Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik in Polen

Von Maciej Duszczyk (Universität Warschau, Warschau)

Zusammenfassung
Die weltweite Finanzkrise, die 2007 begonnen hat, wirkte sich bald auf die Arbeitsmarktsituation der einzelnen Staaten aus und legte die Schwächen der von ihnen jeweils betriebenen Arbeitsmarktpolitik bloß. In den Jahren 2008–2011 kam es in praktisch allen hochentwickelten Staaten der Welt zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit sowie zu einem Rückgang der Zahl der Arbeitsplätze. Erstmals seit längerer Zeit war die Zahl der neu geschaffenen Arbeitsplätze wesentlich niedriger als die der abgebauten. Besonders stark waren zwei soziale Gruppen von der Arbeitslosigkeit betroffen, Jugendliche und ältere Menschen. Sie vor allem sind die Leidtragenden der gegenwärtigen Wirtschaftsentwicklung.

Polen ist das einzige Mitgliedsland der Europäischen Union, das bisher nicht nur die Krise, sondern auch eine wirtschaftliche Rezession vermieden hat. Die statistischen Indikatoren zeigen eindeutig, dass es auch gelungen ist, einen dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit und einen Beschäftigungsabbau, also die schmerzhaftesten Folgen für die Gesellschaft, zu verhindern. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Situation am Arbeitsmarkt zufriedenstellend ist und Polen in diesem Bereich keine Probleme hat. Dieses Bild wäre falsch. Deshalb soll im Folgenden versucht werden, sowohl die Besonderheiten des polnischen Arbeitsmarkts gegenüber dem anderer Staaten, die Veränderungsprozesse, die nach 1989 auf ihn einwirkten, und seine Vorzüge, die ihn heute mit der wirtschaftlichen Abschwächung zurechtkommen lassen, aufzuzeigen, als auch die Schwachstellen, die sich in Zukunft negativ auswirken könnten. Ziel ist es, eine fundierte Beurteilung des Arbeitsmarkts in Polen vorzunehmen und über seine wichtigsten Herausforderungen für die kommenden zehn oder sogar zwanzig Jahre nachzudenken.

Eingangs ein wenig Geschichte

Das Ende des Ersten Weltkriegs brachte Polen die wieder errungene Unabhängigkeit. Die neuen Behörden sahen sich der Notwendigkeit gegenüber, die polnische Staatlichkeit wiederherzustellen. Eine der ersten Entscheidungen war die Gründung einer Institution, die die Arbeitslosigkeit bekämpfen sollte. Kaum drei Monate nach Ausrufung der Unabhängigkeit – am 27. Januar 1919 – erließ das Staatsoberhaupt Józef Piłsudski das »Dekret über die Einrichtung staatlicher Ämter zur Arbeitsvermittlung und Betreuung von Heimkehrern«. Für jene Zeit war dies ein sehr modernes Dokument, das u. a. die Einführung eines allgemeinen Zugangs zur Arbeitsvermittlung vorsah. Polen war im Europa der Zwischenkriegszeit einer der ersten Staaten, die sich zu einem solchen Schritt entschlossen, und nahm eine große Verantwortung auf sich, den Arbeitslosen zu helfen. Sehr wichtig war, dass der Zugang zu den Arbeitsämtern für die Bürger kostenlos war. Die damals in Polen gesetzten Standards wurden von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) übernommen, die einige Monate später entstand.

Diese positive und innovative Neuerung der Zweiten Republik im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und für eine Arbeitsmarktpolitik, die mit dem gesellschaftlichen Interesse im Einklang stand, wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von den kommunistischen Machthabern nicht übernommen. Stattdessen wurde die Beschäftigungspolitik einer neuen politischen Doktrin untergeordnet. Praktisch alle Produktionsmittel befanden sich in Händen des Staates. Der Staat war auch der wichtigste Arbeitgeber. Die nach 1945 getroffenen Entscheidungen führten u. a. zur Abschaffung der (vor dem Krieg z. B. durch Gewerkschaften und soziale Organisationen eingeführten) Arbeitsvermittlung auf privater und gesellschaftlicher Ebene.

Das Ende der zentral gelenkten Planwirtschaft nach 1989 machte sofortige Veränderungen im Bereich der Arbeitsmarktpolitik und bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit notwendig. Bereits im Dezember 1989 nahm das polnische Parlament das umfassende »Gesetz über die Beschäftigung« an, mit dem Ziel, die Institutionen, die sich dem Kampf gegen die Arbeitslosigkeit widmeten, neu zu organisieren und das Beschäftigungswachstum zu fördern.

Die Arbeitsmarktpolitik war auch Thema einer Diskussion, die in der Zeit der Verabschiedung der neuen polnischen Verfassung 1997 stattfand. Schließlich einigte man sich auf die Formulierung, wonach jedem Bürger die Freiheit der Berufs- und Arbeitsplatzwahl zugesichert wurde. Außerdem wurde beschlossen, dass »der Staat eine Politik betreibt, die auf produktive Vollbeschäftigung durch Realisierung von Programmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ausgerichtet ist, unter anderem durch die Einrichtung und Förderung von Beratungs- und Fortbildungseinrichtungen sowie staatliche Arbeits- und Eingliederungsmaßnahmen«.

Die Institutionen, die die Arbeitsmarktpolitik umsetzen, wurden in ihrer gegenwärtigen Form 1999 als Teil der Dezentralisierungsreform beschlossen. Sie basieren auf einer Koppelung von zentralen und dezentralen Maßnahmen, wobei für eine lokale Arbeitsmarktpolitik die jeweiligen kommunalen Gremien verantwortlich sind, während die Zentralverwaltung Mittel für deren Durchführung bereitstellt und sich um hohe Standards im Bereich der Arbeitsmarktdienstleistungen kümmert. Reformen bei den Arbeitsämtern stärkten die Effektivität auf lokaler Ebene.

Drei Phasen der Veränderungen auf dem polnischen Arbeitsmarkt nach 1989

Das Hauptziel Polens nach 1989 war die Mitgliedschaft in der Europäischen Union, was nicht möglich gewesen wäre ohne die Schaffung einer konkurrenzfähigen Wirtschaft, die imstande war, am gemeinsamen Binnenmarkt teilzunehmen. Ausschlaggebend für die Erreichung dieses Ziels war ein Erfolg der wirtschaftlichen und sozialen Reformen. Dies musste jedoch dazu führen, dass Arbeitsplätze abgebaut und dafür neue geschaffen wurden. Vorübergehend kam es zu einem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit. Ein wesentlicher Faktor, der die Situation auf dem Arbeitsmarkt beeinflusste, waren auch die Demografie und der Eintritt geburtenstarker und -schwacher Jahrgänge in den Folgejahren.

Aus der Analyse der Veränderungen auf dem polnischen Arbeitsmarkt ergibt sich eine Unterscheidung in drei Phasen: Transformation, Integration und Globalisierung.

Die erste Phase begann 1989 und war verbunden mit der Transformation der zentralen Verwaltungswirtschaft in eine freie Marktwirtschaft. Infolge der vielen Reformen stieg die Arbeitslosigkeit stark an. Die Arbeitslosenrate betrug 1993 fast 17 %. Danach kam es zu einer Stabilisierung, ja sogar zu einem starken Rückgang der Arbeitslosigkeit, die 1997 kaum noch 10 % betrug. Leider wuchs in dieser Zeit die Beschäftigung fast gar nicht. Diese Phase dauerte bis etwa 1997, also bis zum Beginn der direkten Vorbereitungen des EU-Beitritts.

Die zweite Phase der Veränderungen auf dem polnischen Arbeitsmarkt stand bereits in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Beitritt Polens zur Europäischen Union. Die Notwendigkeit, die in der EU geltenden Regelungen etwa zum Umweltschutz oder zu Arbeitssicherheit und Arbeitsschutz zu akzeptieren, war eine sehr große Herausforderung, besonders für kleine und mittlere Unternehmen. Die überwiegende Mehrheit von ihnen bewältigte sie und passte sich schnell den neuen Anforderungen an. Es kam aber auch vor, dass Unternehmen bankrottgingen, weil sie die Kosten der Umstrukturierung nicht tragen konnten. Auch Großunternehmen schränkten in dieser Zeit die Beschäftigung ein. Dazu kam, dass die geburtenstarken Jahrgänge der in den siebziger Jahren und Anfang der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts Geborenen auf den Arbeitsmarkt drängten. Infolge dieser einander überlagernden Prozesse kam es zu einem sehr starken Anstieg der Arbeitslosigkeit. Die Arbeitslosenquote in den Jahren 2002–2003 betrug fast 20 % und war damit die höchste in der Geschichte Polens.

Die dritte Phase der Veränderungen auf dem polnischen Arbeitsmarkt begann mit dem Beitritt zur Europäischen Union. Die von den einzelnen Regierungen durchgeführten Reformen und die Überzeugung einer überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung, dass der eingeschlagene Kurs richtig war, resultierten in einem schnellen Wirtschaftswachstum, das sich auch in einer Verbesserung der Arbeitsmarktsituation widerspiegelte. Die Arbeitslosenquote begann sehr schnell zu fallen und betrug Mitte 2008 kaum 9 %. Dies war die niedrigste Arbeitslosenquote seit 1990. Außerdem wuchs auch die Beschäftigung schnell. Ende 2010 gab es in Polen die höchste Zahl an Arbeitsplätzen seit 1989, und das trotz der hohen Auswanderungszahlen nach dem EU-Beitritt. Positive Faktoren neben der guten Vorbereitung waren auch der Zustrom von EU-Kohärenzmitteln, Transferzahlungen von im Ausland beschäftigten Arbeitnehmern an ihre in Polen lebenden Familien sowie der dynamische Exportzuwachs in die übrigen EU-Länder, der eine Folge vorangegangener Investitionen durch polnische wie auch ausländische Firmen war. Diese Phase wird von Fachleuten »Globalisierungsphase« genannt, weil die wichtigste Herausforderung in ihr die Aufrechterhaltung der positiven Trends bei der wirtschaftlichen Entwicklung und auf dem Arbeitsmarkt in einer sich immer mehr globalisierenden Welt sowie das Finden des eigenen Platzes innerhalb der EU waren. Den polnischen Erfolg nach dem EU-Beitritt belegt auch die Tatsache, dass die positiven Tendenzen auf dem Arbeitsmarkt aufrechterhalten wurden, trotz einer Rezession in vielen anderen Ländern, die Polens engste Wirtschaftspartner sind. Die Arbeitslosenquote wuchs zwar Ende 2011 auf über 12 %, zugleich ging aber die Beschäftigtenzahl nicht zurück, was ein sehr gutes Signal für die Zukunft ist. Zu berücksichtigen ist dabei jedoch, dass trotz einer Zunahme der Aktivität auf dem Arbeitsmarkt in Polen, die seit 2004 zu beobachten ist, diese immer noch um einige Prozentpunkte niedriger ist als in anderen EU-Ländern. Natürlich kann gegenwärtig niemand vorhersehen, wie die Entwicklung weiter verläuft. Einen positiven Einfluss auf die Arbeitsmarktsituation 2011 hatten sicher die Investitionen, die mit der Organisation der Fußballeuropameisterschaft verbunden waren. Nach dem Ende der EM und des Abschlusses weiterer Investitionen könnte es zu einer Verschlechterung der Situation kommen. Zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Textes dauert das polnische Wirtschaftswunder an, und bis auf Weiteres ist der Beginn einer neuen Phase von Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt nicht in Sicht.

Die gegenwärtige Lage

In den Jahren 2011 und 2012 war Polen in den Medien Europas und der ganzen Welt praktisch ständig präsent. Zuerst zeigte die polnische EU-Ratspräsidentschaft, dann die »Euro 2012« und die damit verbundene Organisation Polen von seiner besten Seite. Dabei ist es wohl gelungen, viele Stereotype zu überwinden und selbst bei vielen Skeptikern das Bild eines leistungsfähigen und ausländerfreundlichen Landes zu verankern, das wirtschaftlich gut zurechtkommt und auf alle Herausforderungen vorbereitet ist. Jetzt dürfte ein guter Zeitpunkt sein, um dieses Interesse zusätzlich zu nutzen und das Wissen über Polen und den polnischen Arbeitsmarkt zu vertiefen. Betrachten wir also die gegenwärtige Situation in diesem Bereich.

Regionale Unterschiede

Die Situation auf dem polnischen Arbeitsmarkt ist viel komplizierter, als dies aus den gesamtpolnischen Daten herauszulesen ist, die einen Anstieg oder Rückgang der Arbeitslosenquote, der Beschäftigung oder der Wirtschaftsaktivität zeigen. Haupteigenschaft des Arbeitsmarkts in Polen ist nämlich seine regionale Differenzierung. Einerseits haben wir es mit Regionen zu tun, in denen es praktisch kein Problem mit Stellenangeboten gibt und sich die Löhne nicht viel vom europäischen Durchschnitt unterscheiden. Andererseits finden sich sehr leicht Orte in Polen, wo Massenarbeitslosigkeit herrscht und die Löhne kaum das Niveau des Mindestlohns überschreiten (dieser liegt gegenwärtig bei ca. 400 €). Das ist eine der größten Herausforderungen, vor denen die Arbeitsmarktpolitik steht. Es ist eine typische Situation auch für viele andere europäische Staaten, wie etwa Spanien, Großbritannien, Frankreich oder Deutschland. Im Falle Polens gibt es jedoch eine zusätzliche Besonderheit. Denn eine differenzierte Analyse der Arbeitsmarktsituation zeigt, dass wir es mit einem sogenannten »Inselcharakter der Arbeitsmarktentwicklung und -situation« zu tun haben. Das bedeutet, dass es in fast allen polnischen Regionen Orte gibt, an denen die Situation gut oder sogar sehr gut ist (die sogenannten Inseln), diese jedoch von Kommunen umgeben sind, in denen die Situation genau entgegengesetzt ist. So beträgt beispielsweise in Warschau, Danzig, Posen oder Krakau die Arbeitslosenquote 4–5 %, in 50–60 km Entfernung finden wir jedoch Orte mit 20 oder sogar 30 %. Ein sehr gutes Beispiel ist die Woiwodschaft Masowien, in der sich die Region mit der höchsten (Szydłowiec – 36,7 %) und der niedrigsten (Kreis Warschau – 4,0 %) Arbeitslosenquote befindet. Neben den traditionellen Ursachen von Arbeitslosigkeit wie dem niedrigen Qualifizierungsniveau oder der mangelnden Bereitschaft zur Arbeitsaufnahme wirken sich hier das geringe Angebot an preiswertem Wohnraum in den Großstädten sowie das schlechte regionale Straßennetz und das unterentwickelte Eisenbahnsystem zwischen den einzelnen Regionen aus. In letzter Zeit gibt es hier Verbesserungen durch den Bau von Schnellstraßen und Autobahnen, aber das ist entschieden zu wenig. Benötigt werden mehr lokale Verkehrswege und Kommunikationsverbindungen. Ziel der Regierung ist es, dass man im Jahr 2030 innerhalb von 60 Minuten von jedem Ort Polens in eine größere Stadt gelangen kann. Wenn es gelingt, dieses Ziel zu realisieren, dann werden sich die Unterschiede bei der Situation auf dem Arbeitsmarkt auch verringern. Bis dahin ist es jedoch noch ein weiter Weg.

Sondergruppen auf dem Arbeitsmarkt

Immer mehr Staaten gelangen zu der Überzeugung, dass sie in Zukunft angesichts der gegenwärtigen demografischen Herausforderungen ohne einen Anstieg der Beschäftigtenzahl nicht zurechtkommen werden, insbesondere gegenüber der wirtschaftlichen Konkurrenz weltweit. Zu diesen Staaten gehört seit einiger Zeit auch Polen. Leider haben viele Menschen, die auf dem freien Arbeitsmarkt erfolgreich bestehen könnten, damit immer noch Probleme. Dies betrifft insbesondere Jugendliche, Menschen über 55 Jahre, Frauen, Behinderte sowie die Bewohner ländlicher Gebiete. Eindeutig am schwierigsten ist die Situation jedoch für Jugendliche und Behinderte.

Bei der ersten Gruppe muss man sich bewusst machen, dass die Arbeitslosigkeit als erste Erfahrung nach dem Schulabschluss einschneidend ist. Denn sehr schnell können Jugendliche, deren Bedürfnisse nicht befriedigt werden, gesellschaftlich an den Rand geraten oder aber sich alternative Verdienstmöglichkeiten suchen, die oft nicht im Einklang mit dem Gesetz stehen. Außerdem haben fehlende Arbeit oder niedrige Löhne zur Folge, dass der Zeitpunkt für Familiengründung und Kinder hinausgeschoben wird, was die negativen demografischen Tendenzen noch verstärkt. Entscheidend für diese Gruppe dürfte die Gewährleistung eines leichteren Transfers zwischen Bildung und Arbeit sein. Das bedeutet die Umstellung des Bildungssystems auf die Ausbildung von Schlüsselkompetenzen für das soziale und gesellschaftliche Leben sowie für den Arbeitsmarkt. Der Erwerb solcher Schlüsselkompetenzen auf einem hohen Niveau ermöglicht es, sich an eine sich verändernde Arbeitsmarktsituation anzupassen.

Bei den Behinderten erscheint die Situation noch schwieriger. Die Praxis der Einstellung von Behinderten außerhalb des freien Arbeitsmarkts erfordert sofortige Veränderungen. Denn noch immer befindet sich die Beschäftigungsquote in dieser Berufsgruppe in Polen auf dem niedrigsten Niveau in der Europäischen Union. In der aktuellen Diskussion gibt es Ideen, die Einstellungspraxis für Behinderte zu verändern und langsam abzugehen vom System »besonderer Arbeitsbetriebe«, in denen ausschließlich behinderte Menschen beschäftigt werden. Der neue Ansatz basiert auf der Förderung der Einstellung von Behinderten auf dem freien Arbeitsmarkt, wenn deren Behinderungsgrad dies erlaubt. Dabei fänden diejenigen, die trotz der dafür geschaffenen Bedingungen die Konkurrenz mit nichtbehinderten Arbeitnehmern nicht bestehen würden, immer noch Stellen in dem besonderen System.

Die arbeitenden Armen (»Working poor«)

Noch bis Anfang des 21. Jahrhunderts war das Problem der Armutsgefährdung trotz Ausübung einer Beschäftigung ein Randphänomen, und Armut wurde eindeutig mit Arbeitslosigkeit oder einer Behinderung assoziiert, die eine Arbeitsaufnahme nicht zuließ. Heute dreht sich die öffentliche Diskussion in Polen immer häufiger um Haushalte, deren finanzielle Situation unbefriedigend ist, obwohl eines oder sogar mehrere Haushaltsmitglieder einer Arbeit nachgehen. Die bisher in Polen durchgeführten Untersuchungen haben gezeigt, dass zwar ein bedeutsamer Anteil der polnischen Arbeitnehmer wenig verdient, diese dennoch kaum als von extremer Armut Betroffene anzusehen sind (d. h. als Personen, die ohne Sozialhilfeleistungen oder Unterstützung durch die Familie ihre grundlegenden Bedürfnisse in Bezug auf Lebensmittel, Wohnung und Gesundheit nicht befriedigen könnten). Um der Armutsfalle zu entgehen, wird sehr häufig auch eine niedrig bezahlte Beschäftigung angenommen, auch wenn sie kurzfristig die materielle Situation nicht verbessern kann. Zugleich zeigt die Beobachtung der gegenwärtigen Situation auf dem polnischen Arbeitsmarkt, dass der Anteil der Familien steigt, die auf Transferleistungen aus dem Sozialhilfesystem angewiesen sind, selbst wenn beide Eltern Arbeit haben. Das betrifft insbesondere Familien mit vielen Kindern. Deshalb erscheint es notwendig, in nächster Zeit nicht nur Maßnahmen zu ergreifen, die Arbeit lohnender machen, sondern auch ausgleichende Instrumente für Familienmitglieder einzuführen, die von betroffenen Arbeitnehmern unterhalten werden. Grundsätzlich sollte man jedoch davon ausgehen, dass die beste Art und Weise, Armut und gesellschaftliche Marginalisierung zu vermeiden, die Aufnahme einer Beschäftigung ist. Dieser Grundsatz verbreitet sich immer mehr, auch in programmatischen Dokumenten der EU, wie etwa der Strategie Europa 2020. Daher sollten sowohl das Steuersystem (Senkung der Steuerbelastungen für Geringverdiener, zeitlich begrenzte Erhöhung des Steuerfreibetrags) als auch das System der sozialen Sicherung (Lohnzulagen und ein progressives Sozialleistungssystem) dazu animieren, eine Beschäftigung aufzunehmen und den überwiegenden Anteil der Einkünfte aus Arbeit zu erzielen.

Migration

In den meisten Mitgliedsländern der Europäischen Union wird im Zusammenhang mit Migrationsprozessen hauptsächlich über die Einwanderung von arbeitssuchenden Ausländern und die Auswirkungen dieses Phänomens auf die Arbeitsmarktsituation debattiert. Die Situation in Polen in diesem Bereich ist eine andere. Trotz eines dynamischen Anstiegs der Anzahl von Ausländern, die auf dem polnischen Arbeitsmarkt vor allem Saisontätigkeiten annehmen, stehen Fragen der Emigration von Polen in andere Mitgliedsländer der EU im Vordergrund. Denn im Falle Polens hat die Emigration, besonders im Rahmen der Freizügigkeit von Arbeitnehmern, größeren Einfluss auf die Arbeitsmarktsituation als die Immigration. Einerseits ist dieser Einfluss positiv, denn die Arbeitslosenzahl sinkt und Transferzahlungen der Auswanderer fließen nach Polen zurück, andererseits vermindern sich die Arbeitsressourcen, was die Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft direkt beeinflusst. Dabei muss man sich bewusst sein, dass die Auswirkungen der gegenwärtigen Emigration zumindest mittelfristig bedacht werden müssen. Ausschlaggebend wird nämlich sein, wie viele der heutigen Auswanderer sich dafür entscheiden, dauerhaft im Ausland zu bleiben, und wie viele nach einem vorübergehenden – sei es auch etliche Jahre währenden – Auslandsaufenthalt nach Polen zurückkehren. Neueste Daten zur Emigration zeigen, dass etwa 1,5 Millionen Polen in anderen EU-Mitgliedsländern leben. Etwa eine Million davon haben Polen nach dem EU-Beitritt verlassen. Die höchsten Auswanderungszahlen waren für das Jahr 2007 zu verzeichnen. Seitdem geht die Anzahl der im Ausland lebenden Polen langsam, aber systematisch zurück. Die These von einem Ende der Emigrationsprozesse bestätigt auch das geringe Interesse an einer Auswanderung nach Deutschland, nachdem dieses Land seinen Arbeitsmarkt am 1. Mai 2011 geöffnet hat. Die Auswanderungsquote nach Deutschland war viel niedriger, als von den meisten Experten vorhergesehen. Deshalb ist in den nächsten Jahren auf dem polnischen Arbeitsmarkt im Zusammenhang mit der Migration von zwei Prozessen auszugehen: einem Rückgang neuer Migration, einer zunehmenden Rückwanderung sowie einem langsamen Anstieg der Einwanderung aus Drittstaaten, besonders aus der Ukraine und aus asiatischen Staaten. Ausländer werden jedoch nur in sehr geringem Maße die Lücken auf dem Arbeitsmarkt füllen, die infolge der jüngsten Auswanderungswelle und der demografischen Prozesse entstanden sind. Viel relevanter könnte die Rückwanderung sein. Leider ist gegenwärtig sehr schwer vorhersehbar, wie viele im Ausland lebende Polen sich zu einer Rückkehr nach Polen entschließen werden.

Das Funktionieren der Arbeitsmarktinstitutionen – die Arbeitsämter

Wie bereits erwähnt, hat sich das institutionelle Modell der Arbeitsmarktpolitik in Polen 1999 mit der Dezentralisierungsreform herausgebildet. Nach über zwanzig Jahren seines Bestehens wird das neue System heute unterschiedlich bewertet. Einerseits hat die Tatsache, dass die Arbeitsmarktpolitik überwiegend den Kommunen überlassen wurde, dazu geführt, dass sie den Bürgern nähergebracht wurde, die ja direkt an ihren Auswirkungen interessiert sind. Andererseits zeigen zahlreiche Untersuchungen, dass die Effektivität der aktiven Arbeitsmarktprogramme, die von den Arbeitsämtern durchgeführt werden, höchst unzureichend ist und dass der Wirkungsgrad keines ihrer Instrumente die 50%-Marke überschreitet, sondern zumeist zwischen 20 % und 30 % schwankt. Das ist entschieden zu wenig. Bei Menschen in schwierigsten Lebenslagen wie Langzeitarbeitslosen, ehemaligen Häftlingen, Unterhaltsschuldnern oder bildungsfernen Frauen, die nach der Mutterschaftspause auf den Arbeitsmarkt zurückkehren, haben die eingesetzten Instrumente eher einen sozialen Aktivierungs­charakter, als dass sie zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt führen, und in der Praxis führen sie selten zur Vermittlung eines festen Arbeitsplatzes. Deshalb wurde Mitte 2012 in Polen die Diskussion über eine Reform der Institutionen des Arbeitsmarkts angestoßen, die sich an den Erfahrungen von Ländern wie Deutschland, den Niederlanden oder Großbritannien orientiert. Ein Teil der Aufgaben, mit deren Ausführung die Arbeitsämter nicht zurechtkommen, soll nichtstaatlichen Institutionen übertragen werden, zum Beispiel Beschäftigungsagenturen oder Nichtregierungsorganisationen. Die Übertragung von Arbeitsmarktleistungen wird jedoch eher komplementärer Natur sein und die Maßnahmen der Arbeitsämter ergänzen; ihr Hauptziel wird sein, die Rückkehr der Arbeitslosen auf den Arbeitsmarkt zu beschleunigen.

Herausforderungen

Die größte Herausforderung für den Arbeitsmarkt sowohl in Polen als auch in vielen anderen EU-Mitgliedsländern im Hinblick auf die kommenden Generationen werden die demografischen Prozesse sein. Schon in den nächsten Jahren wird es zu einem starken Rückgang der Anzahl von Menschen im berufstätigen Alter kommen; gleichzeitig wird der Anteil derjenigen steigen, die Rentenleistungen beziehen. Veränderungen wird es auch in Bereichen geben, in denen Arbeitsplätze geschaffen, aber auch abgebaut werden. Ebenfalls ändern wird sich der Bedarf an Weiterqualifizierung. Deshalb kann man mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass einerseits die Anzahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter abnimmt, andererseits die Arbeitnehmer immer schlechter auf die Anforderungen des modernen Arbeitsmarkts vorbereitet sind. Das Fehlen entsprechender Maßnahmen im Bereich des Transfers zwischen Bildung und Arbeit wird zusätzlich das Potenzial von Jugendlichen verringern, die trotz Schulabschlusses immer noch Probleme haben werden, eine Beschäftigung zu finden.

Polen sucht Antworten auf diese Herausforderungen, um eine Verschlechterung der Arbeitsmarktsituation und ein Sinken der Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft zu verhindern. Priorität soll dabei die Schaffung neuer Beziehungen auf dem Arbeitsmarkt nach dem Modell des »workfare state« haben, eines Staates also, der die Schaffung neuer Arbeitsplätze in den Mittelpunkt stellt und allen, die dazu befähigt sind, die Aufnahme einer Beschäftigung ermöglicht. Das bedeutet die Schaffung eines ganzheitlichen Systems, das allen Polen den Zugang zu hochwertigen gesellschaftlichen Dienstleistungen ermöglicht. Ihre Nutzung sollte zum Erwerb von Qualifikationen führen, sollte es ermöglichen, eine Beschäftigung aufzunehmen oder eine neue Arbeit zu finden, bei der der betreffende Arbeitnehmer sein Potenzial besser nutzen und seine Ansprüche verwirklichen kann. Obwohl diese Aufgabe ungeheuer schwierig erscheint, ist es doch notwendig, die Herausforderung anzunehmen. Selbst wenn es nicht gelingen sollte, ihr vollständig gerecht zu werden, wird das jedenfalls positive Folgen für die Steigerung von Sicherheit und Qualität der Beschäftigung mit sich bringen.

Übersetzung aus dem Polnischen: Ulrich Heiße

Dieser Beitrag ist ein Vorabdruck aus dem »Jahrbuch Polen 2013 Arbeitswelt« des Deutschen Polen-Instituts, das im März 2013 erscheinen wird (siehe Lesehinweis auf S. 13).

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