Wie viel »Budapest« liegt in Warschau? Eine Wahl zugunsten radikaler Veränderungen

Von Radosław Markowski (University of Social Sciences and Humanities, Warschau)

Zusammenfassung
Die Wahlen zum Sejm und zum Senat der Republik Polen am 25. Oktober 2015 führten zu einer grundlegenden Änderung der politischen Landkarte. Die Koalition aus Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO) und Polnischer Bauernpartei (Polskie Stronnictwo Ludowe – PSL), die über zwei Legislaturperioden (2007–2015) hinweg – ein Stabilitätsrekord in der jungen polnischen Demokratie – eine Regierung bildete, wurde in die Opposition verbannt, abgelöst von Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS), der es gelungen ist, die absolute Mehrheit der Sitze im Sejm zu erlangen und erstmals nach 1989 eine Alleinregierung zu bilden, auch wenn sich bei einer Wahlbeteiligung von gut 50 Prozent de facto nur knapp 19 Prozent aller wahlberechtigten Polen für PiS ausgesprochen haben. Erstmals seit 1989 wird keine linke Partei im Sejm vertreten sein, denn weder ein linkes Parteienbündnis mit der Demokratischen Linksallianz (Sojusz Lewicy Demokratycznej – SLD) an der Spitze noch die neu entstandene, von ambitionierten jungen Menschen getragene Partei Gemeinsam (Razem) zogen ins Parlament ein. Gründe für das schlechte Abschneiden der PO sieht der Autor in ihrem farblosen Wahlkampf, ihrer unentschlossenen Haltung gegenüber brennenden Problemen in der polnischen und europäischen Politik und in der schlichten Unterschätzung ihres politischen Gegners. PiS dagegen sei es gelungen, viele Wähler mit unrealistischen Wahlversprechen zu ködern und in der europäischen Flüchtlingskrise die Angst vor den Fremden und das Gefühl sozialer Ungerechtigkeit im Land für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.

Wie viel »Budapest« liegt in Warschau? Diese Frage stellen sich gegenwärtig nicht nur die polnischen Beobachter des politischen Lebens, sondern auch viele Kommentatoren im Ausland. Eine recht wichtige Frage, denn sie betrifft auch die allgemeinen Trends in Europa als Ganzem. Lässt sich auch der undemokratische, antiliberale Kurs der Regierung eines einzelnen EU-Mitgliedslandes noch bagatellisieren, stellt dies doch bei einem weiteren Land, das wirtschaftlich und zahlenmäßig fast viermal so stark ist, schon ein gewichtigeres Problem dar. Beginnen wir jedoch mit der wesentlichen Feststellung: So sehr »Budapest« auch das Recht hat, sich in Budapest seit dem Jahr 2010 zu offenbaren, zumal sich Ungarn in der gesamten Posttransformationsphase im Vergleich zu den anderen Ländern der Region, insbesondere zu Polen, recht langsam entwickelt hat, so sehr zeigt sich »Budapest« in Warschau doch eher ohne offenkundige Gründe – mit Sicherheit nicht aus wirtschaftlichen: Polen hat sich in den letzten acht Jahren unter der Regierungskoalition aus liberal-konservativer Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO) und agrarischer Polnischer Bauernpartei (Polskie Stronnictwo Ludowe – PSL) am schnellsten in Europa entwickelt. Der kumulative Anstieg des Bruttoinlandsprodukts betrug 24 Prozent, die Inflation ist niedrig und unter Kontrolle, die Arbeitslosenquote fiel gerade in den einstelligen Bereich, der Human Development Index (HDI) entwickelt sich hervorragend, die Lebenserwartung steigt und im Juni wurde das von der EU seit 2009 gegen Polen geführte Verfahren wegen übermäßiger Verschuldung des öffentlichen Haushalts eingestellt. All dies schien auf einen leichten Wahlsieg der Regierungskoalition hinzuweisen, der ersten Koalition, die zwei ganze Wahlperioden bestanden hatte und deren Zusammenarbeit sich als vorbildlich bezeichnen lässt. Zu diesem Wahlsieg kam es allerdings nicht, das Verdikt der Wähler fiel anders aus, so dass Polen in den kommenden vier Jahre von einer Partei regiert werden wird, deren ideologische Identität nicht leicht zu fassen ist, denn sie besteht aus einer Mischung aus Traditionalismus (im kulturellen Bereich), Populismus (im Bereich der Wirtschaft) und Nationalismus. Wie kam es nun dazu? Die Gründe für den Sieg von quasi drei rechten Parteien – de facto einer Koalition – mit Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) an der Spitze, müssen gleichermaßen im Wahlverfahren, im enormen Engagement der Aktivisten und der Firmen, die eine gut durchdachte Wahlkampagne organisiert haben, sowie in rein politischen Gründen gesucht werden, wobei letztere meiner Meinung nach keine Schlüsselbedeutung hatten.

Der Wähler stimmt für radikale Veränderungen

Beginnen wir mit der Kommentierung des Wahlergebnisses. In den internationalen Medien wurde darüber diskutiert, dass in Polen diejenige Partei, um deren demokratische Tugenden viele bangen, die allgemeine Unterstützung der Polen erhalten habe. Wie sieht es aber in Wirklichkeit aus? 37,6 Prozent Unterstützung für PiS bei einer Wahlbeteiligung von 51 Prozent bedeutet, dass sich knapp 19 Prozent der wahlberechtigten Polen durch Wahl für PiS ausgesprochen haben. Anders betrachtet, haben es 81 Prozent der Polen aus unterschiedlichen Gründen nicht für angebracht gehalten, diese Partei zu unterstützen, sei es aus dem Grund, dass sie für eine andere Partei gestimmt haben, oder dass sie das Angebot von PiS nicht ausreichend attraktiv fanden, um an einem schönen Sonntag Zeit zu investieren und diese Partei auf dem Weg zur Macht zu unterstützen. Um es klar zu sagen: PiS hat die Wahlen eindeutig gewonnen und hat die unbestrittene Legitimation, das Land zu regieren. Auf der anderen Seite stellt sich die angeblich so große Unterstützung der Polen in absoluten Zahlen anders dar. Im Ergebnis steht PiS die Regierungsverantwortung zu, aber das Vorhaben, die konstitutionelle Ordnung des Landes zu ändern, steht ihr keineswegs zu. Hierfür bedürfte es einer deutlich größeren gesellschaftlichen Unterstützung, und auch die Verfassung legt klar fest, welche parlamentarischen Verhältnisse notwendig sind, um das System zu ändern. Die Wahlergebnisse lassen sich aber auch als Ausdruck der Unzufriedenheit mit dem aktuellen System interpretieren, denn außer für PiS stimmten die Polen für zwei weitere Gruppierungen, die radikale Veränderungen wollen, nämlich für Kukiz ‘15 und KORWiN – insgesamt erhielten diese drei Parteien über die Hälfte der abgegebenen Stimmen. Wären diese drei zusammen im Parlament vertreten (KORWiN verfehlte die Fünf-Prozent-Hürde), hätten sie zwar immer noch nicht die konstitutionelle Mehrheit von mehr als 307 Mandaten, sie könnten aber bereits versuchen, die Verfassung zu ändern. Es wäre allerdings sehr zweifelhaft, dass sie sich auf gemeinsame Ziele einigen könnten, außer dem, in Polen ein Präsidialsystem einzuführen.

Verluste im gemäßigten Zentrum

Das Lager des gemäßigten Zentrums besteht vor allem aus der Bürgerplattform und aus der Partei Die Moderne (Nowoczesna), die aus der Unzufriedenheit mit den Unterlassungen in der Politik der PO hervorging, mit dem Wunsch, eine liberalere Wirtschaftspolitik in Polen zu entwickeln. Die Daten der Befragungen vor den Wahllokalen zeigen, dass über zwei Drittel der Wählerschaft von Die Moderne PO-Wähler aus dem Jahr 2011 sind. In aller Verkürzung kann man sagen, dass Die Moderne ein Programm lanciert, das dem der PO in ihrer Entstehungsphase 2001 sehr ähnlich ist. Nicht zufällig wurde ihr auch zahlenmäßig eine ähnliche Unterstützung zuteil. Das Problem solcher (wirtschafts)liberalen Parteien in einem konservativen Land besteht darin, dass die Unterstützung für sie gewöhnlich bei bis zu 15 Prozent liegt; keine von ihnen war in den 25 Jahren der Posttransformationsphase imstande, diese Marke zu überwinden. Zum gemäßigten Zentrum gehört auch die agrarisch fokussierte PSL, der bisherige Koalitionspartner der PO. Ihr Wahlergebnis erlaubt ihr den Einzug ins Parlament mit einer eher symbolischen Repräsentation von 16 Abgeordneten. Es ist ihr schlechtestes Ergebnis seit dem demokratischen Umbruch und erweist sich insofern als sehr wichtig, als es zeigt, dass die Rivalität zwischen der PSL und PiS auf dem Land ein Nullsummenspiel war – was die eine Partei gewonnen hat, hat die andere verloren. Auf dem Land hat sich der Sieg der (Koalition von) PiS über die Koalition aus PO und PSL entschieden. Das schwache Ergebnis der PSL ist recht erstaunlich, da sie tief in der ländlichen Bevölkerung verwurzelt ist und sie außerdem in ihrem Wesen und in ihren Beziehungen zu ihrer Wählerschaft eine Klientelpartei ist. Das Jahrzehnt der Mitgliedschaft Polens in der Europäischen Union war eine Dekade des Geldflusses aus der EU nach Polen, insbesondere in die polnische Provinz und aufs Land, also zu den polnischen Landwirten. Die PSL hat in den vergangenen Jahren alles daran gesetzt, dass der Landwirt den trügerischen Eindruck gewann, dass die Gelder, die er erhält, EU- und PSL-Gelder sind. Dieses Mal allerdings hat das polnische Dorf den Versprechen von PiS geglaubt, dass man aus der Europäischen Union mehr Geld herauspressen und sich noch schneller entwickeln könne. Die Botschaft der PiS in ihrem Wahlkampf auf dem Land war außerordentlich aggressiv und suchte die in ökonomischen Dingen wenig bewanderte ländliche Bevölkerung davon zu überzeugen, dass ihr schweres Los nicht so sehr das Ergebnis der historischen Rückständigkeit der polnischen ländlichen Gebiete und der prozeduralen Schwierigkeiten, Gelder zu erhalten, sei, sondern das Ergebnis der zielgerichteten Handlungen der liberal-kosmopolitischen Elite, die den polnischen Landwirten gegenüber feindlich eingestellt sei. Jetzt warten einige Millionen Landbewohner auf eine rasche Verbesserung ihres Schicksals.

Das gemäßigte Zentrum der polnischen politischen Bühne hat noch eine weitere Partei verloren, die Demokratische Linksallianz (Sojusz Lewicy Demokratycznej – SLD). Sie hatte dieses Mal beschlossen, als Parteienbündnis mit mehreren anderen linken Gruppierungen in den Wahlkampf zu gehen. Es fehlte nicht viel (0,45 Prozent) für den Einzug ins Parlament. Tatsächlich wird in den kommenden vier Jahren keine Partei mit einem ausgeprägt linken Programm vertreten sein, denn auch die neu entstandene, von ambitionierten jungen Menschen organisierte Partei Gemeinsam (Razem) ereilte das Schicksal, den Einzug in den Sejm zu verfehlen. Die Politik erträgt keine Lücken – es sieht also so aus, dass eine der Zentrumsparteien die Interessen des linken Spektrums wird vertreten müssen. Doch obwohl ein Teil des Wirtschaftsprogramms der PiS recht gut die Erwartungen von Menschen mit linken Präferenzen widerspiegelt, ist letztlich nicht klar, ob und welche Versprechen PiS tatsächlich halten wird. Diese Zweifel werden aus den Erfahrungen der Jahre 2005 bis 2007 genährt, als PiS die Parlamentswahlen unter dem Motto »Solidarismus« (im Gegensatz zu »Liberalismus«) gewonnen und versichert hatte, dass eine Priorität ihrer Regierung soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und die Umverteilung des Reichtums in Richtung der weniger wohlhabenden sozialen Schichten sei. In der Realität wurden nicht viele der Versprechen in der zweijährigen Regierungszeit umgesetzt.

Auch die PSL könnte sich ausgewählter Aspekte linker Erwartungen im wirtschaftlichen Bereich annehmen, insbesondere was die soziale Sicherheit der Landbevölkerung angeht, und in gewissem Sinne auch Kukiz ‘15, andererseits ließ letztere kein kohärentes Wirtschaftsprogramm verlauten. Dagegen gibt es im künftigen Parlament niemanden, der geneigt wäre, die soziokulturellen Werte der Linken zu verteidigen. Denn auch wenn die PO und Die Moderne sich mit Sicherheit einem Rückfall in den religiösen Fundamentalismus und fremdenfeindlichen Botschaften entgegenstellen und sich gegen die offene Ablehnung anderer Denk- und Lebensstile wehren werden, besteht doch in den polnischen politischen Eliten eine große Angst vor der katholischen Kirche, wovon auch die Politiker dieser beiden Parteien nicht frei sind. Diese Mutmaßungen betreffen die ersten ein, zwei Jahre nach der Wahl, für die Zeit danach lassen sich dann mutigere Hypothesen über die Vertretung aufgeklärter oder linker Werte durch die PO und Die Moderne vertreten.

Über die Dynamik in den Wahljahren 2014 und 2015

Alle diskutieren heute darüber, wie der Sieg von PiS zu verstehen sei. Mir scheint, dass man eher versuchen muss, die Niederlage der PO-PSL-Koalition zu erklären, denn für Politologen ist es eine unumstößliche Tatsache, dass Regierungen bei solchen guten Wirtschaftsdaten eigentlich nicht verlieren. Blicken wir also auf das Jahr 2014 zurück, als zuerst die Wahlen zum Europäischen Parlament stattfanden und einige Monate später die Wahlen auf Selbstverwaltungsebene. Erstere zeitigten einen nur knappen Sieg der PO über PiS, aber das Wahlergebnis von PO und PSL zusammen ließ ihre Mehrheit als garantiert erscheinen. Die Wahl des Europäischen Parlaments wird in der Politikwissenschaft wegen ihres geringen Gewichts und der Intransparenz für die Wählerschaft allerdings als »Wahl zweiter Klasse« bezeichnet, was bei niedriger Wahlbeteiligung kleinen und oppositionellen Parteien immer einen Vorsprung verschafft. Kurz gesagt, wird die Wahl zum Europäischen Parlament als Gelegenheit betrachtet, der Regierung die »gelbe Karte« zu zeigen und seine Unzufriedenheit und Erwartungen an eine bessere Regierungstätigkeit in der Zukunft zum Ausdruck zu bringen. Diese kontrollierte Bestrafung der eigenen Partei fällt umso leichter, als die Wahl als wenig wichtig beurteilt wird und nur wenige sich mit ihren Ergebnissen auseinandersetzen.

Anschließend, im Herbst 2014, fanden die Selbstverwaltungswahlen statt, in denen – gemessen an der Unterstützung der Wähler – PiS zwar nur unwesentlich gewonnen hat, die PO aber mehr Mandate in den Landtagen der Woiwodschaften erlangte und die Regierung in den 50 größten Städten Polens übernahm. Diese beiden Wahlen führten also zu einem »unentschieden«.

Im Jahr 2015 begann der mehrmonatige Wahlkampf für das Amt des Staatspräsidenten. Der Amtsinhaber, Bronisław Komorowski, erfreute sich sehr großen Vertrauens in der Bevölkerung und erreichte in den Umfragen gewöhnlich um die 70 Prozent, so dass die einzige Frage zu sein schien, ob er im ersten Wahlgang wiedergewählt würde oder ob ein zweiter Wahlgang nötig sei. In dieser Situation entschied sich der Vorsitzende von PiS, Jarosław Kaczyński, der sich keiner Niederlage aussetzen wollte, den wenig bekannten PiS-Politiker Andrzej Duda zur Wahl zu stellen, der aber bereits über einige Praxiserfahrungen als Unterstaatssekretär in der Präsidentenkanzlei in den Jahren 2005 bis 2010 verfügte. Dabei war das Ziel von PiS, mit Hilfe von Duda das bestmögliche Ergebnis zu bekommen. Ihr Wahlkampf wurde außerordentlich präzise geplant, die Stimmung der Polen hervorragend diagnostiziert und die Bereitschaft, Versprechungen jedweder Art zu machen, durch nichts gehemmt. Hier sei nur erwähnt, dass nach Schätzungen von Wirtschaftsexperten die von Duda gegebenen Versprechen zirka 300 Milliarden Zloty kosten würden, während sich die von Komorowski in den Grenzen von 30 Milliarden bewegen würden – ein vielsagender Unterschied. Die PO engagierte sich zu Beginn des Wahlkampfs nicht für den amtierenden Präsidenten, sei es aus dem Gefühl heraus, dass der Erfolg Komorowskis sicher sei, sei es aus Angst vor seiner zu starken Position im Falle eines Sieges im ersten Wahlgang. Als Duda begann, in den Meinungsumfragen deutlich zuzulegen, war es bereits zu spät. Komorowskis Niederlage löste eine Lawine aus – aber in der Demokratie liegt das Recht auf der Seite der statistischen Mehrheit. Kurz und gut: Die Niederlage Komorowskis war so unerwartet wie unbegründet – im Sinne einer fehlenden substantiellen Grundlage. Allerdings gab es Verfahrensgründe, eine gewisse Arroganz gegenüber bestimmten Problemen, die Unterschätzung der politischen Gegner und schließlich die Unfähigkeit, das eigene Amt einzusetzen und die Vision der Kandidatur als parteigebundene, von der PO unterstützte, einzubringen.

Gründe für den Wechsel

Regierungswechsel nach Wahlen haben in den postkommunistischen Ländern fast ein universelles Muster. Polen stellte da keine Ausnahme dar; die Regierung aus PO und PSL war die erste, die länger als vier Jahre regierte. Einerseits regieren in dieserart jungen Demokratien die Parteien und Regierungskoalitionen nicht unbedingt in Übereinstimmung mit den Präferenzen der Wähler, andererseits – und das ist meiner Meinung nach wichtiger – haben wir es hier mit einem nicht allzu reifen Staatsbürger zu tun. Dieser Bürger fordert von den Politikern viel, er bewertet ihre Handlungen äußert kritisch und gleichzeitig versteht er nicht vollständig die Kausalzusammenhänge in der komplizierten Maschinerie der heutigen Welt. Mehr noch, dieser Bürger scheint sich von den Versprechen der Parteien verführen zu lassen, er hält sie unkritisch für realistisch, um nach anschließender bitterer Enttäuschung die Politiker noch inadequater zu beurteilen. Bei den aktuellen Parlamentswahlen in Polen war es ähnlich. Die Oppositionspartei, die teilweise auf tatsächlich ungelöste Probleme reagierte (Stichwort Gesundheitswesen, Arbeitslosigkeit unter jungen Menschen, Wohnungskredite usw.) und sich zum Teil auf ausgedachte Geschichten stützte (Smolensk, »das Land in Trümmern«, Korruption der Regierung), drängte dem potentiellen Wähler die Erzählung von der großen Wende auf, die sich auf großartige Versprechungen stützte (Kindergeld, kostenlose Medikamente für Rentner, Erhöhung des Mindestlohns, Senkung des Renteneintrittsalters usw.). Es hat sich gezeigt, dass das wirkte. Auf der anderen Seite war der Wahlkampf der Regierungsparteien schwach und farblos, er berücksichtigte nicht die Stimmungen in der Gesellschaft und vor allem war er nicht in der Lage, die Argumente von PiS zu widerlegen. PO und PSL reagierten auch nicht auf die inhaltlich-fachliche Kritik von Parteien wie Die Moderne, ebenso wenig wie sie die destruktive, radikale Narration von Paweł Kukiz für sich auszunutzen verstanden.

Von Bedeutung für den Wahlkampf waren auch die globale Krise, insbesondere die Flüchtlingskrise und die Europäische Union selbst sowie die fehlende Vision, wie unser Kontinent in Zukunft aussehen soll. Und obgleich die Polen immer noch, im Vergleich zu anderen Europäern, sehr europabegeistert sind, ist doch ein Körnchen Unruhe mit Blick auf die Führungsrollen von Brüssel, Berlin und Paris gesät worden. Die Regierung und die PO zeigten sich gegenüber den Migranten sehr unentschlossen, PiS dagegen zeigte sein fremdenfeindliches Gesicht, indem sie nicht nur gegen die auferlegte Quote protestierte, sondern auch mit dem Argument des Verlustes von Arbeitsplätzen und der Bedrohung der kulturellen Identität Polens erschreckte sowie – Anlass zur Scham – mit dem Argument des PiS-Vorsitzenden, dass der Nation eine epidemiologische Gefahr drohe. In Polen, mit einer sowohl ethnisch als auch religiös homogenen Gesellschaft, sind die täglichen Erfahrungen mit Migranten ziemlich begrenzt, daher erwies sich das Schüren von Ängsten mit Hilfe der Fremden als wirksam, obwohl wir in der jüngsten Vergangenheit konfliktfrei mit der Aufnahme von fast 100.000 tschetschenischen Flüchtlingen zurechtgekommen sind und darüber hinaus mehr als eine halbe Million Ukrainer, die in Polen arbeiten, unter uns leben. Allerdings sind die täglichen Erfahrungen mit Fremden, mit denen wir kooperieren und die wir akzeptieren, etwas anderes als die politisch aufgeladenen Manipulationen gegenüber dem abstrakten Fremden.

Von allen Seiten drängen nun Fragen hervor, was all dies für die Demokratie in Polen bedeutet und ob eine Gefahr für sie besteht. Viele sehen Parallelen zwischen den Plänen von PiS und den Reformen von Viktor Orbán in Ungarn, angefangen von der Beschränkung der Autonomie der Polnischen Nationalbank (Narodowy Bank Polski – NBP) über die Verringerung der Bedeutung des Verfassungsgerichts bis zur Absicht, die frei und fair verlaufenen Selbstverwaltungswahlen vom Herbst 2014 in Frage zu stellen. Das sind die Vorhaben nach innen. In der Außenpolitik kann man, wenn man die Ankündigungen ernst nimmt, höchstwahrscheinlich eine deutlich größere Distanz gegenüber der EU erwarten. Nicht ohne Grund gehört PiS zusammen mit den britischen und tschechischen Konservativen zum europaskeptischen Parteienspektrum im Europäischen Parlament, mit starken antideutschen Akzenten. Was allein unsere Außenpolitik von anderen EU-skeptischen Konservativen deutlich unterscheiden wird, sind die Antipathie gegenüber Russland und in der Folge Versuche, eher exzentrische Bündnisse mit Litauen, der Ukraine, Moldau und Georgien einzugehen. Nicht zu sehen sind dagegen deutliche Vorschläge, sich der Welt zu öffnen. Darüber hinaus wird die polnische Politik entschieden proamerikanischer, insbesondere wenn in Washington die Republikaner wieder die Macht übernehmen sollten.

Die Ergebnisse der Parlamentswahlen 2015 berechtigen uns zurzeit nicht zu der Feststellung, dass Polen eine ähnliches antiliberales Fieber erlebt wie Ungarn unter Orbán, dafür gibt es meiner Überzeugung nach keine stichhaltigen Gründe, und auch die nostalgischen Gefühle in Hinblick auf die Reaktivierung der polnischen Diaspora in den Nachbarländern sind schwächer als in Ungarn und bei den Beziehungen Ungarns zu den Landsleuten in den Nachbarländern. Unübersehbar ist jedoch die enorme mobilisierende Effektivität von PiS, die bisher zur Opposition gehörte, und die Begabung, die Meinungen der Menschen über die Wirklichkeit zu verändern, sogar wenn objektive Daten etwas anderes kommunizieren.

Eine überprüfenswerte Hypothese ist, dass die Polen nach 25 Jahren praktizierter (vielleicht nicht perfekter, aber immerhin) Demokratie ihr Verhältnis zu zwei grundlegenden Werten verändert haben – zur Freiheit und zur Gleichheit. Erstere wurde uns zur Alltäglichkeit; wir haben aufgehört, sie wertzuschätzen und zu pflegen, vielmehr betrachten wir sie als dauerhaft und aus unserer politischen Landschaft nicht entfernbar. Manche von uns – die konservativeren und religiöseren, neigen sogar dazu zu sagen, dass es zuviel Freiheit gibt und die aus ihr abgeleiteten Veränderungen zu plötzlich eintreten. Anders verhält es sich mit der Gleichheit. Hier haben viele Polen ein Hungergefühl und das trotz zahlreicher Makroindikatoren, die zeigen, dass die Armut zurückgeht und die Einkommensungleichheiten zwischen 2002 und 2013 deutlich gesunken sind. Aber erstens ist Gleichheit vielschichtiger und zweitens naturgemäß relational. Die älteren Polen vergleichen sich damit, wie sie im real existierenden Sozialismus gelebt haben bzw. gleich nach der Transformation mit der Situation in den Nachbarländern. Heute macht es insbesondere auf die jungen Menschen gar keinen Eindruck, dass sie deutlich besser leben als die Ukrainer, die Kroaten oder die Bulgaren und dass wir in schnellem Tempo die Ungarn und die Tschechen eingeholt und überholt haben. Sie vergleichen sich mit den Deutschen, den Niederländern und den Briten und sehen, dass die Distanz immer noch groß ist. Sie sehen das ganz richtig, aber es fehlt ihnen die angemessene Bewertung der Ontologie der Zeit, es fehlt ihnen auch die Geduld und die realistische Einschätzung, was man in 25 Jahren vollbringen kann – auch wenn es für Polen außergewöhnlich erfolgreiche Jahre waren, was ihnen sicherlich später deutlich werden wird.

Folglich lauten die polnischen Fragen für die nächste Zukunft: Wird die neue Regierung mit dem von einem Teil der Polen schmerzhaft empfundenen Gefühl der Ungleichheit zurechtkommen (und wie) und – die wichtigste Frage – sehnen wir uns nach Freiheit?

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

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