Rzeszów und das "Aviation Valley" – Perspektiven für eine dynamische Wirtschaftsentwicklung in Südostpolen

Von Sebastian Kinder (Eberhard Karls Universität, Tübingen), Lech Suwala (Humboldt Universität zu Berlin)

Zusammenfassung
Polen war mit seiner Luftfahrtindustrie das diesjährige Partnerland der Internationalen Luftfahrtausstellung ILA in Berlin. Das mag manchen Besucher überrascht haben, ist Polen doch nicht gerade als Land der Luftfahrtindustrie bekannt. Tatsächlich hat sich aber in den letzten zehn Jahren im Südosten des Landes rund um die Stadt Rzeszów ein Luftfahrtcluster entwickelt, der inzwischen der sechstgrößte Produktionsstandort dieser Branche weltweit ist. Unter dem Namen »Aviation Valley« haben sich zahlreiche technologieintensive Produktionsbetriebe, Forschungs- und Entwicklungszentren sowie Bildungseinrichtungen etabliert, die vor allem Flugzeugmotoren, Fahrgestelle, Hubschrauber sowie diverse Komponenten und Bausätze für die Luftfahrtbranche produzieren. Sie bauen auf branchenspezifischen Traditionen der Region auf, die bis in die Jahre der Zwischenkriegszeit zurückreichen. Nach einem dynamischen Wachstumsprozess in den letzten zehn Jahren hat die globale Wirtschaftskrise zu einer stagnierenden Entwicklung geführt. Trotz positiver Branchenaussichten steht das »Aviation Valley« vor wichtigen strategischen Entscheidungen, die Unternehmen, Politik und Forschung in den nächsten Jahren gemeinsam zu treffen haben.

Die Anfänge der Luftfahrtindustrie in Rzeszów

Rzeszów zählt zu den polnischen Städten, die eine vergleichsweise späte Industrialisierung erfahren haben. Trotz seiner Lage an einem wichtigen transkontinentalen Handelsweg konnte sich Rzeszów jahrhundertelang nur als peripherer Verwaltungs- und Handelsstützpunkt etablieren, den die Städte Krakau (Kraków) und Lemberg (poln. Lwów, ukr. L'viv) politisch und ökonomisch weit in den Schatten stellten. Auch die Eisenbahnanbindung Mitte des 19. Jahrhunderts brachte Rzeszów im Vergleich zu anderen Städten nur eine bescheidene wirtschaftliche Blüte.

Den entscheidenden Impuls für die heutige wirtschaftliche Basis der Stadt bildete das ambitionierte Förderprogramm des Zentralen Industriebezirks (Centralny Okręg Przemysłowy, COP), das die Zweite Polnische Republik ursprünglich für die Jahre 1936 bis 1940 plante. Ziel des Programms war die Errichtung eines Schwerindustriereviers in der Mitte Polens. Es verfolgte vier Ziele: Erstens sollte mit der Schwerindustrie zugleich auch die Rüstungsindustrie verstärkt aufgebaut werden. Die Positionierung des COP in der Landesmitte verfolgte militärisch-strategische Absichten, da von hier aus relativ große Distanzen zu den Landesgrenzen bestanden und die Produktionsstandorte damit als vergleichsweise sicher galten. Zweitens wurden mit dem Programm demographische Ziele verfolgt, da sich in dieser Region eine hohe Bevölkerungsdichte mit hoher Arbeitslosigkeit koppelte und mit Hilfe der Industrialisierung eine Abwanderung der Bevölkerung vermieden und eine demographische Stabilisierung erzielt werden sollten. Drittens verfolgte man wirtschaftliche Ziele. So sollten die Nachfrage nach landwirtschaftlichen Produkten Ostpolens wie auch der Absatz von Industriewaren Westpolens gesteigert werden und einzelne Branchen der Schwerindustrie autark werden. Viertens wurden schließlich auch soziale Ziele verfolgt, indem Arbeitslosigkeit abgebaut und die sozialen Folgen der Weltwirtschaftskrise reduziert werden sollten.

Die Region um Rzeszów, die im Polen der Zwischenkriegszeit eine vergleichsweise zentrale Lage innerhalb des Landes einnahm, zählte Ende der 1930er Jahre zu den wirtschaftlich rückständigen Regionen Polens. Gemeinsam mit Mielec und Stalowa Wola wurde Rzeszów deshalb ein Investitionsschwerpunkt im Rahmen der Planungen für den Zentralen Industriebezirk. Vor allem in Rzeszów wurden Investitionen im Bereich des Verteidigungssektors und der metallverarbeitenden Industrie getätigt. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs, der die Durchführung des Investitionsprogramms unterbrach, entstanden in Rzeszów zahlreiche Arbeitsplätze in der Luftfahrtindustrie. Diese konzentrierte sich vor allem auf die Produktion von Flugzeugmotoren. Darüber hinaus entstanden in Rzeszów auch größere Fabriken für die Ausrüstung der Artillerie. Die Einwohnerzahl verdoppelte sich auf annähernd 40.000 Personen.

Der Ausbau der Luftfahrtindustrie in der Zeit der Volksrepublik

Obwohl die Stadt durch die deutsche Besetzung im Zweiten Weltkrieg teilweise zerstört war und im Zuge der Westverschiebung Polens nach 1945 Teile seines ostpolnischen Hinterlands verloren hatte, gelang es der Stadt in den folgenden Jahrzehnten, zum führenden Verwaltungssitz und Wirtschaftszentrum in Südostpolen aufzusteigen. Nach der unmittelbaren Nachkriegsphase der sowjetischen Besatzung konnten ab 1952 die administrativen Grenzen durch Eingemeindungen erweitert und die Stadtfläche vervierfacht werden. Die zerstörte Stadt wurde wieder aufgebaut und insbesondere in den 1970er und 1980er mit sozialistischen Großwohnsiedlungen in Plattenbauweise erweitert.

Die unter sozialistischen, d. h. planwirtschaftlichen Rahmenbedingungen erfolgende Industrialisierungspolitik der Volksrepublik Polen knüpfte im Osten des Landes an die Vorkriegsplanungen für ein Industrierevier an. Priorität hatte zunächst die Revitalisierung der ehemaligen Betriebe des COP, denn die Werke der polnischen Luftfahrtindustrie waren im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört worden. In diesem Zusammenhang wurden die Luftfahrtunternehmen im industriellen Verbund WSK (Wytwórnia Sprzętu Komunikacyjnego) zusammengefasst, der Komponenten für die gesamte Fahrzeugindustrie vom Motorrad bis zum Flugzeug produzieren sollte. Auf diese Art und Weise entstanden die Werke WSK Warszawa, die Sport-, Schulungs-, Landwirtschafts- und Mehrzweckflugzeuge produzierten. 1951 wurden die Werke WSK Świdnik gegründet, die vorrangig Hubschrauber sowie Ersatzteile für Passagierflugzeuge herstellten. Das Werk WSK Mielec spezialisierte sich auf die Produktion von Düsenflugzeugen des Typs MiG-15 und MiG-17, für die WSK Rzeszów die Motoren herstellte. Mit dem WSK Kalisz entstand schließlich ein weiteres Werk für die Fertigung von Flugzeugmotoren. Die Werke der polnischen Luftfahrtindustrie knüpften an die Standorttraditionen der Zwischenkriegszeit an. Mit Ausnahme von Warschau (Warszawa) und Kalisch (Kalisz) befanden sich die Hauptstandorte dieser Branche im Südosten Polens.

Die Strategie der sozialistischen Industrialisierung verfolgte im Südosten des Landes aber nicht zwangsläufig den Aufbau einer monostrukturierten Industrie. Vielmehr war das Ziel, in der Region auch eine Diversifizierung der vorhandenen Industriestruktur zu erreichen. Zum Ende der Volksrepublik umfasste der Industriebesatz von Rzeszów deshalb neben den staatseigenen Betrieben des Verteidigungssektors im Bereich der Staatlichen Luftfahrt-Werke (Państwowe Zakłady Lotnicze, PZL Rzeszów) und den Unternehmen des metallverarbeitenden Gewerbes (Produktion von elektronischen Haushaltsgeräten, Predom Zelmer) auch Unternehmen der Silberverarbeitung (Resovia), der Nahrungsmittelproduktion (Alima), der Automobil-, der Textil-, der pharmazeutischen sowie der optischen Industrie. Diese ergänzenden industriellen Funktionen führten zu einer Kapitalakkumulation und zusätzlichen Arbeitsplätzen, so dass Rzeszów ein starkes Bevölkerungswachstum verzeichnete. Bereits vor 1990 überschritt die Einwohnerzahl die 150.000er Marke.

Probleme der wirtschaftlichen Restrukturierung nach 1989

Die Luftfahrtindustrie in Südostpolen hatte bis zum Ende der 1980er Jahre vorrangig für den osteuropäischen Markt produziert und war besonders auf die Herstellung von militärischen Komponenten und Fluggeräten spezialisiert. Der Zusammenbruch des Warschauer Pakts und des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) musste deshalb zwangsläufig erhebliche Auswirkungen auf die polnische Luftfahrtindustrie haben. Der Zerfall von Zuliefer- und Abnehmernetzwerken und von Absatzmärkten des RGW (insbesondere der Sowjetunion), das Ende der Verfügbarkeit billiger metallischer und energetischer Rohstoffe, der Innovationsstau der staatseigenen Betriebe durch garantierte Monopole und fehlende Konkurrenz sowie die daraus resultierende fehlende Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen bildeten die Ausgangslage für lang anhaltende strukturelle Probleme.

So war es nicht verwunderlich, dass in der ersten Hälfte der 1990er Jahre eine tiefgreifende wirtschaftliche Rezession die polnische Luftfahrtindustrie heimsuchte. Obwohl das Ausmaß der Rezession durch fehlende Daten schwer abzuschätzen ist, kann davon ausgegangen werden, dass etwa jeder zweite Industriebeschäftigte seine Anstellung verlor. Die radikale Kommerzialisierung und Liberalisierung der Märkte ließen den unerfahrenen Industriebetrieben durch chronischen Kapitalmangel und veraltete Technologien wenig Spielraum für eine nachhaltige Restrukturierung. Davon war entsprechend auch die Luftfahrtindustrie in Rzeszów betroffen; allein bei den staatlichen Luftfahrtwerken PZL Rzeszów gingen über zwei Drittel der damals rund 10.000 Arbeitsplätze verloren. Mit großer Beharrlichkeit und oft auch aus der Not heraus wurden Familienunternehmen gegründet, die fortan als Subunternehmer die noch im Staatsbesitz befindlichen Luftfahrtbetriebe mit spezifischen Erzeugnissen und Dienstleistungen versorgten.

Die Privatisierung der Luftfahrtbranche zählt zu den aufwendigsten und längsten Privatisierungsverfahren im Rahmen der wirtschaftlichen Transformation in Polen. Der lange und zähe Restrukturierungsprozess dauerte fast zwei Jahrzehnte und erreichte mit der Privatisierung von PZL Świdnik im Januar 2010 seinen Abschluss. Trotz der widrigen Rahmenbedingungen nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Planwirtschaft und der langwierigen Privatisierung ist es entgegen den Prognosen der 1990er Jahre gelungen, die Luftfahrtindustrie in Südostpolen zu erhalten. Die Bemühungen sind auf die enge Zusammenarbeit von Wirtschaft, Wissenschaft und Politik zurückzuführen, die unter der Bezeichnung »Aviation Valley« (polnisch: Dolina Lotnicza) gemeinsam eine regionale Kooperationsstrategie zur Etablierung eines Branchenclusters der Luftfahrtbranche im Südosten Polens entwickelt haben.

Das »Aviation Valley« – Struktur und Kompetenzspektrum

Gemessen an den Herausforderungen, denen die polnische Luftfahrtindustrie nach 1990 ausgesetzt war, ist es beachtlich, welche Dynamik diese Industrie in Rzeszów und im gesamten Südosten Polens in jüngster Zeit erlebt. In einem rasanten Wachstumsprozess wuchs sie innerhalb der letzten Dekade von 18 Unternehmen mit 9.000 Beschäftigten auf nunmehr 85 Unternehmen und rund 23.000 Beschäftigen an. Der Gesamtumsatz aller Produkte der Luftfahrtindustrie im »Aviation Valley« übersteigt 1,5 Mrd. Euro. Die Branche erlebt ein rasantes Wachstum und konnte allein in den Jahren 2003 bis 2008 den Umsatz etwa vervierfachen. Rund 90 Prozent der Produktionskapazitäten der polnischen Luftfahrtindustrie befinden sich in Südostpolen und konzentrieren sich mit zahlreichen Betrieben insbesondere in Rzeszów und Umgebung. Südostpolen ist in den letzten Jahren nicht nur zum bedeutendsten Luftfahrtzentrum der neuen EU-Länder aufgestiegen. Die Unternehmenskonzentration bildet inzwischen auch den weltweit sechstgrößten Luftfahrtcluster nach Seattle und Montreal in Nordamerika, São José dos Campos in Südamerika sowie Toulouse und Hamburg in Europa . Das ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass sich die Luftfahrtindustrie weltweit durch starke regionale Konzentrationstendenzen auszeichnet. Der Flugzeugbau erfordert ein hohes Maß an Technologie und Innovationen, hoch qualifizierte Arbeitskräfte, lange Entwicklungs- und Produktionszeiten sowie einen intensiven Kapitaleinsatz. Es ist deshalb nicht überraschend, dass nur wenige Standorte diese Voraussetzungen erfüllen können. Dominiert und geprägt werden die genannten Luftfahrtcluster jeweils von einem der vier weltweit führenden Flugzeughersteller Boeing, Airbus, Bombardier und Embraer. Das Luftfahrtzentrum Rzeszów fällt insofern aus dem Rahmen der anderen weltgrößten Zentren der Luftfahrtindustrie heraus, als sich weltweit führende Flugzeughersteller in Südostpolen bislang nicht angesiedelt haben.

Am 11. April 2003 wurde »Aviation Valley« als Branchenverband der größten Produzenten, Zulieferer und Unternehmen der Luftfahrtindustrie in Südostpolen gegründet. Die Entwicklung der in dem Verband »Aviation Valley« zusammengeschlossenen Unternehmen illustriert beispielhaft die dynamische Entwicklung der Branche in Südostpolen und die Herausbildung moderner und wettbewerbsfähiger Industriestrukturen. Ihren Aufschwung verdankt die Branche einem inzwischen erfolgreich abgeschlossenen Privatisierungsprozess sowie dem Engagement ausländischer Investoren. Lieferungen an ausländische Eigentümer polnischer Werke machen mittlerweile den größten Teil des Umsatzes der Industrie aus. Dabei ist eine starke Spezialisierung auf die Produktion von Flugzeugtriebwerken und Flugzeugfahrwerken und deren Komponenten festzustellen. Insofern knüpft die Luftfahrtindustrie in Rzeszów auch heute noch an die Anfänge der Branche in dieser Region in der Zwischenkriegszeit an.

So gehört das ehemals staatliche Unternehmen WSK PZL Rzeszów heute zum amerikanischen Konzern United Technologies Corp. Mit rund 4.000 Beschäftigten ist es das größte Luftfahrtunternehmen in Polen. Das in Rzeszów ansässige Unternehmen ist der größte polnische Produzent von Flugzeugtriebwerken. Es montiert u. a. die Triebwerke für die F-16 Kampfjets. Darüber hinaus werden aber auch Blechteile, Präzisionsgussteile und Getriebe für die meisten Triebwerke von Pratt & Whitney hergestellt. Im Jahr 2007 wurde PZL Mielec vom amerikanischen Unternehmen Sikorsky Aircraft übernommen. Nach umfangreichen Investitionen wurde 2009 der erste Black Hawk-Hubschrauber im Werk Mielec fertiggestellt. Im Januar 2010 wurde darüber hinaus auch die Entscheidung über die Privatisierung von PZL Świdnik getroffen, einem weiteren großen Hubschrauber-Werk, das nunmehr vom italienisch-britischen Hubschrauber-Konzern Augusta Westland geführt wird. Diese Investition gründete sich auf einer schon 13 Jahre existierenden engen Zusammenarbeit mit dem Werk in der Nähe von Lublin.

Zu den größeren Betrieben der polnischen Luftfahrtindustrie im »Aviation Valley« zählt auch die Firma Goodrich in Krosno. Sie produziert Fahrwerkskomponenten für die gesamte Boeing-Familie, einschließlich der Boeing 777 und der F-16 Kampfflugzeuge. Fahrwerke aus Krosno kommen außerdem bei Gulfstream Jets sowie bei Kurzstrecken-Passagierflugzeugen von Bombardier aus Kanada zum Einsatz. Darüber hinaus produziert Goodrich in Krosno auch Fahrwerkselemente für den neuen Riesenflieger Airbus A380. Auch MTU Aero Engines, einer der weltweit führenden Hersteller von Triebwerken für die zivile und militärische Luftfahrt hat in den letzten Jahren im »Aviation Valley« investiert. In Jasionka bei Rzeszów eröffnete das Unternehmen im Jahr 2010 einen modernen Produktionsstandort und ein Forschungszentrum.

Das »Aviation Valley« als Cluster der polnischen Luftfahrtindustrie

Die Struktur und Organisationsweise der Luftfahrtindustrie in Südostpolen entspricht derjenigen eines sogenannten Branchenclusters. Das in der regionalen Wirtschaftspolitik inzwischen weltweit verwendete und in Disziplinen wie der Regionalökonomie und der Wirtschaftsgeographie seit rund 20 Jahren diskutierte Konzept bezeichnet die Konzentration von Unternehmen einer bestimmten Branche in einer Region. Das besondere Merkmal von Branchenclustern ist die starke Vernetzung der Unternehmen untereinander. Diese ist darauf zurückzuführen, dass die Unternehmen eines Clusters im Idealfall entlang einer kompletten Wertschöpfungskette organisiert sind, d. h. in dem entsprechenden Cluster von den notwendigen Komponenten bis hin zum fertigen Endprodukt alles produziert werden kann. Solche Standortsysteme können durch Wettbewerbsvorteile überdurchschnittliche Wachstumseffekte generieren.

Das »Aviation Valley« kann in diesem Sinn als ein Cluster der Luftfahrtindustrie interpretiert werden, die in Rzeszów und den umliegenden Industriestandorten der Branche in den letzten Jahren moderne und wettbewerbsfähige Strukturen hervorgebracht hat. Diese Strukturen sind durch eine flexible Spezialisierung mit einer vertikal desintegrierten Wertschöpfungskette gekennzeichnet, bei der sich Unternehmen unterschiedlicher Größe jeweils auf bestimmte Teilprodukte der Luftfahrtindustrie konzentrieren und über Zulieferverflechtungen miteinander verbunden sind. Dabei entwickelte sich eine idealtypische, pyramidenförmige Unternehmensstruktur mit einigen wenigen großen OEM (Original Equipment Manufacturer, engl. für Erstausrüster), Mittelständlern mit Betriebsgrößen von 50 bis 400 Mitarbeitern und einer breiten Basis von Klein- und Kleinstunternehmen. Der sprunghafte Produktionsanstieg in der südostpolnischen Luftfahrtbranche geht vor allem auf die Zusammenarbeit mit den weltgrößten Luftfahrtunternehmen zurück. Diese sind zwar nicht selbst in Südostpolen präsent, lassen sich aber Komponenten und Baugruppen aus Polen in ihre Montagewerke zuliefern. Wie schon erwähnt, sind die Niederlassungen der großen OEM im »Aviation Valley« im internationalen Vergleich recht klein. Daraus könnte potentiell eine nicht ungefährliche Schwäche für den Cluster entstehen. Wo große OEM fehlen, können Wachstumseffekte schnell an ihre Grenzen stoßen. Andererseits weist das »Aviation Valley« die günstige Situation auf, dass die Spitze der pyramidenförmigen Unternehmensstruktur von mehreren OEM eingenommen wird. Es kann deshalb erwartet werden, dass Nachfrageschwankungen, die nicht branchenspezifisch sind, aufgrund der diversifizierten Nachfragestruktur geringer ausfallen müssten.

Es wurde ebenfalls schon darauf hingewiesen, dass die Bedeutung ausländischer Investoren im »Aviation Valley« vergleichsweise groß ist. Damit besteht grundsätzlich die Gefahr, dass die polnischen Niederlassungen von Entscheidungen der ausländischen Unternehmenszentralen abhängig bleiben und bei sich verändernden Rahmenbedingungen wieder geschlossen werden könnten. Die starke Präsenz ausländischer Firmen hat der Region in den vergangenen Jahren allerdings auch den Zugang zu Investitionsmitteln und Technologie erleichtert. Dies wiederum hat die Region auch attraktiv für die Ansiedlung neuer Unternehmen gemacht. 34 Prozent der Luftfahrtunternehmen im »Aviation Valley« wurden erst nach 2003 gegründet. Sie umfassen vorrangig polnische Zulieferfirmen, die vorher noch nicht für die Luftfahrtbranche gearbeitet hatten. Insofern haben die Ansiedlungen ausländischer Unternehmen zu bedeutenden Wachstumseffekten auch bei einheimischen Unternehmen beitragen können. Die hohe Forschungs- und Entwicklungsintensität der Unternehmen ist ein zusätzlicher Hinweis darauf, dass von einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung im »Aviation Valley« auszugehen ist.

Die Wettbewerbsfähigkeit eines Clusters hängt aber nicht nur von der Zusammensetzung spezifischer Unternehmen ab. Die Dynamik von Clustern ist immer auch von der Innovationskraft der ansässigen Unternehmen abhängig. Deshalb ist es für den Erfolg eines Clusters von entscheidender Bedeutung, nicht nur Forschungs- und Entwicklungskapazitäten innerhalb der Unternehmen zu nutzen, sondern auch Vernetzungen zu anderen – auch überregionalen – Forschungseinrichtungen und Forschungsverbünden aufzubauen. Auch im »Aviation Valley« ist die Forschungs- und Entwicklungstätigkeit von großer Bedeutung. Die Aufwendungen der hier ansässigen Unternehmen für Forschung und Entwicklung (F&E) addieren sich auf insgesamt mehr als 5 Prozent der gesamten F&E-Aufwendungen in Polen. Einzelne Unternehmen investieren sogar bis zu 20 Prozent ihres Umsatzes in F&E – so viel wie keine anderen Unternehmen in Polen.

Der Branchenverband hat sich schon frühzeitig an der Gründung eines Zentrums für fortgeschrittene Technologien »AeroNet – Aviation Valley« beteiligt. Das Konsortium verfolgt das Ziel, im Bereich der Luftfahrttechnik wissenschaftliche Forschungen und Entwicklungsarbeiten durchzuführen und innovative Lösungen in diesem Bereich einzuführen. Zu dem Konsortium gehören die sechs größten Technischen Universitäten – Warschau, Lublin, Lodsch (Łódź), Rzeszów, Tschenstochau (Częstochowa) und Gleiwitz (Gliwice) – sowie andere Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Hierzu zählen auch die Universität Rzeszów, das Luftfahrtinstitut, das Technische Institut der Luftwaffe sowie das Institut für Strömungsmaschinen und das Institut für technische Grundprobleme der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Der Branchenverband »Aviation Valley« ist darüber hinaus auch Gründungsmitglied der Polnischen Technologischen Plattform für die Luftfahrt. Sie soll die Zusammenarbeit und die Beteiligung polnischer Luftfahrtunternehmen und Hochschulen an einschlägigen europäischen Forschungsprojekten vertiefen.

Forschung und Entwicklung finden in Rzeszów und Umgebung damit günstige Bedingungen. Die intensive Vernetzung mit F&E-Einrichtungen außerhalb der Region hat ebenso wie die hohe Dichte regionaler Universitäten dazu beigetragen, dass sich in der Region ein hoch qualifiziertes Fachkräftepotential halten und weiterentwickeln konnte. Eine zentrale Rolle bei der Sicherung des Fachkräftepotentials spielt die Technische Universität Rzeszów, die 1974 aus einer Ingenieurhochschule hervorging. Nach 1989 wurden weitere Universitäten wie z. B. 2001 die Universität Rzeszów und 1996 die Universität für Informationstechnologie und Management gegründet. Mit rund einem Drittel der Gesamtbevölkerung zählt der Anteil Studierender in Rzeszów zu den höchsten in allen polnischen Städten.

Neben der Wirtschaft und der Forschung bildet die Politik die dritte Säule der Clusterentwicklung. Die Politik hat es in Rzeszów in den letzten Jahren verstanden, die Entwicklung der Luftfahrtbranche intensiv zu fördern. Hierzu zählen u. a. der Ausbau der Bildungseinrichtungen, die Modernisierung des internationalen Flughafens in Rzeszów und auch die aktive Begleitung von Investoren durch die Agentur für Regionale Entwicklung in Rzeszów. Von Bedeutung war auch die Ausweisung von Sonderwirtschaftszonen (SWZ). Vor allem die SWZ Europark Mielec hat schwerpunktmäßig die Ansiedlung von Unternehmen der Luftfahrtbranche unterstützt. Die Sonderwirtschaftszonen bieten besondere investorenfreundliche Rahmenbedingungen durch Begünstigungen bei der Besteuerung und die Bereitstellung moderner Industrieparkflächen.

Ausblick

Mit dem ehrgeizigen Projekt »Aviation Valley« hat die polnische Luftfahrtindustrie im Südosten des Landes rund um Rzeszów erfolgreich an alte Branchentraditionen der Zwischenkriegszeit und der Volksrepublik anknüpfen können. Es ist gelungen, einen Cluster unterschiedlicher Unternehmen, Bildungs- und Forschungseinrichtungen von europäischem Rang zu entwickeln. Schätzungen zufolge sorgt dieser Hochtechnologie-Cluster heute für rund ein Drittel aller Arbeitsplätze in Rzeszów. Dass die Erfolgsgeschichte des »Aviation Valley« allerdings kein Selbstläufer ist, hat die jüngste Wirtschaftskrise demonstriert. Die weltweite Rezession führte nicht zuletzt auch zu einem Auftragsrückgang bei den großen Flugzeugherstellern. Da die polnische Luftfahrtindustrie im »Aviation Valley« diesen Herstellern in der Regel zuliefert, blieb auch sie in den letzten Jahren nicht unbeeinflusst von den negativen Entwicklungen. Nach Jahren des dynamischen Wachstums stagnierten ihre Umsätze ab 2009 auf dem Niveau des Vorjahres. Das Ende der Krise wird die Anzahl der Flugzeugbestellungen wieder zunehmen lassen und damit der Produktion in der Luftfahrtbranche wieder zu einem Wachstum verhelfen können. Prognosen gehen davon aus, dass in den nächsten 20 Jahren weltweit rund 25.000 neue Flugzeuge benötigt werden. Die größte Nachfrage wird aus den Entwicklungsmärkten des asiatisch-pazifischen Raums erwartet. Da die Luftfahrtindustrie in Rzeszów und Südostpolen eng mit der globalen Industrie verbunden ist, werden die globalen Entwicklungstendenzen der Branche auch einen unmittelbaren Effekt auf den polnischen Markt haben.

Trotz der zu erwartenden guten Nachfrageentwicklung bestehen für die weitere Entwicklung des Luftfahrtclusters »Aviation Valley« auch bedeutende Herausforderungen. Die niedrigen Arbeits- und Produktionskosten, die für viele ausländische Investoren ursprünglich einen bedeutenden Grund für ihr Engagement in Polen darstellten, verlieren angesichts steigender Löhne und zunehmender Konkurrenz aus dem Fernen Osten immer mehr an Bedeutung. Umso wichtiger wird es in den kommenden Jahren sein, noch mehr als bisher in das Fachkräftepotential der Region zu investieren. In diesem Zusammenhang muss die Region auch attraktiver für ausländische Fachkräfte gemacht und die internationale Einbindung der Bildungs- und Forschungseinrichtungen intensiviert werden. Die Fördermöglichkeiten der Sonderwirtschaftszonen werden in absehbarer Zeit auslaufen. Es muss daher nach neuen – auch nichtfinanziellen – Anreizen für die Luftfahrtindustrie in der Region gesucht werden. Hierzu zählt nicht zuletzt auch ein weiterer Ausbau des Clustermanagements. Schließlich sollte auch die bisherige einseitige Fokussierung der Unternehmen im »Aviation Valley« auf die großen westlichen Flugzeughersteller überdacht werden. Die bis 1989 noch dominierenden wirtschaftlichen Verflechtungen und Kontakte nach Osten sind in den 1990er Jahren rigoros abgebrochen worden. Hierbei haben neben politischen Grundeinstellungen auch die Integrationsprozesse Polens in die NATO und die EU ein übriges beigetragen. Zukünftig könnten sich aber zusätzliche Wachstumspotentiale auch durch eine engere Kooperation mit russischen Partnern ergeben – sofern dies politisch gewünscht wird.

Trotz der jüngsten Krise und aller potentiellen Gefahren und Risiken ist die Entwicklung des »Aviation Valley« zum weltweit sechstgrößten Produktionsstandort der Luftfahrtindustrie eine Erfolgsgeschichte. Das Beispiel dieses Luftfahrtclusters belegt zugleich eindrucksvoll, dass die historische Unterscheidung zwischen einem hochentwickelten Polen A im Westen und einem dörflich-rückständigen Polen B im Osten des Landes zunehmend verschwimmt und auch in den östlichen Landesteilen Polens wirtschaftlich dynamische Regionen entstehen können.

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