Die innenpolitische Lage nach Beendigung des Wahlmarathons

Von Janusz A. Majcherek (Pädagogische Universität in Krakau)

Zusammenfassung
Die im Juni und Juli 2020 stattgefundenen Präsidentenwahlen in Polen, die infolge der Covid-19-Pandemie verlegt worden waren, beendeten einen Wahlmarathon, bei dem die Vertreter für die lokale Selbstverwaltung, die Abgeordneten für das Europäische Parlament, das polnische Parlament (Sejm) und der Präsident der Republik Polen bestimmt wurden. Zwar unterschieden sich jeweils die Ausgangslage und der Einsatz, aber im Grunde entschieden alle Wahlen im Einzelnen sowie auch insgesamt darüber, ob in Polen die im Jahr 1989 begonnene liberale Demokratie Bestand haben wird oder ob sie vom Autoritarismus ersetzt wird, den die seit 2015 selbständig regierende Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) konsequent anstrebt.

Der Vierkampf und seine Etappen

Summarisch zeigen die Ergebnisse eine starke, fortschreitende Polarisierung der polnischen Gesellschaft in Anhänger des von der PiS beschlossenen rechten Autoritarismus und Sympathisanten der Opposition, die sich dem entgegensetzt. Hier spielt die liberale Bürgerplattform (Platforma ObywatelskaPO) die Hauptrolle.

Da die autoritären Pläne der PiS die Schwächung und Entmündigung der lokalen Selbstverwaltung umfassen, initiierte die PO vor den Selbstverwaltungswahlen (2018) das Parteienbündnis Bürgerkoalition (Koalicja ObywatelskaKO), an dem sich andere Oppositionsparteien und lokale politische Akteure der Selbstverwaltung beteiligten. Das Ergebnis dieser Wahlen war nicht eindeutig, sondern zeigte den Charakter und das Ausmaß der gesellschaftlichen Spaltung. Dörfer und Kleinstädte sprachen sich für die Kandidaten der PiS aus, größere und große Städte für die Vertreter der Opposition. In Warschau besiegte der PO-Kandidat Rafał Trzaskowski den PiS-Kontrahenten bereits im ersten Wahlgang mit einem vernichtenden Vorsprung und wurde Stadtpräsident der Hauptstadt.

Die Ergebnisse der gleichzeitig stattfindenden Wahlen zu den 16 Woiwodschaftslandtagen (sejmik) ergaben ein Unentschieden, aber die Politiker der PiS brachten einzelne Vertreter der Opposition oder unabhängige Akteure mit Hilfe von Versprechungen, Erpressung oder Drohungen dazu, die Seite zu wechseln. Dies gelang insbesondere in der Woiwodschaft Schlesien (województwo śląskie), wo sich ein KO-Abgeordneter der PiS-Fraktion anschloss und dafür mit dem Posten des Vizemarschalls belohnt wurde. Er ermöglichte damit, die politische Macht über die ganze Woiwodschaft zu übernehmen. Der Mechanismus, nach der Wahl die Macht an sich zu reißen, erwies sich als ständiger Bestandteil der politischen Taktik der PiS.

Einen Schatten auf die Selbstverwaltungswahlen legte die Ermordung des Stadtpräsidenten von Danzig (Gdańsk), Paweł Adamowicz, der wenige Monate nach seiner Wiederwahl getötet wurde. Zwar war der Mörder ein Krimineller, aber während er die tödlichen Messerstiche vollzog, schrie er laut, dass er unter der PO-Regierung Unrecht erlitten habe. Hinzu kommt, dass Adamowicz zuvor viele Monate lang aggressiv vom regierungsnahen Fernsehen für seine liberalen Einstellungen angegriffen worden war und u. a. der übermäßigen Betonung der deutschen Vergangenheit Danzigs bezichtigt wurde. Die Organisation und Durchführung einer Hetzjagd auf herausragende Akteure der Opposition vonseiten derjenigen Medien, die der PiS untergeordnet oder gewogen sind, ist ein weiterer ständiger Bestandteil der autoritären Neigungen dieser Partei.

Die Nachwahl für das Amt des Danziger Stadtpräsidenten gewann deutlich die bisherige Vizepräsidentin und enge Mitarbeiterin von Adamowicz, Aleksandra Dulkiewicz, die von der gesamten Opposition unterstützt wurde.

Die einige Monate später stattfindende Wahl zum Europäischen Parlament (Mai 2019) entschied zwar formal nicht über den Charakter und die Struktur der politischen Führung in Polen, sie hatte aber große Bedeutung für die Feststellung des Machtgefüges und seine Ausformung. Da die PiS eine europaskeptische Partei und gegen die Vertiefung der europäischen Integration ist, kann das Wahlergebnis auch das Ausmaß der gesellschaftlichen Unterstützung für EU-kritische Standpunkte zeigen.

Auf der Grundlage der Bürgerkoalition wurde die Europäische Koalition (Koalicja Europejska) gegründet, die in jedem der 52 Wahlkreise (dies entspricht der Anzahl der polnischen Abgeordneten im Europäischen Parlament) einen vorher vereinbarten gemeinsamen Kandidaten aufstellte. Aber einige Monate vor diesen Wahlen entschied sich der Stadtpräsident von Stolp (Słupsk), der landesweit bekannte bekennende homosexuelle Aktivist Robert Biedroń, eine neue linke Gruppierung (Frühling/Wiosna) zu gründen, die sich seiner Absicht nach der fortschreitenden politischen Polarisierung entgegenstellen sollte. Mit ihr holte er ein Ergebnis in Höhe von sechs Prozent, das sind drei Mandate im Parlament, und nahm damit der Opposition die Chance, die PiS unter Druck zu setzen (die PiS erhielt 27 Mandate, die Europäische Koalition 22; deren Vertreter traten der konservativen Europäischen Volkspartei im Europäischen Parlament bei, einige linke Abgeordnete gingen zur sozialdemokratischen Fraktion). Die im Vergleich zur letzten Europawahl doppelt so hohe Wahlbeteiligung und die fast gleiche Stimmenanzahl für die Kandidaten der PiS und die der Opposition zeigen, dass sich die Spaltung vertieft hat und die Konfrontation zwischen dem Regierungslager und der der Opposition immer heftiger wird.

Vor den darauf folgenden Sejmwahlen (Oktober 2019) zerfiel die Opposition. Władysław Kosiniak-Kamysz, der neue und junge Parteiführer der schon lang in der Landbevölkerung verwurzelten Polnischen Bauernpartei (Polskie Stronnictwo LudowePSL), stellte fest, dass seine Gruppierung durch die Beteiligung an der links-liberalen Koalition in der konservativen ländlichen Wählerschaft geschwächt werden und diese an die PiS verlieren würde, und beschloss, ein eigenes Wahlbündnis zu bilden (zusammen mit der kleinen Partei Kukiz ‘15). Das linke Spektrum wiederum, das seit den letzten Sejmwahlen infolge von Zerfalls- und Auflösungserscheinungen nicht mehr im Parlament vertreten war, vereinigte sich und trat mit einer gemeinsamen Liste an. Ähnlich ging die radikale Rechte vor. Letztendlich starteten vier politische Blöcke für die Parlamentswahlen, was der PiS, die im Bündnis der Vereinigten Rechten (Zjednoczona Prawica) antrat, den Sieg erleichterte. Er war allerdings knapp und dem polnischen Wahlrecht geschuldet – fünf Sitze mehr als die erforderliche Mehrheit, wobei in absoluten Zahlen mehr Wähler für die Opposition gestimmt hatten. Die Opposition erzielte einen spektakulären Erfolg für die zweite Parlamentskammer, bei den Senatswahlen. Sie hatte sich auf eine gemeinsame Liste geeinigt und jeweils einen Kandidaten in jedem der 100 Wahlkreise aufgestellt. 51 Sitze konnte sie gewinnen. Auch diese Zahl illustriert das Gleichgewicht der gegnerischen politischen Kräfte.

Der Senat kann die autoritäre Gesetzgebung des von der PiS dominierten Sejm aufhalten, er ist aber nicht in der Lage, diesen Prozess zu verhindern. Allerdings hat er Einfluss auf die personelle Besetzung wichtiger staatlicher und öffentlicher Institutionen.

Auch wenn die Eroberung des Senats durch die vereinigte Opposition manch einen ihrer Akteure für die Idee einnahm, sich auf einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten zu einigen, entschieden sich die politischen Gruppierungen doch, jeweils einen eigenen Bewerber aufzustellen. Als deren Nominierung begann, setzten die SARS-CoV-2-Pandemie und die damit einhergehenden Hygienebeschränkungen ein. Wahlen durchzuführen war unter diesen Bedingungen nicht möglich. Die Opposition rief dazu auf, offiziell den Katastrophenzustand zu verhängen, der automatisch eine Verschiebung der Wahlen bedeutet hätte. Die PiS wollte dem aus mindestens zwei Gründen nicht zustimmen. Erstens ist der Katastrophenzustand eine rechtlich regulierte Situation, die die Rechte und Pflichten der Regierung präzise bestimmt; die PiS will sich so etwas allerdings nicht unterordnen, sondern ihre vollständige Handlungsfreiheit bewahren. Zweitens hätten die erwarteten spürbaren oder sogar tragischen Folgen der Epidemie die gesellschaftliche Stimmung verschlechtern und die Chancen auf die Wiederwahl von Andrzej Duda verringern können, des PiS-Kandidaten, der in enger Verbindung mit der Regierung steht. Folglich galt in der PiS, dass die Wahlen durchgeführt werden müssen, bevor die Folgen von Covid-19 auftreten, und nicht verschoben werden sollen. Da es aber unmöglich war, sie in geschlossenen Wahllokalen abzuhalten, entschied man sich für obligatorische Briefwahl.

Das bedeutete wiederum eine Verletzung des Wahlrechtes, das eine Änderung des Prozederes später als ein halbes Jahr vor der Abstimmung nicht gestattet. Hinzu kam, dass mit dem Prozedere die staatliche Verwaltung beauftragt wurde und nicht die dazu befugte Staatliche Wahlkommission (Państwowa Komisja WyborczaPKW). Die verbindliche Briefwahl wäre in Polen eine Neuheit gewesen und dazu auch noch in Eile vorbereitet. Die stärkste oppositionelle Kraft, die Bürgerkoalition, rief also zum Boykott der auf diese Weise organisierten Wahlen auf.

Die Präsidentschaftskandidaten der anderen Gruppierungen schlossen sich dem Boykottaufruf allerdings nicht an, denn sie witterten für sich eine Chance nach dem Rückzug der KO-Kandidatin. Dies führte zur Zersplitterung der oppositionellen Kräfte. Hinzu kam außerdem, dass sich der Fernsehmoderator und gemäßigte katholische Publizist Szymon Hołownia aufstellen ließ, der sich zum wichtigsten Gegenkandidaten für Duda zu entwickeln begann.

Trotz Rechtsbeugung oder gar Rechtsverletzung war die PiS jedoch nicht im Stande, den ersten Wahlgang für den geplanten Termin Anfang Mai zu organisieren, und verschob die beiden Wahlgänge auf Juni und Juli. Daraufhin beschloss die KO, ihren Wahlkampf neu zu starten und einen neuen Kandidaten, den Stadtpräsidenten von Warschau, Rafał Trzaskowski, aufzustellen. Sein Eintritt veränderte die Situation vollkommen. Rasch avancierte er zum Hauptvertreter der Opposition und erhielt im ersten Wahlgang über 30 Prozent der Stimmen, während seine Gegner aus der Opposition (darunter Biedroń aus dem linken Spektrum und Kosiniak-Kamysz aus dem gemäßigt konservativen Lager) eine Niederlage erlitten. Nur Hołownia mit einem Ergebnis von knapp 14 Prozent und der Vertreter der extremen Rechten Krzysztof Bosak mit sechs Prozent hatten vor dem zweiten Wahlgang noch eine gewisse Bedeutung. Ersterer unterstützte, wenn auch ungern, Trzaskowski, letzterer verhielt sich neutral. Die überwiegende Mehrheit der Wähler, die zuerst einen anderen Kandidaten als Duda gewählt hatten, stimmte nun für seinen Herausforderer. Wieder einmal trat eine deutliche Polarisierung mit ausgeglichener Stimmenverteilung zutage. Die Wahlbeteiligung war mit 68,18 Prozent hoch, aber Duda gewann mit einem minimalen Vorsprung vor Trzaskowski (51 zu 49 Prozent).

Autoritäre Bedrohung

Mit der Legitimation vonseiten der Wähler für ihre Regierung ausgestattet und durch das Präsidentenamt zusätzlich abgesichert, trat die PiS eine weitere Etappe an, ihr Projekt des autoritären Staates zu realisieren. Es umfasst die Übernahme bzw. Neutralisierung der privaten Medien, die Entmündigung der lokalen Selbstverwaltung (insbesondere der großstädtischen, von der Opposition besetzten), die Marginalisierung von Nichtregierungsorganisationen und die Unterordnung von wissenschaftlichen Institutionen.

Die privaten Medien werden wahrscheinlich von öffentlichen Fonds bzw. durch Gesellschaften des Staatsschatzes aufgekauft werden (nach ungarischem Muster). Ihre bisherigen Besitzer werden ein Angebot erhalten, dass sie nicht ablehnen können: Verkauf für großes Geld oder Schikane vonseiten der staatlichen Verwaltung (angefangen von der Kündigung der Werbung für staatliche Gesellschaften und der Bekanntmachungen staatlicher Institutionen). Am schwierigsten wird sicherlich die Übernahme des größten und einflussreichsten Fernsehsenders, TVN, der zum mächtigen US-amerikanischen Konzern Discovery gehört. Die schon früher an den Sender (bzw. die Mediengruppe) gerichtete Kritik und Schelte von Funktionären des Regierungslagers riefen den Protest der US-amerikanischen Botschafterin hervor. Der Haken liegt darin, dass sich das Hauptinformationsprogramm TVN24 nicht vollständig in das thematische Profil von Discovery einfügt – es kam zufällig dazu, als die ganze Mediengruppe gekauft wurde. Es kann also sein, dass es nicht allzu sehr vor dem Verkauf an einen bereitgestellten Käufer verteidigt werden wird, der mit staatlichen Geldern um sich werfen wird.

Die lokale Selbstverwaltung ist mit dem Modell des zentralistischen Nationalstaates, das die PiS forciert, nicht vereinbar. Sie wird schikaniert (werden), indem ihre Kompetenzen und Mittel zur Bewältigung verschiedener Aufgaben beschnitten werden. Der Rückgang der Einnahmen infolge des »Lockdowns« vieler lokaler Unternehmen wegen der Corona-Pandemie schwächt die lokalen Behörden der Selbstverwaltung noch zusätzlich.

Die Abrechnung mit den Nichtregierungsorganisationen (NGO) wird vermutlich nach dem russisch-ungarischen Muster stattfinden werden. NGOs, die über ausländische Gelder verfügen, werden gezwungen werden, sich als »ausländische Agenturen« registrieren zu lassen, und die Landesmittel werden ihnen gekürzt werden, das heißt, dass die Gelder an folgsame, der politischen Macht untergeordnete bzw. mit ihr kooperierende Organisationen geleitet werden. Es gibt bereits aktive radikal-konservative und rechtsextreme Verbände, insbesondere mit nationalistisch-katholischem Profil, die mit öffentlichen Mitteln unterstützt werden. Private Sponsoren werden mit angedrohten Schikanen verschreckt, Organisationen zu unterstützen, die vom Regierungslager missbilligt werden.

Am schwierigsten ist es, die Methoden zur Unterordnung der Universitäten und Hochschulen vorherzusehen. Manche wissenschaftlichen Einrichtungen werden bereits damit gequält, dass ihnen die Mittel gestrichen werden, auch werden neue gegründet, die der politischen Führung der PiS untergeordnet sind und mit deren Parteigängern besetzt werden. Dies betrifft insbesondere Institutionen im Bereich Geschichte, die wiederum von der Geschichtspolitik vereinnahmt werden und ein nationalistisches Narrativ der Geschichte Polens ausarbeiten und verbreiten sollen. In dieser Absicht wurden auch Museen (zum Beispiel das Museum des Zweiten Weltkrieges) unter die Kontrolle der PiS-Funktionäre gestellt.

Das Regierungslager wirft den Universitäten vor, den Studierenden antinationale, unpatriotische, linke, liberale und kosmopolitische Ansichten und Haltungen zu vermitteln. Manch einer erklärt damit die geringe Unterstützung für Andrzej Duda in der akademischen Jugend und ruft dazu auf, Änderungen in ihrer Ausbildung vorzunehmen.

Polen bewegt sich in Richtung Autoritarismus im Sinne eines elektoralen Autoritarismus, das heißt eines Systems, in dem es eine Opposition gibt, die an den Wahlen zwar teilnimmt, aber keine Chance hat, sie zu gewinnen. Die Wahlen dienen der Legitimation der Regierung, die ihre Macht willkürlich und nicht kontrolliert durch die dominierende Partei ausübt. Solche Modelle funktionieren in Russland, der Türkei und in Ungarn. Das polnische Spezifikum besteht darin, dass das tatsächliche Oberhaupt, das die alleinige Aufsicht über alle ihm untergeordneten staatlichen Institutionen ausübt, das heißt PiS-Parteichef Jarosław Kaczyński, selbst nur ein einfacher Abgeordneter ist. Das eigentliche Zentrum der willkürlichen und unkontrollierten Macht liegt also außerhalb ihrer offiziellen Institutionen.

Die Quelle der gesellschaftlichen Unterstützung für die PiS

Die mehrfachen Wahlsiege der PiS erfordern eine Erklärung, umso mehr als die autoritäre, nationalistische, klerikale, fremdenfeindliche und homophobe Partei große Unterstützung von einer Gesellschaft erfährt, die diese Eigenschaften und Neigungen nicht in diesem Maße zeigt. Hinzu kommt, dass Journalisten unabhängiger Medien und Akteure der Opposition eine Vielzahl von Fällen des Machtmissbrauchs, Affären, Skandalen, Betrügereien und Veruntreuungen der Politiker des Regierungslagers und ihnen nahe stehender Personen aufgedeckt haben.

Der Sieg der PiS bei den Parlamentswahlen 2015 sowie ihres Repräsentanten bei den Präsidentenwahlen im selben Jahr interpretierten manche Beobachter als Ergebnis der Unwissenheit und fehlenden Kenntnis über die tatsächlichen Absichten und politischen Konzepte Jarosław Kaczyńskis, der das gesamte politische Lager führt. Zwar war er früher schon einmal Ministerpräsident gewesen (und sein Zwillingsbruder Präsident), aber damals (2005–2007) hatte die PiS nicht die absolute Mehrheit innegehabt und hatten verschiedene Exzesse als Ergebnis der Handlungen der Koalitionspartner verstanden werden können. Die späteren Wahlerfolge lassen sich allerdings nur zum Teil mit der Desorientierung eines Teils der PiS-Wähler erklären. Die Erklärung gilt für diejenigen, die einen beschränkten Zugang zu Information über öffentliche Angelegenheiten haben oder sich nur geringfügig für diese interessieren. Sie sind Opfer der geballten Propaganda, die von den öffentlichen Medien, das heißt den staatlichen Fernseh- und Radiosendern, ausgeübt wird. Diese Medien sind vollständig der regierenden Partei untergeordnet und betreiben eine aufdringliche Agitation zu ihren Gunsten ebenso wie sie die Kreise und Politiker der Opposition systematisch diskreditieren. Manche, die die Volksrepublik Polen erlebt haben, vergleichen die Methoden und den Stil der aktuellen Regierungspropaganda mit der des kommunistischen Systems. Mitbürger mit niedriger Bildungsstufe und aus der tiefen Provinz sind jedoch zugänglich für diese Formen und Inhalte. Sie stellen einen wesentlichen Teil der PiS-Wählerschaft, der sich am deutlichsten zu der Partei bekennt. Sie sind sich nicht vollständig der ideologischen Handlungsgrundlagen der Partei und ihrer Aktivisten und auch nicht des Ausmaßes der Affären und Skandale mit ihrer Beteiligung bewusst, denn darüber informieren die öffentlichen Medien freilich nicht. Diese Wähler stimmen also für die PiS, weil sie ein verzerrtes, einseitiges und idealisiertes Bild der Partei und ihres politischen Lagers haben sowie ein geschwärztes, schiefes und extrem nachteiliges Bild der PiS-Opponenten.

Die übrigen Wähler haben mehr oder weniger Kenntnis von den ideologischen Voraussetzungen für das Handeln dieses politischen Lagers sowie vom Machtmissbrauch seiner Akteure, finden aber, dass andere Eigenschaften von Vorteil sind.

Die erste Gruppe dieser Wählerschaft weiß die Sozialprograme zu schätzen, die in einem vorher nicht gekannten Ausmaß in Gang gesetzt wurden. Die regierende PiS wirft mit öffentlichen Geldern um sich, die sie begleitet von propagandistischer Begeisterung verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, insbesondere Rentnern und kinderreichen Familien, zukommen lässt. Fast sprichwörtlich wurde eine treuherzige Äußerung eines Nutznießers dieser Sozialprogramme, der in einer Untersuchung zu der Bewertung der Regierung kam: »Kann sein, dass sie klauen, aber sie teilen mit uns«. Hier zeigt sich also die Zustimmung dieser Wählergruppe zum Modell des Mafiastaates, der sich bereits in Ungarn etabliert hat und in einem Buch von Bálint Magyar beschrieben wird, das in polnischer Übersetzung unter dem Titel »Ungarn: Anatomie eines Mafiastaates: Erwartet Polen eine solche Zukunft?« (Węgry: anatomia państwa mafijnego: czy taka przyszłość czeka Polskę?) erschienen ist. Die Verletzung der Regeln der Rechtsstaatlichkeit und den Machtmissbrauch der Regierung rechtfertigt dieser Wählertyp mit der Sorge um die materielle Existenz der »einfachen Leute«. Dies geht einher mit einer elitenfeindlichen Haltung, die charakteristisch für die polnische und auch andere Versionen des Populismus ist.

Die zweite Gruppe der besser orientierten PiS-Wähler sieht den entscheidenden Vorteil des Regierungslagers in seiner Verbundenheit mit der Tradition, den konservativen gesellschaftlichen Einstellungen, der Pflege der herkömmlichen, insbesondere der religiös geprägten, Lebensformen. Damit geht ein antimoderner Trend einher, vor allem was sittliche Fragen, die Rechte der LGBT, die gesellschaftliche Stellung der Frau, die Erziehung der Kinder, betrifft. Der sittliche und kulturelle Konservatismus wird in der Propaganda der PiS stark herausgestellt sowie auch in den Aktivitäten der katholischen Kirche und der mit ihr verbundenen Organisationen. Ausdruck dessen sind die von lokalen, PiS-dominierten Selbstverwaltungen ausgerufenen »LGBT-ideologiefreien-Zonen«. Die offizielle Propaganda verkündet, dass die nicht heterosexuellen Milieus eine eigene Ideologie verbreiten, gar einen ideologischen Krieg führen. Hier liegt eine für das Regierungslager typische Bedeutungsumkehrung vor: Den Gegnern werden die eigenen Charakteristika zugeschrieben, in diesem Falle die Ideologisierung bestimmter Aspekte des Lebens.

Die Eigenschaften und Bestandteile der PiS-Ideologie führen zu einer starken Polarisierung der Gesellschaft unter drei Parametern: Bildung, Wohnort und Alter. Die statistische Wahrscheinlichkeit sieht folgendermaßen aus: Je niedriger der Bildungsabschluss, je kleiner der Wohnort und je älter der Betreffende, desto stärker ist die Unterstützung für die PiS. Und umgekehrt vereinigt die Wählerschaft der Opposition folglich die Komponenten Großstadt, Mittelklasse, junge Menschen und mindestens Abitur. In den größten Städten hat Trzaskowski zwischen 60 und über 70 Prozent der Stimmen erhalten.

Dies führt auch zu einer geographischen Teilung entlang der West-Ost-Achse, die mit dem Grad der Urbanisierung verknüpft ist. Die schwach urbanisierten östlichen Woiwodschaften sind Hochburgen der PiS, die westlichen das Rückgrat der Opposition. Die größte Unterstützung erhält das Regierungslager in der südöstlichen Region Vorkarpaten (województwo podkarpackie), die vom niedrigsten Urbanisierungsgrad und dem höchsten Anteil an Landbevölkerung gekennzeichnet ist.

Die Lage der Opposition

Die Opposition in Polen steht vor der Notwendigkeit, ihre eigene Wirksamkeit erhöhen zu müssen, wenn sie sich dem Autoritarismus entgegen stellt. Da sie im Ansatz pluralistisch ist, hat sie entsprechend ein Problem damit, sich zu konsolidieren oder auch nur ihre Aktivitäten zu koordinieren. Dies kann sich allerdings als notwendige Bedingung dafür erweisen, dass sie zumindest Teilerfolge bei der Verteidigung vor der autoritären Gefahr erzielt. Gegenwärtig ist die Opposition eher in der Phase, die verschiedenen politischen Milieus zu konsolidieren. Darüber hinaus treten Konflikte und Reibereien in Bezug auf die Analyse der Niederlage bei der Präsidentschaftswahl auf. Das Lager von Trzaskowski beschuldigt die übrigen Kandidaten der Opposition, ihn im zweiten Wahlgang nicht ausreichend unterstützt zu haben. Die Anhänger der anderen Kandidaten werfen Trzaskowski und seinen Leuten Fehler im Wahlkampf vor. Der wachsende autoritäre Druck könnte die ausdifferenzierten oppositionellen Gruppierungen zur Zusammenarbeit zwingen, unter der Gefahr, dass manche dabei zunichte gehen.

Dringend erwarten liberal-demokratische Milieus auch ein größeres zivilgesellschaftliches Engagement. Die Pandemie hat die Möglichkeit von Kundgebungen und Demonstrationen beschränkt. Allerdings waren es schon vor Ausbruch von Covid-19 weniger als in den Jahren 2016/17. In den gegen den Autoritarismus eingestellten Teilen der Gesellschaft ist deutlich eine Entmutigung angesichts der Misserfolge zu sehen. Spontane Initiativen wie das Komitee zur Verteidigung der Demokratie (Komitet Obrony DemokracjiKOD) oder die Bürger der Republik Polen (Obywatele RP) verblassen. Ihre Aktivitäten sind nur noch wenig sichtbar, ihre Aufrufe ziehen ein immer schwächeres Echo nach sich.

Vergleichsweise am aktivsten sind die Frauenorganisationen, die gegen den Versuch protestieren, das Abtreibungsrecht zu verschärfen (ultrarechte Milieus bemühen sich um die Einführung eines vollständigen Abtreibungsverbots), sowie gegen den Versuch, das »Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt«, die sogenannte Istanbul-Konvention, vonseiten Polens aufzukündigen (der Antrag in dieser Angelegenheit ging von der radikalen Fraktion im Regierungslager aus; der Ministerpräsident hat ihn an das Verfassungstribunal weitergeleitet, das beurteilen soll, ob die Konvention die polnische Verfassung verletzt).

Rafał Trzaskowski versucht, seine Wähler im Format einer noch nicht näher bestimmten Bürgerbewegung zu aktivieren. In dem Wunsch, an die Tradition der großen antikommunistischen Bewegung anzuknüpfen, schlug er am 40. Jahrestag der Entstehung der Solidarność den Namen »Neue Solidarność« (Nowa Solidarność) vor (die gegenwärtig bestehende Solidarność, eine Gewerkschaft von einigen Hunderttausend Mitgliedern, unterstützt die PiS).

Den Versuch, seine Wähler zu organisieren, unternahm auch Szymon Hołownia. Er ließ den Verband Polen 2050 (Polska 2050) registrieren, der sowohl einen Think Tank als auch problemorientierte Basisarbeit umfassen soll.

Angesichts der in Richtung Autoritarismus strebenden PiS richten die zunehmend vom Regierungslager schikanierten oppositionellen Milieus ihren Blick hoffnungsvoll auf ausländische und internationale Institutionen. Wenn es sie auch dem Vorwurf des Verrats aussetzt, erwarten sie dringend die Hilfe von außen, um die autoritären Trends in der polnischen Politik aufzuhalten.

Hier spielt der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) eine positive Rolle, der bereits Urteile verkündete, die konkrete Entscheidungen der PiS infrage stellen, insbesondere im Bereich der Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit der Gerichte. Der mit Nominierten der Regierungspartei besetzte Landesjustizrat (Krajowa Rada Sądownictwa – KRS), der anstelle des zuvor aufgelösten eingesetzt wurde, wurde aus dem European Network of Councils for the Judiciary (ENCJ) ausgeschlossen; den Antrag hatte die European Association of Judges gestellt. Unlängst verweigerte die EU-Kommissarin für Gleichberechtigung, Helena Dalli, Zuwendungen für einige polnische Gemeinden, die sich zu LGBT-ideologiefreien-Zonen erklärt hatten. Der Aufbau-Fonds, auf den sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union im Juli zur Bekämpfung der Folgen der Corona-Pandemie geeinigt haben, sieht vor, die Hilfszahlungen von der Einhaltung der Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit im betreffenden EU-Mitgliedsland abhängig zu machen. Das Europäische Parlament fordert eine rigorose Anwendung dieses Prinzips. Der französische Minister für Europäische Angelegenheiten unterstützte diese Haltung im Namen Frankreichs. Der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, kündigte an, die Auszahlungen des zukünftigen EU-Haushaltes von der Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit abhängig zu machen.

Die Politik Deutschlands angesichts der autoritären Gefahr in Polen

Die polnischen oppositionellen Milieus fassen die bisherige offizielle Politik der deutschen Regierung angesichts der autoritären Gefahr in Polen so auf, dass sie abwarte, bis die PiS ihre Regierungsverantwortung verliert. Nach der Serie von Wahlsiegen und vor dem Hintergrund, dass in den kommenden drei Jahren keine Wahlen in Polen stattfinden werden, ist diese Politik nun nicht mehr angemessen. Nach weiteren drei Jahren PiS-Regierung gibt es für die polnische Demokratie möglicherweise nichts mehr zu retten (was der Fall Ungarns nahelegen würde).

Auf der anderen Seite gilt es zu beachten, dass kritische Äußerungen vonseiten Deutschlands an die polnische Regierung und ihre Politik von den Funktionären ausgenutzt werden, um die ohnehin schon antideutsche Propaganda zu verstärken. Allerdings kann die Regierung Deutschlands die polnischen Machthaber und Institutionen auch nicht als vollkommen demokratisch behandeln und mit ihnen normale Beziehungen unterhalten, denn die Mehrheit von ihnen zeigt jetzt schon ein autokratisches Gesicht und entsprechend sollten sie auch von ihren EU-Partnern behandelt werden.

Insbesondere die Institutionen der Europäischen Union können am besten und effektivsten Druck auf das polnische Machtzentrum ausüben. Daher können und sollten die politischen Akteure in Deutschland mit Hilfe der europäischen Institutionen die Politik gegenüber den betreffenden polnischen Organen gestalten.

Eine eigene, aber bedeutende Rolle haben auch Nichtregierungsorganisationen und Institutionen außerhalb der offiziellen Sphäre.

Weder die regierenden noch die außerhalb der Regierung stehenden Akteure in Deutschland sollten angesichts der von der Regierungsmannschaft in Polen autoritären Politik gleichgültig bleiben, die gegen den Willen der Hälfte der Bevölkerung zunehmend brutal geführt wird.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

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