, wo es keine gemeinsame Grenze mit Russland gibt, ist die postsowjetische Dominanz eher ein Luxus als ein Vehikel für nationale Entwicklungsziele. Man ist dazu übergegangen, die Ambitionen im postsowjetischen Raum zu optimieren und eine Bestandsaufnahme der realen Bedürfnisse und ihrer Umsetzungsmöglichkeiten vorzunehmen. Moskau »wägt ab, was für uns sinnvoll ist und was nicht«, sagt Fjodor Lukjanow. Zu einem großen Teil ist das auf die Analyse der russischen Aktionen in der Ukraine, Georgien und Syrien zurückzuführen.

Der neue russische Ansatz in postsowjetischen Angelegenheiten lässt sich im Wesentlichen auf drei Frames herunterbrechen: Wozu? Was habe ich davon? Wie trete ich möglichst nicht in dumme Scheiße? (In Anlehnung an die außenpolitische Doktrin Barack Obamas »Don‘t do stupid Shit«.)

Das Konzept der »strategischen Zurückhaltung« Russlands im postsowjetischen Raum lässt sich an Wladimir Putins letztem Auftritt beim Waldai-Forum ablesen, bei dem der Präsident Ruhe und Gelassenheit demonstrierte, während er akute Krisen im nahen Ausland erörterte.

Die zeitliche Parallele der Unruhen in Belarus und Kirgistan sowie das Wiederaufflammen eines echten Krieges zwischen Armenien und Aserbaidshan um die Region Berg-Karabach sind ein guter Stresstest für die neue russische Strategie, und bisher hält sie ihm stand.

Belarus

In Belarus legt Moskau Selbstbeherrschung an den Tag – bei gleichzeitiger Wahrung des Handlungsspielraums. Noch bis vor kurzem glaubte man, ein drohender Regimewechsel infolge einer Farbrevolution in einem Staat, der durch ein Netz von Bündnisverpflichtungen an die Russische Föderation gebunden ist und Russland physisch von der NATO trennt, würde eine militärische Intervention Moskaus auslösen. Dadurch wären Proteste zu unterdrücken, oder zumindest ein hybrider Krieg möglich, um marionettenartige Pufferstaaten analog der Donezker Volksrepublik und der Volksrepublik Luhansk zu schaffen. Doch eine Wiederholung des ukrainischen Szenarios hat es nicht gegeben.

Moskau hat den Wahlkampf in Belarus aufmerksam verfolgt und wusste sehr gut, womit das alles enden könnte. Die Frage war lediglich, ob Lukaschenko seine Macht unmittelbar unter dem Druck der Straße verlieren würde (was dem Kreml natürlich überhaupt nicht geschmeckt hätte) oder ob es gelingt, »den Prozess zu strukturieren« und Moskau den Weg in die belarussische Politik zu ebnen.

Am Ende entschied man sich für eine zurückhaltende Linie: schickte Lukaschenko wärmsten TV-Support (naja, und noch ein bisschen mehr), signalisierte die Bereitschaft, sich »im Falle von Massenunruhen« einzumischen (ohne darauf die geringste Lust zu haben und völlig im Klaren darüber, dass eine direkte Einmischung einen antirussischen Protest konsolidieren würde), blockierte die Vermittlerrolle des Westens und riet den Demonstranten »zu Lukaschenko zu gehen und ihn nach einer Verfassungsreform zu fragen«.

Russland hat es geschafft, unumkehrbare Schritte zu vermeiden, die in eine Sackgasse geführt und die Kosten in Form von neuen Sanktionen aus dem Westen in die Höhe getrieben hätten. Durch die Absage an eine zu aktive Einmischung in die Krise und an ein direktes gewaltsames Vorgehen in Belarus konnte eine Destabilisierung innerhalb Russlands verhindert werden. Indem Russland westliche Forderungen nach einem »nationalen Dialog« unter OSZE-Vermittlung verhinderte, hat es diese Vermittlerrolle selbst eingenommen. Nicht zuletzt hat die zurückhaltende Reaktion auf die belarussische Krise Moskau einen besonnenen Blick auf das Projekt des Staatenbundes ermöglicht: Ist der wirklich so vorteilhaft für Russland oder birgt er nicht auch ein Risiko für die russische Staatlichkeit? Alles, was einen Staatenbund ausmacht, lässt sich auch innerhalb der Eurasischen Wirtschaftsunion verwirklichen.

Selbst der Wert eines Militärbündnisses mit Belarus stellt sich in neuem Licht dar. Die Bedrohung durch die NATO – das sind nicht die polnischen Panzer vor Smolensk, sondern amerikanische luft- und bodengestützte Hyperschallraketen mittlerer Reichweite in Zentraleuropa. Ist es für die Verteidigung Russlands da nicht sicherer, die 100 Milliarden US-Dollar an Öl- und Gassubventionen für Belarus darauf zu verwenden, den ganzen europäischen Teil des Landes mit Iskander-M-Raketen und S-400-Luftabwehrsystemen zu überziehen (und so die eigenen Fabriken mit Aufträgen auszulasten)? Klar ist, dass es in Minsk nach der Krise keine Rückkehr zum Status quo geben wird, und die »neue russische Zurückhaltung« ermöglicht es, in aller Ruhe abzuwägen, wie es nun weitergehen soll.

Bergkarabach

Hier hat Moskau eine Beteiligung auf dieser oder jener Konfliktseite vermieden, auch wenn die von der TV-Propaganda angeheizte Polemik in Russland bereits bedrohliche Ausmaße annimmt.

Moskau gibt zu verstehen, dass der Konflikt um die Region Bergkarabach weder direkten Bezug zu Russland hat noch seine nationalen Interessen berührt. Zwar stellt Putin die aus der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit OVKS resultierenden Bündnisverpflichtungen gegenüber Armenien nicht in Frage, doch in Wirklichkeit überdenkt Moskau den Nutzen eines solchen Bündnisses, dessen Vorteile für Armenien auf der Hand liegen, nicht jedoch für Russland.

Die Beziehungen zu Aserbaidshan haben für Russland einen eigenständigen Wert und werden nicht durch das Prisma der armenischen Interessen betrachtet. Dieser Wert wird dadurch bestimmt, dass die russisch-aserbaidshanische Grenze durch eine äußerst heikle Region verläuft: Dagestan und das Kaspische Meer. Die Ruhe an dieser Grenze und die enge Zusammenarbeit mit dem Nachbarn, um diese Ruhe zu gewährleisten (damit es nicht wieder so wird wie in den 1990ern und Anfang der 2000er Jahre), sind nicht weniger wichtig als die Bündnisverpflichtungen gegenüber Armenien.

Es ist Moskau ein Dorn im Auge, dass beide Seiten versuchen, Russlands Position zu ihren Gunsten zu manipulieren, und Russland auf diese Weise Probleme bereiten. Zu eindeutig nutzt Aserbaidshan das Thema der russischen Antiterroroperationen in Tschetschenien und Dagestan, um separatistische Tendenzen im eigenen Land abzuwehren. Macht man diese Position zu einem unumstößlichen Prinzip, dann entkräftet man die Argumente Russlands in Bezug auf den Donbass und die Krim und verstärkt im Gegenzug die der Ukraine.

Armenien hat schon unter der damaligen Führung das russische Vorgehen auf der Krim im Jahr 2014 zu sehr als Freibrief für eine schrittweise »Wiedervereinigung« durch eine »Selbstbestimmung des karabachischen Volkes« gewertet. Und auch wenn Sergej Lawrow erklärt, dass gemäß UN-Charta das »Selbstbestimmungsrecht der Völker an zentraler Stelle steht und die territoriale Integrität und Souveränität respektiert werden müssen«, ist Moskau lediglich bereit, dieses rechtliche Novum auf die Krim (und Abchasien und Südossetien) anzuwenden, aber nicht auf Bergkarabach (und nicht einmal auf den Donbass).

Zur Türkei

Moskau wird sich wegen des penetranten Eindringens der Türkei in den postsowjetischen Raum und deren Anspruch auf Beteiligung an einer Regulierung in Bergkarabach nicht auf einen bewaffneten Konflikt mit ihr einlassen, trotz der laut werdenden Aufrufe, zu den Waffen zu greifen und »ein neues Chalchin Gol« herbeizuführen. Russland und die Türkei befinden sich bereits in einer symbiotischen Beziehung, in der beide Seiten für die jeweils andere lebensnotwendig sind, um entscheidende außenpolitische Ziele durchzusetzen. Für Moskau ist es von zentraler Bedeutung, dass Erdogan seine Linie der werte- und geopolitischen Opposition zum Westen fortsetzt, was den Westen von einer Konfrontation mit Russland ablenkt, zu einem »Hirntod der NATO« führt und die Wichtigkeit einer Zusammenarbeit Europas mit Moskau im Nahen Osten und dem Mittelmeerraum erhöht.

Es gibt nur zwei Minen, die die russisch-türkischen Beziehungen sprengen könnten: Erstens eine Ausweitung der militärtechnischen Zusammenarbeit zwischen Ankara und der Ukraine (Produktion von Drohnen, Lieferung von Hochpräzisionswaffen und Lobbyarbeit für einen Beitritt der Ukraine und Georgiens in die NATO).

Und zweitens die aggressive Propagierung eines Panturkismus und des politischen Islam innerhalb Russlands. Die Verstärkung der türkischen Präsenz im Südkaukasus ist eine vollendete Tatsache, und das einzige, was Moskau interessiert, ist, dass Erdogan die roten Linien nicht überschreitet.

Ausformuliert bedeutet die neue außenpolitische Doktrin des Kreml in etwa:

  • nur das absolute Minimum tun, das sich aus Vertragsverpflichtungen ergibt; Ausgaben für das Krisenmanagement minimieren; »brüderliche Hilfe« leisten; nach und nach »die Last der postsowjetischen Führung« reduzieren
  • als Bedingung für russische Hilfe möglichst konkrete Schritte des Empfängers dahingehend vereinbaren, dass er sich und seine Souveränität unter die geopolitischen Ziele Moskaus unterordnet
  • die Bündnisverpflichtungen Russlands einer gründlichen Prüfung unterziehen, anpassen und die Formate der russischen Beteiligung konkretisieren
  • nichts tun, was die innenpolitische Lage in Russland destabilisieren könnte, auch nicht durch eine zu aktive Beteiligung Russlands an den inneren Krisen seiner Nachbarn oder eine unreflektierte Ausweitung bestehender Integrationsbündnisse
  • nicht zulassen, dass die russische Außenpolitik durch »Bruderrepubliken« und ihre »russländischen Diasporen« zugunsten von deren Interessen manipuliert wird, die sich nicht immer mit den russischen decken
  • keine weiteren Sanktionen aus dem Westen auf sich laden wegen eines postsowjetischen »Anhängsels« der Russischen Föderation
  • keine Schritte unternehmen, die Russlands Handlungsspielraum einschränken oder einen Rückzug ohne Gesichtsverlust unmöglich machen und in eine Sackgasse führen, vergleiche »stupid Shit«
  • nicht gegen Windmühlen der inneren Destabilisierung postsowjetischer Staaten ankämpfen; Toleranz für ein gewisses Grad an Instabilität in den Regionen entwickeln; von einem übermäßig aktiven Kampf gegen die Farbrevolutionen Abstand nehmen
  • sich der eigenen Möglichkeiten und Ressourcen bewusst sein sowie ihrer Unzulänglichkeit, einen entscheidenden Effekt auf regionale Krisen auszuüben – abgesehen von Situationen, die unmittelbar die Sicherheit der Russischen Föderation bedrohen
  • anderen regionalen Playern stillschweigend »eingeschränkte Interessen« im postsowjetischen Raum zugestehen – und einen Modus vivendi mit ihnen suchen, ohne einen Fetisch aus der »russischen Dominanz« zu machen: Dominant nur dort, wo es dich ohne Dominanz teuer zu stehen kommt, und nicht einfach nur aus Prinzip
  • anerkennen, dass der Aufstieg der Russischen Föderation zu einer Großmacht in anderen Regionen der Welt (dem Nahen Osten, Nordafrika und dem östlichen Mittelmeerraum) zu einer Abhängigkeit von anderen Regionalmächten führt, die wiederum die Handlungsfreiheit im postsowjetischen Raum einschränkt; sich aller Risiken und Gefahren einer direkten militärischen Konfrontation mit »aufstrebenden Regionalmächten« bewusst sein – im Unterschied zu einer simulierten »kontrollierten Eskalation« mit den USA, der NATO oder der EU, wo ein Militäreinsatz grundsätzlich unmöglich ist
  • sich wegen all dem »keinen Kopf machen«, auch wenn die internationale Presse sich mit Schlagzeilen über den schwindenden russischen Einfluss in ihrer eigenen Einflusssphäre überschlägt.

Stand: 12.11.2020

Aus dem Russischen übersetzt von Jennie Seitz

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Analyse

Postsowjetische De-facto-Regime

Von Andreas Heinemann-Grüder
Weltweit gibt es circa 25 De-facto-Regime, fünf davon im postsowjetischen Raum: Abchasien, Südossetien, Transnistrien, Bergkarabach und den russisch kontrollierten Donbas. De-facto-Regime resultieren aus einer Pattsituation. Das »Mutterland« ist dabei nicht mehr in der Lage, die Souveränität über die Bevölkerung und das Territorium des De-facto-Regimes auszuüben, während ein Patron das Überleben sichert und es faktisch, bisweilen auch de jure, anerkennt. Die Gewalt schwelt über längere Phasen mit geringer Intensität, periodisch flammt sie wieder auf, um die Eskalationsbereitschaft des Gegners zu testen. Jenseits der Bewahrung des Status quo wird von der internationalen Gemeinschaft kaum in Konfliktregelung investiert. (…)
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